Produktdetails
- Verlag: Kröner
- ISBN-13: 9783520396013
- ISBN-10: 3520396017
- Artikelnr.: 08947062
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2001Wer hat's mit den Klassikern?
Es gibt nur wenige intellektuelle Gebiete, auf denen in den letzten Jahrzehnten nicht Debatten über den jeweiligen Kanon angestrengt worden wären. Teils entzündeten sich solche Diskussionen an Bildungsfragen. Unter der Voraussetzung, daß sich besser in der Welt zurechtfindet, wer sich auch in Dramen oder Gedichten zurechtfindet, wurde gefragt, welche Werke denn geeignet sind, diese Verbindung des Zurechtfindens herzustellen. Teils ging es, etwas spezifischer, um die Frage, worin das Hintergrundwissen auf einem bestimmten Forschungsgebiet denn besteht. Was sollte der Nachwuchs an Klassikern gelesen haben, um ein Gespür dafür zu bekommen, worum es in der Ethnologie, in der Geschichtsschreibung oder der Literaturwissenschaft geht? Das Ergebnis der Versuche, solche Fragen listenförmig zu beantworten, bestand allerdings ausnahmslos darin, dem Nachwuchs vorzuführen, daß nur der Dissens über den Kanon verläßlich vorausgesetzt werden kann; der Dissens darüber, ob es seiner überhaupt bedarf, ob das Bedürfnis nach ihm seine Möglichkeit garantiert und ob wirklich Listeneinträge frei von jedem Zweifel an ihrer Bildungswirkung gestellt werden können. Ein gerade vorgelegtes Nachschlagewerk "Hauptwerke der Soziologie" (herausgegeben von Dirk Kaesler und Ludgera Vogt, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2000, 501 S., 48,- DM) läßt auf eine andere Schwierigkeit von Kanondebatten aufmerksam werden. Bücher, die in der Geschichte der Soziologie "einen Unterschied machten", so die Herausgeber, haben sie aufgenommen und von gegenwärtig arbeitenden Soziologen beschreiben lassen. Niemand wird diesen "Unterschied" bei Werken wie Auguste Comtes "Système de politique positive" und Karl Marx' "Achtzehntem Brumaire" in Frage ziehen, jeder die Bedeutung von Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" oder Thorstein Veblens "Theorie der feinen Leute" für die Fachentwicklung anerkennen. Einhundertsieben Klassiker sind auf diese Weise zusammengetragen worden, darunter auch Werke, deren einstiger Einfluß heute in Vergessenheit geraten ist: Herbert J. Gans' "The Urban Villagers" etwa oder "Middletown" von Robert und Helen Lynd. In dem Maße aber, in dem es sich bei der Soziologie um eine Wissenschaft handelt, wirft ein solcher Abriß ihrer Innovationen von gestern die Frage auf, worin denn der Sinn des Studiums ihrer älteren Schichten besteht. Diese Frage unterstellt nicht, was die Herausgeber erörtern, die Soziologie selbst sei ein zu Ende gekommenes Unternehmen und die Versammlung ihrer Klassiker der Beweis dafür, daß sie nicht mehr lebendig ist. Im Gegenteil: Indifferenz gegenüber dem Studium von Klassikern herrscht ja gerade in solchen Disziplinen, die äußerst lebendig und darum am Vorgestern und Gestern wenig interessiert sind, weil sie das, was daran Wissen war, in das gegenwärtige Wissen eingegangen sehen. Welcher Physiker müßte ein schlechtes Gewissen haben, nur weil er niemals "Siderius nuncius", welcher Biologe eines, weil er nie "The Origin of Species" im Original gelesen hat? Richard Rorty hat vor Jahren genau in dieser unterschiedlichen Umgangsweise von Disziplinen mit ihren Altertümern die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften lokalisiert. Die Soziologie aber hat sich gerade an diese Unterscheidung nie gewöhnen können. Anfängliche Versuche, sich als Naturkunde des Sozialen zu etablieren - bei Herbert Spencer finden sich Spuren ebenso wie in der Chicagoer Schule -, ließ sie hinter sich. Und doch verstand sie sich stets zu sehr als empirisch vorgehende Disziplin, um sich unter Geistes- oder neuerdings Kulturwissenschaften einzuordnen. Entsprechend doppelgestaltig ist ihr Wissenschaftscharakter. Weder produziert sie Wissen, das in jedem Moment veraltet, weil es von nachfolgender Erkenntnis aufgenommen, von neuen Befunden abgelöst wird. Noch kann sie sich als philosophische Disziplin verstehen, die ihren Dienst an einem Fundus immerwährender Probleme versieht und deshalb auch älteste Texte zu Rate ziehen kann. Um es zuzuspitzen: Weder sind ihre Ergebnisse nach Maßstäben der Naturwissenschaft gut bewiesen noch ihre Schlüsse nach denen der Philosophie gut begründet. Was bleibt in dieser prekären Lage als Motiv für das Studium ihrer Klassiker? Vielleicht eine dritte Möglichkeit, die Niklas Luhmann einst andeutete: Nicht gut begründet, gut gemacht müsse ein soziologischer Text sein. Dann wären es vorrangig nicht Informationen und nicht Wahrheiten, die beim soziologischen Klassiker zu lernen wären, sondern Macharten.
JÜRGEN KAUBE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es gibt nur wenige intellektuelle Gebiete, auf denen in den letzten Jahrzehnten nicht Debatten über den jeweiligen Kanon angestrengt worden wären. Teils entzündeten sich solche Diskussionen an Bildungsfragen. Unter der Voraussetzung, daß sich besser in der Welt zurechtfindet, wer sich auch in Dramen oder Gedichten zurechtfindet, wurde gefragt, welche Werke denn geeignet sind, diese Verbindung des Zurechtfindens herzustellen. Teils ging es, etwas spezifischer, um die Frage, worin das Hintergrundwissen auf einem bestimmten Forschungsgebiet denn besteht. Was sollte der Nachwuchs an Klassikern gelesen haben, um ein Gespür dafür zu bekommen, worum es in der Ethnologie, in der Geschichtsschreibung oder der Literaturwissenschaft geht? Das Ergebnis der Versuche, solche Fragen listenförmig zu beantworten, bestand allerdings ausnahmslos darin, dem Nachwuchs vorzuführen, daß nur der Dissens über den Kanon verläßlich vorausgesetzt werden kann; der Dissens darüber, ob es seiner überhaupt bedarf, ob das Bedürfnis nach ihm seine Möglichkeit garantiert und ob wirklich Listeneinträge frei von jedem Zweifel an ihrer Bildungswirkung gestellt werden können. Ein gerade vorgelegtes Nachschlagewerk "Hauptwerke der Soziologie" (herausgegeben von Dirk Kaesler und Ludgera Vogt, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2000, 501 S., 48,- DM) läßt auf eine andere Schwierigkeit von Kanondebatten aufmerksam werden. Bücher, die in der Geschichte der Soziologie "einen Unterschied machten", so die Herausgeber, haben sie aufgenommen und von gegenwärtig arbeitenden Soziologen beschreiben lassen. Niemand wird diesen "Unterschied" bei Werken wie Auguste Comtes "Système de politique positive" und Karl Marx' "Achtzehntem Brumaire" in Frage ziehen, jeder die Bedeutung von Tönnies' "Gemeinschaft und Gesellschaft" oder Thorstein Veblens "Theorie der feinen Leute" für die Fachentwicklung anerkennen. Einhundertsieben Klassiker sind auf diese Weise zusammengetragen worden, darunter auch Werke, deren einstiger Einfluß heute in Vergessenheit geraten ist: Herbert J. Gans' "The Urban Villagers" etwa oder "Middletown" von Robert und Helen Lynd. In dem Maße aber, in dem es sich bei der Soziologie um eine Wissenschaft handelt, wirft ein solcher Abriß ihrer Innovationen von gestern die Frage auf, worin denn der Sinn des Studiums ihrer älteren Schichten besteht. Diese Frage unterstellt nicht, was die Herausgeber erörtern, die Soziologie selbst sei ein zu Ende gekommenes Unternehmen und die Versammlung ihrer Klassiker der Beweis dafür, daß sie nicht mehr lebendig ist. Im Gegenteil: Indifferenz gegenüber dem Studium von Klassikern herrscht ja gerade in solchen Disziplinen, die äußerst lebendig und darum am Vorgestern und Gestern wenig interessiert sind, weil sie das, was daran Wissen war, in das gegenwärtige Wissen eingegangen sehen. Welcher Physiker müßte ein schlechtes Gewissen haben, nur weil er niemals "Siderius nuncius", welcher Biologe eines, weil er nie "The Origin of Species" im Original gelesen hat? Richard Rorty hat vor Jahren genau in dieser unterschiedlichen Umgangsweise von Disziplinen mit ihren Altertümern die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften lokalisiert. Die Soziologie aber hat sich gerade an diese Unterscheidung nie gewöhnen können. Anfängliche Versuche, sich als Naturkunde des Sozialen zu etablieren - bei Herbert Spencer finden sich Spuren ebenso wie in der Chicagoer Schule -, ließ sie hinter sich. Und doch verstand sie sich stets zu sehr als empirisch vorgehende Disziplin, um sich unter Geistes- oder neuerdings Kulturwissenschaften einzuordnen. Entsprechend doppelgestaltig ist ihr Wissenschaftscharakter. Weder produziert sie Wissen, das in jedem Moment veraltet, weil es von nachfolgender Erkenntnis aufgenommen, von neuen Befunden abgelöst wird. Noch kann sie sich als philosophische Disziplin verstehen, die ihren Dienst an einem Fundus immerwährender Probleme versieht und deshalb auch älteste Texte zu Rate ziehen kann. Um es zuzuspitzen: Weder sind ihre Ergebnisse nach Maßstäben der Naturwissenschaft gut bewiesen noch ihre Schlüsse nach denen der Philosophie gut begründet. Was bleibt in dieser prekären Lage als Motiv für das Studium ihrer Klassiker? Vielleicht eine dritte Möglichkeit, die Niklas Luhmann einst andeutete: Nicht gut begründet, gut gemacht müsse ein soziologischer Text sein. Dann wären es vorrangig nicht Informationen und nicht Wahrheiten, die beim soziologischen Klassiker zu lernen wären, sondern Macharten.
JÜRGEN KAUBE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zu welchem Zwecke studiert man die Geschichte einer Disziplin, die sich nach Meinung des Rezensenten Jürgen Kaube gerade mit gegenwärtigen Problemen und nicht mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen hat? Mit dieser Überlegung stellt der Rezensent das vorliegende Projekt einer Geschichtsschreibung der Soziologie über kanonische Texte in Frage. Wenig Worte über die Textsammlung, aber starke Zweifel an ihrer Berechtigung bei einer Disziplin, "die äußerst lebendig und darum am Vorgestern und Gestern wenig interessiert" ist. Welche Halbwertzeiten für relevantes Wissen in dieser Disziplin herrschen, erfahren wir auch nicht von Richard Rorty, auf den sich der Rezensent bei seinen kritischen Ausführungen bezieht; aber wer war das noch gleich?
© Perlentaucher Medien GmbH
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