Die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, ein kleiner Junge fährt mit seiner Mutter in einem Evakuierungszug durchs Land. Die Mutter ist schwer erkrankt, wird aus dem Zug geholt und weggetragen. Der Junge folgt ihr, aber die Mutter verschwindet. Ganz allein bleibt das Kind in der Welt der Erwachsenen zurück, an einem Ort, dessen einziges Merkmal ein Haus mit einem Türmchen ist. Der Junge macht sich auf die Suche und gelangt in das Krankenhaus, in das seine Mutter gebracht wurde. Dort wird er zum Zeugen ihres Todes. Mit einem Bündel Habseligkeiten kehrt der Junge zurück zum Bahnhof, um sich allein auf die Reise zu seinem Großvater zu begeben. Haus mit Türmchen erzählt unmittelbar und lebendig die existenzielle Grunderfahrung eines Kindes, das, wie der Autor selbst, im Krieg seine Mutter verliert. Indem Gorenstein, dessen Vater den stalinistischen Repressionen zum Opfer gefallen ist, mit kurzen, präzisen Charakterisierungen beschreibt, wie sich verschiedene Passagiere um den Jungenkümmern, wie sie ihn benutzen oder ihm beistehen, zeichnet er auf wenigen Seiten ein bestechend scharfes Bild einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Eine mitreißende Erzählung über die Frage, was es bedeutet, im Krieg ein Mensch zu sein - und zu bleiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.2023Teile eines unverständlichen Getriebes
So ergeht es denen, über die der Krieg hereinbricht: Friedrich Gorensteins "Haus mit Türmchen"
Ein trauriges Märchen ist dieses Buch und endet doch mit einem Lächeln, wenn auch nur im Traum. In ihm ist die Welt noch einmal vollständig: Der Junge sieht die Mutter, die vor seinen Augen gestorben ist. Geweint hat er an ihrem Bett im Krankenhaus, und niemand hat ihm gesagt, woran sie starb. Aber nun kann er lächeln.
Friedrich Gorensteins Erzählung "Haus mit Türmchen" spielt im dritten Jahr des Zweiten Weltkriegs und erscheint durch Zufall im ersten des Krieges, den die Russländische Föderation gegen die Ukraine führt. Während die Flüchtlinge in den Zügen damals gen Osten reisten, schreibt Katja Petrowskaja im Nachwort, fahren sie heute gen Westen. Der Krieg hat die Richtung gewechselt, und die schmale Erzählung, die das massenhafte Sterben in ihm wie in einem Brenngas und doch nicht schmälert, trifft auf ein sensibilisiertes Publikum.
Gorenstein verlässt sich ganz auf die Perspektive des Jungen. Er erklärt nichts und lässt ihn atem- und fraglos wahrnehmen, was um ihn herum in großer Eile geschieht: Die Mutter wird auf einer Bahre aus dem Zug getragen. Den Jungen haben die Helfer vergessen. Er rafft, bevor der Zug weiterfährt, die karge Habe zusammen und steht ratlos im Bahnhofshäuschen: Die Bahre mit seiner Mutter ist nicht mehr zu sehen. Sie sei im Krankenhaus, sagt man ihm, er solle den Bus nehmen. Weil der Bus nicht kommt, marschiert er los und findet sie nach einem stundenlangen Marsch wieder. Man lässt ihn in dem großen Krankenzimmer übernachten. Immer wieder steht er auf und geht zur Schlafenden einige Betten weiter, um sie anzusehen. Dann verkrampft sie sich, röchelt, und die Krankenschwester zieht das Laken über das Gesicht. "Das war's", denkt er und will sofort weiterfahren.
Alle Menschen, die dem Jungen begegnen, sind namenlose Teile eines unverständlichen Getriebes. Überfüllte Züge fahren durch unbekannte Kleinstädte, und die Menschen handeln automatisch und ohne sich zu erklären. Die Erzählung ist ein Gleichnis: So ergeht es denen, über die der Krieg hereinbricht.
Aus dem Getriebe ragt allein das Haus mit Türmchen heraus. Es ist das illusorische Versprechen eines festen Heims für den Jungen in einer Flüchtlingsgesellschaft, die sich in immerwährender Bewegung befindet. Die nach diesem Fixpunkt benannte Erzählung ist die einzige, die Gorenstein als Jude und Sohn eines Wirtschaftsprofessors, der 1937 als "Volksschädling" erschossen wurde, in der Sowjetunion veröffentlichen konnte. Nach der Zeitschriftenpublikation von "Haus mit Türmchen" 1964 lehnte man, erzählt Katja Petrowskaja, Gorensteins Geschichte "Der Winter von 1953" jedoch ab. Er schrieb weiter, für sich und die Schublade. Erfolg hatte der Bergbauingenieur, der Anfang der Sechzigerjahre einige Kurse an der Moskauer Filmhochschule besucht hatte, jedoch mit Drehbüchern; das für Andrej Tarkowskijs "Solaris" stammt von ihm. 1979 lud das Künstlerprogramm des DAAD Friedrich Gorenstein nach Berlin ein. Er blieb in der Frontstadt und veröffentlichte erst nach 1990 mehrere Bücher. Das "Haus mit Türmchen" war also mehr als ein Vierteljahrhundert lang so isoliert wie seine Hauptperson. JÖRG PLATH
Friedrich Gorenstein: "Haus mit Türmchen".
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Mit einem Nachwort von Katja Petrowskaja. Friedenauer Presse, Berlin 2022. 76 S., geb., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So ergeht es denen, über die der Krieg hereinbricht: Friedrich Gorensteins "Haus mit Türmchen"
Ein trauriges Märchen ist dieses Buch und endet doch mit einem Lächeln, wenn auch nur im Traum. In ihm ist die Welt noch einmal vollständig: Der Junge sieht die Mutter, die vor seinen Augen gestorben ist. Geweint hat er an ihrem Bett im Krankenhaus, und niemand hat ihm gesagt, woran sie starb. Aber nun kann er lächeln.
Friedrich Gorensteins Erzählung "Haus mit Türmchen" spielt im dritten Jahr des Zweiten Weltkriegs und erscheint durch Zufall im ersten des Krieges, den die Russländische Föderation gegen die Ukraine führt. Während die Flüchtlinge in den Zügen damals gen Osten reisten, schreibt Katja Petrowskaja im Nachwort, fahren sie heute gen Westen. Der Krieg hat die Richtung gewechselt, und die schmale Erzählung, die das massenhafte Sterben in ihm wie in einem Brenngas und doch nicht schmälert, trifft auf ein sensibilisiertes Publikum.
Gorenstein verlässt sich ganz auf die Perspektive des Jungen. Er erklärt nichts und lässt ihn atem- und fraglos wahrnehmen, was um ihn herum in großer Eile geschieht: Die Mutter wird auf einer Bahre aus dem Zug getragen. Den Jungen haben die Helfer vergessen. Er rafft, bevor der Zug weiterfährt, die karge Habe zusammen und steht ratlos im Bahnhofshäuschen: Die Bahre mit seiner Mutter ist nicht mehr zu sehen. Sie sei im Krankenhaus, sagt man ihm, er solle den Bus nehmen. Weil der Bus nicht kommt, marschiert er los und findet sie nach einem stundenlangen Marsch wieder. Man lässt ihn in dem großen Krankenzimmer übernachten. Immer wieder steht er auf und geht zur Schlafenden einige Betten weiter, um sie anzusehen. Dann verkrampft sie sich, röchelt, und die Krankenschwester zieht das Laken über das Gesicht. "Das war's", denkt er und will sofort weiterfahren.
Alle Menschen, die dem Jungen begegnen, sind namenlose Teile eines unverständlichen Getriebes. Überfüllte Züge fahren durch unbekannte Kleinstädte, und die Menschen handeln automatisch und ohne sich zu erklären. Die Erzählung ist ein Gleichnis: So ergeht es denen, über die der Krieg hereinbricht.
Aus dem Getriebe ragt allein das Haus mit Türmchen heraus. Es ist das illusorische Versprechen eines festen Heims für den Jungen in einer Flüchtlingsgesellschaft, die sich in immerwährender Bewegung befindet. Die nach diesem Fixpunkt benannte Erzählung ist die einzige, die Gorenstein als Jude und Sohn eines Wirtschaftsprofessors, der 1937 als "Volksschädling" erschossen wurde, in der Sowjetunion veröffentlichen konnte. Nach der Zeitschriftenpublikation von "Haus mit Türmchen" 1964 lehnte man, erzählt Katja Petrowskaja, Gorensteins Geschichte "Der Winter von 1953" jedoch ab. Er schrieb weiter, für sich und die Schublade. Erfolg hatte der Bergbauingenieur, der Anfang der Sechzigerjahre einige Kurse an der Moskauer Filmhochschule besucht hatte, jedoch mit Drehbüchern; das für Andrej Tarkowskijs "Solaris" stammt von ihm. 1979 lud das Künstlerprogramm des DAAD Friedrich Gorenstein nach Berlin ein. Er blieb in der Frontstadt und veröffentlichte erst nach 1990 mehrere Bücher. Das "Haus mit Türmchen" war also mehr als ein Vierteljahrhundert lang so isoliert wie seine Hauptperson. JÖRG PLATH
Friedrich Gorenstein: "Haus mit Türmchen".
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Mit einem Nachwort von Katja Petrowskaja. Friedenauer Presse, Berlin 2022. 76 S., geb., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jörg Plath freut sich über die Wiederentdeckung dieser Erzählung von Friedrich Gorenstein. Der russische Schriftsteller, der in der Sowjetunion vor allem als Drehbuchautor tätig war, konnte erst nach 1990 mehrere Bücher veröffentlichen, die vorliegende Erzählung wurde bis dahin nur einmal 1964 in einer Zeitschrift publiziert, klärt der Kritiker auf. Er folgt dem "atemlosen" Bericht eines kleinen Jungen durch das dritte Jahr des Zweiten Weltkriegs und erlebt Kriegsalltag und das Sterben der Mutter wie unter einem "Brennglas". Auch das Nachwort von Katja Petrowskaja lohnt die Lektüre, versichert Plath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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