Endlos und zäh wie Kaugummi erscheinen Harry die Sommerferien. Wenn seine Pflegeeltern, die Dursleys, nicht Angst hätten, er würde sie alle in Mistkäfer verwandeln, müsste er sicherlich die ganze Zeit im Besenschrank verbringen.
Auf das neue Schuljahr aber freut sich Harry sehr. Doch wie sollte es anders sein - auch dieses verläuft nicht ohne Zwischenfälle. Erst verpasst er mit seinem Freund Ron den Zug nach Hogwarts, dann läuft beim ersten Quidditch-Spiel alles schief und schließlich taucht etwas unheimliches im Schloss auf, für das sogar der weise Dumbledore keine Erklärung hat.
Auf das neue Schuljahr aber freut sich Harry sehr. Doch wie sollte es anders sein - auch dieses verläuft nicht ohne Zwischenfälle. Erst verpasst er mit seinem Freund Ron den Zug nach Hogwarts, dann läuft beim ersten Quidditch-Spiel alles schief und schließlich taucht etwas unheimliches im Schloss auf, für das sogar der weise Dumbledore keine Erklärung hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2000Abfahrt am Gleis Neundreiviertel im Bahnhof King's Cross
Aus dem Familienroman der Neurotiker: Harry Potter und die Hoffnung, ein anderer in einer anderen Welt zu sein
Manchmal gehen bestimmte Formen populärer Unterhaltung unerwartete Symbiosen ein: Eine gewisse Variante der Sciencefiction hat zum Beispiel so viel von der Logik des Western übernommen, dass man sie zu Beginn der vierziger Jahre als "space opera" zu bezeichnen begann, analog zur "horse opera" der weiten Prärie. Nicht alle derartigen Züchtungen sind Erfolg versprechend (der komische Kriminalroman erweist sich meist als Totgeburt).
Doch die unerwartete Kreuzung einer alten, biederen, eigentlich nur regional berühmten Form mit einem seit längerem modischen Genre ist nun international zum Bestseller geworden: Das bemerkenswerte Produkt eines Seitensprungs der klassischen britischen Schulgeschichte mit der Zauber-Fantasy ist so beliebt, dass über Wochen und Monate hinweg alle drei bisher erschienenen Folgen der Serie gleichzeitig unter den zehn Spitzentiteln des englischen und amerikanischen Buchhandels waren und ein neu erschienener Band über ein Jahr lang Platz eins der Bestsellerliste der "New York Times" blockierte. Und die Faszinationskraft scheint nach wie vor ungebrochen, auch deshalb, weil - ein kluger Schachzug der beharrlich über die Zukunft ihres Zyklus schweigenden Autorin - schon rege spekuliert wird, was denn in der nächsten, in wenigen Tagen erscheinenden Folge geschehen mag. Harry Potter heißt der Protagonist der mittlerweile auch in Deutschland höchst beliebten Reihe (die Auflagenzahl der deutschen Übersetzungen geht über anderthalb Millionen). Harry ist ein zu Beginn seiner Geschichte ganz unauffälliger Junge, der nach dem Tod der Eltern von einer grotesk unsympathischen Stieffamilie geplagt wird, aber an seinem elften Geburtstag unverhofft eine Einladung ins Zauberinternat erhält.
Diese Schule, die den schönen Namen Hogwarts (Sauwarz) trägt, ist - wie die anderen Partien der Zauberwelt - in einer Art Dimensionsfalte unseres Universums angesiedelt; um den Bahnsteig Neundreiviertel im King's-Cross-Bahnhof zu erreichen, auf dem der Zug nach Hogwarts abfährt, muss man (ohne dabei Angst zu empfinden) direkt auf die Absperrung zwischen den Gleisen neun und zehn zugehen und nicht innehalten. So öffnet sich das Tor. Diese Gegenwelt, in die Harry während der Schulsemester einzieht (zunächst muss er in den Ferien in die schlechte Realität seiner unerträglichen Verwandten zurück), ist überwältigend eindrucksvoll, gleichzeitig behaglich-aufregend und voller faszinierender Details - statt des elektrischen Lichts und des Telefons gibt es dort Fackelschein und Boteneulen. Rittergespenster und Poltergeister durchstreifen die Korridore des Schulschlosses; an Wintermorgen enteist der Platzwart draußen die Flugbesenstiele der Schüler. (Diese sind wichtig für den von beiden Geschlechtern leidenschaftlich betriebenen Mannschaftssport, bei dem die vier traditionellen Häuser der Schule miteinander wetteifern: Quidditch, ein mit einer verwirrenden Anzahl von Bällen und Regeln gespielter Flugkampf, in dem Harry rasch zum Star aufsteigt.)
Der erstaunliche Durchbruch des Buches zeigt die Kraft eines Tagtraumszenariums, dessen Verfasserin, Joanne K. Rowling, mit sicherer Hand Originalität und Konventionalität des Genres vermengt und ein Rezept komponiert hat, das unwiderstehlich scheint. Es bleibt etwas Unerklärliches an diesem rauschhaften Erfolg, der sich durchs Internet wälzt, Harry Potter auf die Titelseite von "Time" gebracht hat, Zehntausende von Kids mit Aufklebern der blitzförmigen Stirnnarbe Harrys herumlaufen lässt, aber auch die Buchhandlungen füllt, welche die Autorin auf ihrer Lesereise besucht - die Verkaufszahlen der ersten drei Bände bieten bereits Anlass zu den optimistischen Spekulationen über die plötzlich wieder viel rosiger gesehene Zukunft des Lesens.
Doch lassen sich einige Ingredienzien des Erfolgsrezepts benennen. (Dieses ist glückhaft gewürzt mit dem Umstand, dass auch die Entstehung des Buches selbst unfreiwillig Züge eines romantischen Mythos hat - eine junge Frau sitzt frisch geschieden, arbeitslos und arm da und beginnt in einem Café in Edinburgh, wo sie sich ein wenig aufwärmen will, zu schreiben, als das Baby gerade eingeschlafen ist . . .) Zunächst einmal hat schon lange kein Buch mehr mit solcher Verve das ausgemalt, was Freud lakonisch den "Familienroman der Neurotiker" genannt hat: die Fantasie, dass man "eigentlich" ein ganz anderer sein muss, oder, wie die Autorin diese Empfindung in einem Interview benannt hat: "Es kann doch nicht sein, dass ich zu dieser langweiligen Familie gehöre." Diese Vorstellung liegt zahllosen romantischen Melodramen von vertauschten, gestohlenen, verstoßenen Kindern zu Grunde, von "Il Trovatore" bis "Les Misérables". Das Motiv der verborgenen hohen Herkunft erblüht nun unversehens in der philiströsen britischen Provinz, und der in die gräuliche Spießerwelt seiner gemeinen Verwandtschaft gesperrte Harry erfährt eines Tages nicht nur, dass seine Eltern berühmte Zauberer waren (getötet von Lord Voldemort, der großen Figur des Bösen, welche die Romane zusehends bedrohlicher durchgeistert); er erkennt auch, dass er selbst in jener anderen Welt eine legendäre Berühmtheit ist: das Kind, das die magische Attacke des Erzbösen unbegreiflicherweise überlebt hat. Und nun wird Harry fassungslos gefragt: "Du weißt nicht, wer du bist?"
Mit seinem Eintritt in Hogwarts beginnt die Faszinationslogik der Schulgeschichte. Hier kehrt in exotischer Gewandung das für den englischen Leser Vertraute zurück; die Schilderung der Schule ist eine verfremdete, aber in allen Details komplette Wiederverkörperung der klassischen englischen "school story", wie sie dem deutschen Leser allerdings, wenn überhaupt, nur von ferne aus Kiplings "Stalky & Co.", aus dem einen oder anderen Kriminalroman (John Le Carrés "A Murder of Quality" etwa) oder vielleicht aus Orwells Polemik gegen die einschlägigen Magazingeschichten von Frank Richards geläufig sein mag. Orwell hat schon 1940 festgehalten, dass diese quasi zeitlosen Geschichten "dem wirklichen Leben an einer Public School fantastisch unähnlich sind" - es sind Tagtraumszenarien für jene Leser, die keine solche exklusive Schule mit Snobappeal besuchen und sich in diesen privilegierten Raum hineinsehnen. Im englischen Schulsystem nimmt ja das, was wir als Internat bezeichnen würden, einen viel größeren Platz ein und ist überhöht von allerlei trivialmythischen Traditionen; es ist eine eigene, eigenartig hermetische Welt, in der Konventionen, Rituale und vor allem das agonale Element, der Mannschaftssport, zentral sind. Christopher Isherwood hat in der vielleicht besten englischen Erzählung über die Public School, "Perlen belgischer Architektur" (1927), seine sardonische Theorie durchexerziert, dass die Welt der Public School jener der isländischen Sagas gleiche: "Die Sagawelt ist eine Schuljungenwelt, mit ihren Fehden, ihren gewalttätigen Streichen, ihren dunklen Drohungen, die sich in Kalauern, Rätseln und Untertreibungen ausdrücken." Auch das zielt auf den hohen Grad an Ritualisierung.
Ist die School Story schon an sich eine extrem artifizielle Spiegelung einer ritualisierten Lebensform, so erfährt sie in der halb karikierenden, halb glorifizierenden Umwandlung durch die Harry-Potter-Geschichten eine weitere ästhetische Aufladung. Dabei kommt es zu einer ironischen Auratisierung des Schulunterrichts, in dem man mit Zaubertränken, Zauberstäben und Elementargeistern umgeht, doch genau so über Hausaufgaben und Prüfungen stöhnen muss wie eh und je. Die Ausbildung eines Zauberers ist in der Fantasy-Literatur kein unbekanntes Thema (sie nimmt etwa in Ursula K. LeGuins "A Wizard of Earthsea" großen Raum ein), doch hier haben wir etwas Neues: die vollkommene Vermählung von Magie und Schulbankmühsal. Die diesen Alltag aufbrechenden, spannenden Geschehnisse, die Harry in der Zauberwelt - an der Schule - zustoßen, sind bis jetzt unterhaltsam entworfene, abenteuerliche Handlungsabläufe, wie sie sich für ein Jugendbuch schicken: Loyalitätskonflikte, Abwehr von Intrigen und Gefahren. Es wird düsterer: Es wird gestorben werden in den nächsten Folgen, das hat die Autorin in einem Interview durchblicken lassen. Schon bangen Leser um Lieblingsnebenfiguren und warten nervös, was der vierte Band bringen wird. Das vollzieht sich vor dem von Folge zu Folge langsam dunkler werdenden Hintergrund einer großen Geschichte vom Kampf zwischen Gut und Böse.
Dass diese ein wenig an Tolkien und andere Autoren der "high fantasy" erinnernde Konstruktion (eine dunkle Zauberkraft will alle Macht an sich reißen - der unscheinbare Held muss es verhindern) relativ unaufdringlich in die Harry-Potter-Serie eingelagert werden kann, liegt am pittoresken Reiz der einerseits der traditionellen Schulwelt treuen, sie andererseits ironisch umstülpenden Hogwarts-Schilderung. Trotzdem wird die Autorin offenbar vor großen Sinnstiftungsgesten nicht zurückschrecken. Zum Erfolgsrezept der Harry-Potter-Bücher gehört, dass alles sorgfältig bemessen ist - auch ihre Originalität. Allerdings weisen sie ein, zwei wirklich schöne Züge auf.
Wir Leser figurieren in den Harry-Potter-Büchern unter dem unschönen Namen "Muggel" (das englische "Muggles" klingt irgendwie noch debiler und gemeiner): So heißen die Normalen, die nicht zauberisch Begabten, die in Unkenntnis der geheimen Gegenwelt blind und borniert Lebenden. Die beiden Welten berühren sich zwar vielfach und durchdringen sich in mancherlei Kollisionen, aber die Zauberwelt will von den Muggeln so wenig wissen, wie die unsere vom Reich der Magie zu ahnen vermag ("Ich glaube, Mama hat einen Vetter zweiten Grades, der ist Buchhalter, aber von dem spricht man nicht bei uns"). Es ist von besonderer Komik, wenn eine Figur der Gegenwelt - der Vater eines Schulfreunds von Harry, der im Ministerium für Zauberei angestellt ist - eine Art exzentrisches ethnologisches Interesse an uns Muggeln entwickelt und auf Details unserer Welt mit ungezügeltem Forschungseifer reagiert. Bei der Begegnung mit den nichtzauberischen Eltern einer zauberisch begabten Schülerin (das kommt vor) in einer magischen Exklave ist er begeistert wie nur jemals ein Sammler: ",Aber Sie sind ja Muggel!', sagte Mr. Weasley entzückt. ,Wir müssen was zusammen trinken! Was haben Sie denn da? Ach, Sie wechseln Muggel-Geld! Molly, sieh mal!' Er deutete aufgeregt auf die Zehnpfundnoten, die Mr. Granger in der Hand hielt."
Dieses Motiv, das schon früh im ersten Buch bei einer anderen Figur als naive Unschuld auftaucht ("Er deutete immer wieder auf völlig normale Gegenstände wie Parkuhren und sagte: ,Siehste das, Harry? Was die Muggel sich so alles ausdenken, hm?'") ist sehr hübsch. Es zeigt durch Reexotisierung unserer langweiligen Lebenswelt für einen Augenblick das Beliebige der Fantasy. Diese deutenden Finger lösen Objekte, die von uns Muggeln gar nicht mehr wahrgenommen werden, einen Augenblick lang aus dem Kontinuum vertrauter Banalität und demonstrieren: Erstaunlich sind niemals Gegenstände an sich, das Erstaunen erzeugt sich immer durch den perspektivischen Blick des Betrachters. Es ist ein Anflug des chestertonschen Gedankens, dass - tritt man nur einen Schritt zur Seite - auf jeder Alltagsstraße Eigenartiges und Ungeheuerlichstes sichtbar-unsichtbar versammelt ist. Die Umkehrung wird in den Harry-Potter-Romanen immer wieder systematisch demonstriert - das Banale kann plötzlich verblüffen: Ein einsamer Exot unter den Hogwarts-Schülern, der für den Muggel-Sport Fußball schwärmt, ruft bei Quidditch-Spielen in der Zuschauermenge zur allgemeinen Verwirrung nach der "roten Karte".
Während andere Fantasy-Sagas sich additiv entwickelt haben und keinem von Anfang an klaren Grundriss gehorchen, verfügt Joanne K. Rowling offenbar über einen höchst detaillierten Plan. Die Abenteuer von Harry Potter sollen einen Zyklus von sieben Teilen bilden, die seinen sieben Schuljahren entsprechen; zarte Andeutungen von erwachendem erotischem Interesse sind bereits erfolgt. (Das letzte Kapitel ist anscheinend schon geschrieben und liegt in einem Banksafe: "Freundinnen meiner Tochter hatten begonnen, heimlich in unserem Haus nach Harry-Manuskripten zu suchen.") Die Autorin, die angesichts der ungeheuerlichen Publizität ihres Kinderbucheinfalls mit sympathischer Starrköpfigkeit bei "ihrem" Konzept bleibt, wird uns genau das erzählen, was sie sich von Anfang an für Harry ausgedacht hat. Und die Leser werden ihr diese Erzählungen aus der Hand reißen.
Was will man also offenbar gerne immer wieder lesen? Dass wir jemand anderer sind als der, der wir langweiligerweise scheinen (eine verständliche Hoffnung). Dass es das Tollste überhaupt ist, bei einem Wettkampf für die Schulmannschaft den Sieg zu holen (ein infantiler Tagtraum). Dass es in unerwarteten, aber ganz nahen Zonen der Welt die interessantesten Dinge zu erlernen und die gefährlichsten Abenteuer zu bestehen gilt (die Logik des Bücherlesens schlechthin). Dass es allen Zweifeln zum Trotz Gut und Böse gibt (eine Herausforderung und eine Beruhigung).
Beide, Gut und Böse, sind auch in Hogwarts allerdings nicht immer so einfach voneinander zu unterscheiden, wie man zunächst meinen könnte. Doch am Ende herrscht eine Gewissheit: Bestimmte Handlungsweisen sind und bleiben falsch und peinlich, und das Peinlichste - eine überraschende Konsequenz - ist die soziale Arroganz. Die Zauberei findet in einem Kreis von Auserwählten statt, aber sie ist nicht elitär. Die traditionellen britischen Jugendbücher à la Enid Blyton, deren Aroma der Harry-Potter-Zyklus so viel verdankt, werden in diesem Punkt scharf konterkariert: Dem Snobismus in allen seinen Formen wird abgesagt. Joanne K. Rowling bekräftigt eine Form der Political Correctness im Kinderbuch, die es in sich hat: Der widerlichste und - wenn man die Prophezeiung wagen darf - für den Dienst des großen Unholds ideal prädestinierte unter Harrys Schulkameraden ist ein arroganter Schnösel, der sich zwanghaft über die Kinder lustig macht, deren Eltern nicht viel Geld haben, und rassistische Bemerkungen über Muggel-Abkömmlinge parat hat. Das kann nicht gut gehen. So taucht auf dem Grunde der moralischen Komplexitäten, in denen sich Harry verirren muss, der simple Anstand auf. Harry lebt ihn vor: Ein Erwählter sei bescheiden.
JOACHIM KALKA
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus dem Familienroman der Neurotiker: Harry Potter und die Hoffnung, ein anderer in einer anderen Welt zu sein
Manchmal gehen bestimmte Formen populärer Unterhaltung unerwartete Symbiosen ein: Eine gewisse Variante der Sciencefiction hat zum Beispiel so viel von der Logik des Western übernommen, dass man sie zu Beginn der vierziger Jahre als "space opera" zu bezeichnen begann, analog zur "horse opera" der weiten Prärie. Nicht alle derartigen Züchtungen sind Erfolg versprechend (der komische Kriminalroman erweist sich meist als Totgeburt).
Doch die unerwartete Kreuzung einer alten, biederen, eigentlich nur regional berühmten Form mit einem seit längerem modischen Genre ist nun international zum Bestseller geworden: Das bemerkenswerte Produkt eines Seitensprungs der klassischen britischen Schulgeschichte mit der Zauber-Fantasy ist so beliebt, dass über Wochen und Monate hinweg alle drei bisher erschienenen Folgen der Serie gleichzeitig unter den zehn Spitzentiteln des englischen und amerikanischen Buchhandels waren und ein neu erschienener Band über ein Jahr lang Platz eins der Bestsellerliste der "New York Times" blockierte. Und die Faszinationskraft scheint nach wie vor ungebrochen, auch deshalb, weil - ein kluger Schachzug der beharrlich über die Zukunft ihres Zyklus schweigenden Autorin - schon rege spekuliert wird, was denn in der nächsten, in wenigen Tagen erscheinenden Folge geschehen mag. Harry Potter heißt der Protagonist der mittlerweile auch in Deutschland höchst beliebten Reihe (die Auflagenzahl der deutschen Übersetzungen geht über anderthalb Millionen). Harry ist ein zu Beginn seiner Geschichte ganz unauffälliger Junge, der nach dem Tod der Eltern von einer grotesk unsympathischen Stieffamilie geplagt wird, aber an seinem elften Geburtstag unverhofft eine Einladung ins Zauberinternat erhält.
Diese Schule, die den schönen Namen Hogwarts (Sauwarz) trägt, ist - wie die anderen Partien der Zauberwelt - in einer Art Dimensionsfalte unseres Universums angesiedelt; um den Bahnsteig Neundreiviertel im King's-Cross-Bahnhof zu erreichen, auf dem der Zug nach Hogwarts abfährt, muss man (ohne dabei Angst zu empfinden) direkt auf die Absperrung zwischen den Gleisen neun und zehn zugehen und nicht innehalten. So öffnet sich das Tor. Diese Gegenwelt, in die Harry während der Schulsemester einzieht (zunächst muss er in den Ferien in die schlechte Realität seiner unerträglichen Verwandten zurück), ist überwältigend eindrucksvoll, gleichzeitig behaglich-aufregend und voller faszinierender Details - statt des elektrischen Lichts und des Telefons gibt es dort Fackelschein und Boteneulen. Rittergespenster und Poltergeister durchstreifen die Korridore des Schulschlosses; an Wintermorgen enteist der Platzwart draußen die Flugbesenstiele der Schüler. (Diese sind wichtig für den von beiden Geschlechtern leidenschaftlich betriebenen Mannschaftssport, bei dem die vier traditionellen Häuser der Schule miteinander wetteifern: Quidditch, ein mit einer verwirrenden Anzahl von Bällen und Regeln gespielter Flugkampf, in dem Harry rasch zum Star aufsteigt.)
Der erstaunliche Durchbruch des Buches zeigt die Kraft eines Tagtraumszenariums, dessen Verfasserin, Joanne K. Rowling, mit sicherer Hand Originalität und Konventionalität des Genres vermengt und ein Rezept komponiert hat, das unwiderstehlich scheint. Es bleibt etwas Unerklärliches an diesem rauschhaften Erfolg, der sich durchs Internet wälzt, Harry Potter auf die Titelseite von "Time" gebracht hat, Zehntausende von Kids mit Aufklebern der blitzförmigen Stirnnarbe Harrys herumlaufen lässt, aber auch die Buchhandlungen füllt, welche die Autorin auf ihrer Lesereise besucht - die Verkaufszahlen der ersten drei Bände bieten bereits Anlass zu den optimistischen Spekulationen über die plötzlich wieder viel rosiger gesehene Zukunft des Lesens.
Doch lassen sich einige Ingredienzien des Erfolgsrezepts benennen. (Dieses ist glückhaft gewürzt mit dem Umstand, dass auch die Entstehung des Buches selbst unfreiwillig Züge eines romantischen Mythos hat - eine junge Frau sitzt frisch geschieden, arbeitslos und arm da und beginnt in einem Café in Edinburgh, wo sie sich ein wenig aufwärmen will, zu schreiben, als das Baby gerade eingeschlafen ist . . .) Zunächst einmal hat schon lange kein Buch mehr mit solcher Verve das ausgemalt, was Freud lakonisch den "Familienroman der Neurotiker" genannt hat: die Fantasie, dass man "eigentlich" ein ganz anderer sein muss, oder, wie die Autorin diese Empfindung in einem Interview benannt hat: "Es kann doch nicht sein, dass ich zu dieser langweiligen Familie gehöre." Diese Vorstellung liegt zahllosen romantischen Melodramen von vertauschten, gestohlenen, verstoßenen Kindern zu Grunde, von "Il Trovatore" bis "Les Misérables". Das Motiv der verborgenen hohen Herkunft erblüht nun unversehens in der philiströsen britischen Provinz, und der in die gräuliche Spießerwelt seiner gemeinen Verwandtschaft gesperrte Harry erfährt eines Tages nicht nur, dass seine Eltern berühmte Zauberer waren (getötet von Lord Voldemort, der großen Figur des Bösen, welche die Romane zusehends bedrohlicher durchgeistert); er erkennt auch, dass er selbst in jener anderen Welt eine legendäre Berühmtheit ist: das Kind, das die magische Attacke des Erzbösen unbegreiflicherweise überlebt hat. Und nun wird Harry fassungslos gefragt: "Du weißt nicht, wer du bist?"
Mit seinem Eintritt in Hogwarts beginnt die Faszinationslogik der Schulgeschichte. Hier kehrt in exotischer Gewandung das für den englischen Leser Vertraute zurück; die Schilderung der Schule ist eine verfremdete, aber in allen Details komplette Wiederverkörperung der klassischen englischen "school story", wie sie dem deutschen Leser allerdings, wenn überhaupt, nur von ferne aus Kiplings "Stalky & Co.", aus dem einen oder anderen Kriminalroman (John Le Carrés "A Murder of Quality" etwa) oder vielleicht aus Orwells Polemik gegen die einschlägigen Magazingeschichten von Frank Richards geläufig sein mag. Orwell hat schon 1940 festgehalten, dass diese quasi zeitlosen Geschichten "dem wirklichen Leben an einer Public School fantastisch unähnlich sind" - es sind Tagtraumszenarien für jene Leser, die keine solche exklusive Schule mit Snobappeal besuchen und sich in diesen privilegierten Raum hineinsehnen. Im englischen Schulsystem nimmt ja das, was wir als Internat bezeichnen würden, einen viel größeren Platz ein und ist überhöht von allerlei trivialmythischen Traditionen; es ist eine eigene, eigenartig hermetische Welt, in der Konventionen, Rituale und vor allem das agonale Element, der Mannschaftssport, zentral sind. Christopher Isherwood hat in der vielleicht besten englischen Erzählung über die Public School, "Perlen belgischer Architektur" (1927), seine sardonische Theorie durchexerziert, dass die Welt der Public School jener der isländischen Sagas gleiche: "Die Sagawelt ist eine Schuljungenwelt, mit ihren Fehden, ihren gewalttätigen Streichen, ihren dunklen Drohungen, die sich in Kalauern, Rätseln und Untertreibungen ausdrücken." Auch das zielt auf den hohen Grad an Ritualisierung.
Ist die School Story schon an sich eine extrem artifizielle Spiegelung einer ritualisierten Lebensform, so erfährt sie in der halb karikierenden, halb glorifizierenden Umwandlung durch die Harry-Potter-Geschichten eine weitere ästhetische Aufladung. Dabei kommt es zu einer ironischen Auratisierung des Schulunterrichts, in dem man mit Zaubertränken, Zauberstäben und Elementargeistern umgeht, doch genau so über Hausaufgaben und Prüfungen stöhnen muss wie eh und je. Die Ausbildung eines Zauberers ist in der Fantasy-Literatur kein unbekanntes Thema (sie nimmt etwa in Ursula K. LeGuins "A Wizard of Earthsea" großen Raum ein), doch hier haben wir etwas Neues: die vollkommene Vermählung von Magie und Schulbankmühsal. Die diesen Alltag aufbrechenden, spannenden Geschehnisse, die Harry in der Zauberwelt - an der Schule - zustoßen, sind bis jetzt unterhaltsam entworfene, abenteuerliche Handlungsabläufe, wie sie sich für ein Jugendbuch schicken: Loyalitätskonflikte, Abwehr von Intrigen und Gefahren. Es wird düsterer: Es wird gestorben werden in den nächsten Folgen, das hat die Autorin in einem Interview durchblicken lassen. Schon bangen Leser um Lieblingsnebenfiguren und warten nervös, was der vierte Band bringen wird. Das vollzieht sich vor dem von Folge zu Folge langsam dunkler werdenden Hintergrund einer großen Geschichte vom Kampf zwischen Gut und Böse.
Dass diese ein wenig an Tolkien und andere Autoren der "high fantasy" erinnernde Konstruktion (eine dunkle Zauberkraft will alle Macht an sich reißen - der unscheinbare Held muss es verhindern) relativ unaufdringlich in die Harry-Potter-Serie eingelagert werden kann, liegt am pittoresken Reiz der einerseits der traditionellen Schulwelt treuen, sie andererseits ironisch umstülpenden Hogwarts-Schilderung. Trotzdem wird die Autorin offenbar vor großen Sinnstiftungsgesten nicht zurückschrecken. Zum Erfolgsrezept der Harry-Potter-Bücher gehört, dass alles sorgfältig bemessen ist - auch ihre Originalität. Allerdings weisen sie ein, zwei wirklich schöne Züge auf.
Wir Leser figurieren in den Harry-Potter-Büchern unter dem unschönen Namen "Muggel" (das englische "Muggles" klingt irgendwie noch debiler und gemeiner): So heißen die Normalen, die nicht zauberisch Begabten, die in Unkenntnis der geheimen Gegenwelt blind und borniert Lebenden. Die beiden Welten berühren sich zwar vielfach und durchdringen sich in mancherlei Kollisionen, aber die Zauberwelt will von den Muggeln so wenig wissen, wie die unsere vom Reich der Magie zu ahnen vermag ("Ich glaube, Mama hat einen Vetter zweiten Grades, der ist Buchhalter, aber von dem spricht man nicht bei uns"). Es ist von besonderer Komik, wenn eine Figur der Gegenwelt - der Vater eines Schulfreunds von Harry, der im Ministerium für Zauberei angestellt ist - eine Art exzentrisches ethnologisches Interesse an uns Muggeln entwickelt und auf Details unserer Welt mit ungezügeltem Forschungseifer reagiert. Bei der Begegnung mit den nichtzauberischen Eltern einer zauberisch begabten Schülerin (das kommt vor) in einer magischen Exklave ist er begeistert wie nur jemals ein Sammler: ",Aber Sie sind ja Muggel!', sagte Mr. Weasley entzückt. ,Wir müssen was zusammen trinken! Was haben Sie denn da? Ach, Sie wechseln Muggel-Geld! Molly, sieh mal!' Er deutete aufgeregt auf die Zehnpfundnoten, die Mr. Granger in der Hand hielt."
Dieses Motiv, das schon früh im ersten Buch bei einer anderen Figur als naive Unschuld auftaucht ("Er deutete immer wieder auf völlig normale Gegenstände wie Parkuhren und sagte: ,Siehste das, Harry? Was die Muggel sich so alles ausdenken, hm?'") ist sehr hübsch. Es zeigt durch Reexotisierung unserer langweiligen Lebenswelt für einen Augenblick das Beliebige der Fantasy. Diese deutenden Finger lösen Objekte, die von uns Muggeln gar nicht mehr wahrgenommen werden, einen Augenblick lang aus dem Kontinuum vertrauter Banalität und demonstrieren: Erstaunlich sind niemals Gegenstände an sich, das Erstaunen erzeugt sich immer durch den perspektivischen Blick des Betrachters. Es ist ein Anflug des chestertonschen Gedankens, dass - tritt man nur einen Schritt zur Seite - auf jeder Alltagsstraße Eigenartiges und Ungeheuerlichstes sichtbar-unsichtbar versammelt ist. Die Umkehrung wird in den Harry-Potter-Romanen immer wieder systematisch demonstriert - das Banale kann plötzlich verblüffen: Ein einsamer Exot unter den Hogwarts-Schülern, der für den Muggel-Sport Fußball schwärmt, ruft bei Quidditch-Spielen in der Zuschauermenge zur allgemeinen Verwirrung nach der "roten Karte".
Während andere Fantasy-Sagas sich additiv entwickelt haben und keinem von Anfang an klaren Grundriss gehorchen, verfügt Joanne K. Rowling offenbar über einen höchst detaillierten Plan. Die Abenteuer von Harry Potter sollen einen Zyklus von sieben Teilen bilden, die seinen sieben Schuljahren entsprechen; zarte Andeutungen von erwachendem erotischem Interesse sind bereits erfolgt. (Das letzte Kapitel ist anscheinend schon geschrieben und liegt in einem Banksafe: "Freundinnen meiner Tochter hatten begonnen, heimlich in unserem Haus nach Harry-Manuskripten zu suchen.") Die Autorin, die angesichts der ungeheuerlichen Publizität ihres Kinderbucheinfalls mit sympathischer Starrköpfigkeit bei "ihrem" Konzept bleibt, wird uns genau das erzählen, was sie sich von Anfang an für Harry ausgedacht hat. Und die Leser werden ihr diese Erzählungen aus der Hand reißen.
Was will man also offenbar gerne immer wieder lesen? Dass wir jemand anderer sind als der, der wir langweiligerweise scheinen (eine verständliche Hoffnung). Dass es das Tollste überhaupt ist, bei einem Wettkampf für die Schulmannschaft den Sieg zu holen (ein infantiler Tagtraum). Dass es in unerwarteten, aber ganz nahen Zonen der Welt die interessantesten Dinge zu erlernen und die gefährlichsten Abenteuer zu bestehen gilt (die Logik des Bücherlesens schlechthin). Dass es allen Zweifeln zum Trotz Gut und Böse gibt (eine Herausforderung und eine Beruhigung).
Beide, Gut und Böse, sind auch in Hogwarts allerdings nicht immer so einfach voneinander zu unterscheiden, wie man zunächst meinen könnte. Doch am Ende herrscht eine Gewissheit: Bestimmte Handlungsweisen sind und bleiben falsch und peinlich, und das Peinlichste - eine überraschende Konsequenz - ist die soziale Arroganz. Die Zauberei findet in einem Kreis von Auserwählten statt, aber sie ist nicht elitär. Die traditionellen britischen Jugendbücher à la Enid Blyton, deren Aroma der Harry-Potter-Zyklus so viel verdankt, werden in diesem Punkt scharf konterkariert: Dem Snobismus in allen seinen Formen wird abgesagt. Joanne K. Rowling bekräftigt eine Form der Political Correctness im Kinderbuch, die es in sich hat: Der widerlichste und - wenn man die Prophezeiung wagen darf - für den Dienst des großen Unholds ideal prädestinierte unter Harrys Schulkameraden ist ein arroganter Schnösel, der sich zwanghaft über die Kinder lustig macht, deren Eltern nicht viel Geld haben, und rassistische Bemerkungen über Muggel-Abkömmlinge parat hat. Das kann nicht gut gehen. So taucht auf dem Grunde der moralischen Komplexitäten, in denen sich Harry verirren muss, der simple Anstand auf. Harry lebt ihn vor: Ein Erwählter sei bescheiden.
JOACHIM KALKA
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Kult geht weiter!
Schon der erste "Harry Potter" war faszinierende Kost - unterhaltend und spannend - nicht nur für Leseratten unter 1,30 Körpergröße. Aber hat man erst die weiteren Abenteuer rund um den Waisenjungen mit der geheimnisvollen Narbe auf der Stirn gelesen, will man immer mehr haben. Die Sprache ist ausgefeilt genug, um den Ansprüchen des anspruchsvollen Lesers zu genügen und gleichzeitig die Riege der Jung-Literaten nicht zu verprellen. Witzige Kleinode wie der "Erlaß zur Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger" durch Schleiereulen-Eilbotschaft von der "Abteilung für unbefugte Zauberei" des Zaubereiministeriums übermittelt, runden das Ganze ab.
Pottermania
Aber Vorsicht: Spätestens dann, wenn der Fachhandel einen sprunghaften Anstieg im Abverkauf von (Flug-) Besen vermeldet, sollte sich jeder Fan sein Handbuch der wichtigsten Quidditch-Regeln besorgt haben, sonst könnte es eventuell eng werden. Harry Potter ist Kult!
(Michaela Pelz)
Schon der erste "Harry Potter" war faszinierende Kost - unterhaltend und spannend - nicht nur für Leseratten unter 1,30 Körpergröße. Aber hat man erst die weiteren Abenteuer rund um den Waisenjungen mit der geheimnisvollen Narbe auf der Stirn gelesen, will man immer mehr haben. Die Sprache ist ausgefeilt genug, um den Ansprüchen des anspruchsvollen Lesers zu genügen und gleichzeitig die Riege der Jung-Literaten nicht zu verprellen. Witzige Kleinode wie der "Erlaß zur Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger" durch Schleiereulen-Eilbotschaft von der "Abteilung für unbefugte Zauberei" des Zaubereiministeriums übermittelt, runden das Ganze ab.
Pottermania
Aber Vorsicht: Spätestens dann, wenn der Fachhandel einen sprunghaften Anstieg im Abverkauf von (Flug-) Besen vermeldet, sollte sich jeder Fan sein Handbuch der wichtigsten Quidditch-Regeln besorgt haben, sonst könnte es eventuell eng werden. Harry Potter ist Kult!
(Michaela Pelz)
"Sie erfreuen Sammler, bezaubern die große Fangemeinde und verführen eine neue Generation von Lesern", Dein Spiegel, 16.10.2018