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Produktdetails
  • Verlag: Verlag Bauwesen
  • Seitenzahl: 192
  • Abmessung: 280mm
  • Gewicht: 888g
  • ISBN-13: 9783345007316
  • Artikelnr.: 24116977
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.1999

Tür an Tür mit Thierse
Nicht bei Max Welch Guerra: Hauptstadtplanung ohne Planer

Der Bau von Hauptstädten braucht neben Geld und Beton offenbar vor allem Zeit. Nicht immer muss es allerdings so lange dauern wie in Brasilien: Dort wurde schon 1789 zum ersten Mal darüber diskutiert, die Kapitale in den Regenwald zu verlagern. Gut hundert Jahre später erhob die Verfassung die Hauptstadtgründung zum Staatsziel, aber erst 1955 wurde ein Baugebiet ausgewiesen und schließlich 1960 die nach Entwürfen der Architekten Lucio Costa und Oscar Niemeyer errichtete Idealstadt "Brasília" eingeweiht. Im Vergleich dazu ist die Zeitspanne zwischen dem Berlin-Beschluss des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 und dem dieser Tage stattfindenden Umzug von Parlament und Regierung nachgerade kurz zu nennen. Dennoch kann von Tempo oder besonderer Eile natürlich keine Rede sein.

Im Gegenteil, großzügige Flächenforderungen der Verwaltungen, immer neuer Streit um die Standorte der Ministerien und durchaus luxuriöse Ausstattungswünsche der Nutzer ließen die Vorbereitungen für den Umzug gelegentlich eher wie Maßnahmen zur Verschleppung, wenn nicht Verhinderung des Wechsels vom Rhein an die Spree aussehen. Allen Anschein von Entschiedenheit schließlich verlieren die Umzugsvorbereitungen, wenn man sich erinnert, dass gleich nach der Wende schon Platz genug für alle Ministerien und das Parlament in Berlin vorhanden war. Gleichwohl sieht Max Welch Guerra in "Genese, Programm und Vollzug" des Umzugsbeschlusses eine "Leistungsschau des politischen Systems" der Bundesrepublik. Vor allem die Exekutive habe, so resümiert der Berliner Politikwissenschaftler und Stadtplanungstheoretiker in einer Studie über die Hauptstadtplanung, die Bundestagsentscheidung ebenso zügig wie erfolgreich verwirklicht.

Gewiss ist die Art und Weise, wie der Umzug nach Berlin geplant und schließlich durchgeführt wurde, ein unverwechselbares Produkt deutscher Politik. Stets den Konsens suchend, jede Härte meidend, haben sich die Beteiligten mit Hilfe von sehr viel Geld in Jahre dauernden Debatten zu Lösungen vorgetastet, deren Grundmuster dem Kohl'schen Einheitsversprechen entnommen zu sein scheint, niemandem werde es schlechter, allen werde es besser gehen. Tatsächlich kennt der Umzug dank der zwanzig Milliarden Mark, die dafür aufgewendet wurden, keine Verlierer, sondern nur Gewinner. Statt Menschen und Ministerien unbarmherzig von hier nach dort zu verschieben, wurden alle auch nur potenziell negativen Auswirkungen flauschig abgefedert. Berlin ist wieder in sein angestammtes Recht als Hauptstadt gesetzt worden, und fröhlich sind die Zuzügler, während sich der alte Regierungssitz Bonn, der sich nunmehr "Bundesstadt" nennen darf, mittels allerlei Finanzhilfen und Abschiedsgaben zur veritablen Boomtown entwickelt hat. Und die Trennungsgelder, Buschzulagen und Heimfahrertickets für die Bonner Beamten sind längst zum Symbol eines barocken Dienstrechts geworden.

Darin einen Triumph der Leistungsfähigkeit der politischen Kultur der Bundesrepublik erkennen zu wollen, wie Max Welch Guerra es tut, dazu bedarf es schon einiger Sympathie für die herkömmliche Konsensmechanik. Angesichts des Zustandes der Staatsfinanzen erscheint der üppig alimentierte und über Jahre immer wieder verschobene Umzug wie die letzte Hochglanzpolitur eines Auslaufmodells.

Doch darüber verliert der Autor kein Wort. Wie überhaupt die Reflexion weithin ausfällt. Dabei hatte sich Guerra so viel vorgenommen. Er wollte nicht nur - in ganz unakademischer Eile, pünktlich zum Umzug des Parlaments - die Geschichte der Hauptstadtplanung schreiben, sondern (auf hundertsiebzig Seiten) auch gleich noch die in Berlin neu entstehende Symbolik der Republik durchmustern. Beide Unternehmen dürfen als gescheitert betrachtet werden. Seine ästhetisch-symbolischen Erwägungen bleiben beliebig, und die Analyse der politischen Ereignisse kommt über eine Nacherzählung kaum hinaus. Guerra hat aus dem Archiv ein Register der Pläne und Beschlüsse zusammengestellt, eine Chronologie der Kompromisse, ein Verzeichnis der Entwürfe und Gegenentwürfe, aufgeschrieben in einer arg verschraubten Sprache, die bisweilen schwer erträglich ist. Originell ist allein der Gedanke, den Umzug nicht als bloße Verschiebeaktion zwischen Bonn und Berlin zu betrachten, sondern auch der Verlagerung von Bundesbehörden in die neuen Länder ein wenig Aufmerksamkeit zu widmen. Anhand der Beispiele Stralsund und Dessau umreißt der Autor die Folgen dieser Bundesraumordnungspolitik.

Guerras Blick ruht stets wie gebannt auf den beteiligten Institutionen; Individuen kennt er kaum. Nicht einmal den wichtigsten Bonner und Berliner Akteuren, dem einflussreichen Umzugsbeauftragten Klaus Töpfer etwa, Berlins Stadtentwicklungssenator Hassemer oder dem Senatsbaudirektor Stimmann widmet er biographische Skizzen. Sie bleiben Schemen, bloße Funktionsträger, bürokratische Rollenspieler, ebenso austauschbar wie blass. Über ihren Antrieb und Ehrgeiz, ihre Ziele und Erfolge, ihren Stil und ihre Macht erfährt der Leser nichts. Wie sie zusammenwirkten oder gegeneinander gearbeitet haben, wie sie sich einigten oder überlisteten, darüber schweigt Guerra. Und nicht immer zeugt dieses Schweigen von höherer Einsicht. Nicht selten verlegt sich der Chronist auf Mutmaßungen, referiert Gerüchte, erzählt vom Hörensagen.

Vor allem aber singt Guerra das Hohelied der herrschenden Meinung: Er preist nicht nur das Tempo des Umzugs, er lobt auch den Verzicht auf Abrisse, predigt den pfleglichen Umgang mit dem Bestand, würdigt die Auseinandersetzung mit den gebauten Hinterlassenschaften des NS-Regimes und feiert die "diskursive" Hauptstadtplanung, sprich: die weithin folgenlose Besprechung bereits getroffener Entscheidungen in halböffentlichen Foren, ihre Popularisierung mittels professioneller Öffentlichkeitsarbeit und zahlloser Podiumsdiskussionen. Sein einziger Einwand lautet, an diesem ununterbrochenen Diskurs hätten sich überwiegend Westberliner Debattenprofis beteiligt, nicht aber die Bevölkerung des Ostteils der Stadt. Es gehört zu den wenigen echten Pointen des Buches, dass diese richtige Einsicht ausgerechnet von einem geradezu idealtypischen Vertreter des Westberliner Milieus formuliert wird.

HEINRICH WEFING

Max Welch Guerra: "Hauptstadt Einig Vaterland". Planung und Politik zwischen Berlin und Bonn. Verlag Bauwesen, Berlin 1999. 224 S., 75 Abb., davon 21 farbig, br., 58,- DM.

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