"Statt der realistischen Erzählung eines Kriegsgefangenen ein sich an Episoden entlanghangelndes Nachdenken über das Leben als besiegter, gedemütigter Mensch.", schreibt Julia Schoch, die für die Übersetzung von Haut und Knochen den André-Gide-Preis für deutsch-französische Literaturübersetzungen 2010 erhielt.
Während Hyvernauds Roman "Der Viehwaggon" (1953) vor allem das Nachkriegs-Paris und das absurde Soldatenleben schildert, wird in "Haut und Knochen" (1949) unmittelbar vom Leben in deutscher Kriegsgefangenschaft und von der Heimkehr erzählt. Einer kommt aus dem Lager nach Hause. Er trifft auf Verwandte, ehemalige Kollegen, die Ehefrau - und ist sprachlos: Wie läßt sich in ihrer ignorant harmlosen Welt weiterleben?
Fast grenzt "Haut und Knochen" an eine Beweisführung: Warum der Ich-Erzähler an kein heiles Menschenbild mehr glauben kann. Doch dem Autor gelingt etwas Unwahrscheinliches: Schlimmste existentielle Erfahrungen verwandelt er in Scharfsinn, Poesie und Sprachwitz, die Grausamkeiten fängt er durch Wortturbulenzen auf, sodaß sie nicht nur empörend oder schlimm, sondern auf schreckliche Weise auch amüsant erscheinen.Georges Hyvernaud hat "Haut und Knochen", eine der seltenen literarisch verdichteten Erzählungen über Kriegsgefangenschaft, vor dem "Viehwaggon" verfaßt. Motive, Namen, Interieurs verklammern die beiden Romane. Zusammen bilden sie das Panorama einer Nachkriegspsyche.
Während Hyvernauds Roman "Der Viehwaggon" (1953) vor allem das Nachkriegs-Paris und das absurde Soldatenleben schildert, wird in "Haut und Knochen" (1949) unmittelbar vom Leben in deutscher Kriegsgefangenschaft und von der Heimkehr erzählt. Einer kommt aus dem Lager nach Hause. Er trifft auf Verwandte, ehemalige Kollegen, die Ehefrau - und ist sprachlos: Wie läßt sich in ihrer ignorant harmlosen Welt weiterleben?
Fast grenzt "Haut und Knochen" an eine Beweisführung: Warum der Ich-Erzähler an kein heiles Menschenbild mehr glauben kann. Doch dem Autor gelingt etwas Unwahrscheinliches: Schlimmste existentielle Erfahrungen verwandelt er in Scharfsinn, Poesie und Sprachwitz, die Grausamkeiten fängt er durch Wortturbulenzen auf, sodaß sie nicht nur empörend oder schlimm, sondern auf schreckliche Weise auch amüsant erscheinen.Georges Hyvernaud hat "Haut und Knochen", eine der seltenen literarisch verdichteten Erzählungen über Kriegsgefangenschaft, vor dem "Viehwaggon" verfaßt. Motive, Namen, Interieurs verklammern die beiden Romane. Zusammen bilden sie das Panorama einer Nachkriegspsyche.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2011Vom auseinanderbrechenden Leben
Eine Entdeckung und eine Erschütterung: In der Übersetzung von Julia Schoch zeigt sich Georges Hyvernauds Kriegsroman "Haut und Knochen" als Dokument des modernen Schreckens.
Erzählungen von der Schmach des Besiegtseins gehören in der Siegernation Frankreich nicht gerade zum Lektürekanon, schürt doch jeder Kratzer im Heldenbild Zweifel am dominierenden patriotischen Selbstverständnis - Zweifel, die in der literarischen Welt der Franzosen jedoch eine unterschwellige Tradition haben. Hatten die sich auf Sade berufenden Surrealisten das Pathos des Patriotismus bereits mit der fäkalen Macht der Eingeweide konfrontiert, so brach es mit Louis-Ferdinand Célines "Reise ans Ende der Nacht" offen hervor, das ganz und gar unpathetische Frankreich aus dem Blickwinkel der Verweigerer und bekennenden Feiglinge, der illusionslos im Regen Stehenden, die vor Fahnen und großen Worten das Kotzen kriegen - von Sartres "Ekel" bis zu Houellebecqs "Kampfzone" gehen die Antihelden französischer Romane auf die Tiraden von Célines Schandmaul zurück.
Pech für Georges Hyvernaud (1901 bis 1983), dass seine beiden Romane bislang ein Schattendasein in diesem Gegenkanon führten. Weder der 1949 erschienene Text "Haut und Knochen" noch "Der Viehwaggon" hinterließen bis zu ihrer Wiederentdeckung in den Neunzigern nachhaltige Spuren bei der französischen Kritik. Da es ihnen an prominenten Fürsprechern fehlte, gingen sie in der Aufbruchstimmung jener Jahre einfach unter, und Hyvernaud, der Lycée-Lehrer, begrub alle weiteren literarischen Projekte. Dabei hätte es ganz anders kommen können: 1946 hatte Jean-Paul Sartre in "Les Temps Modernes" ein Kapitel aus "Haut und Knochen" vorgestellt, und während das darin gezeichnete Bild des von Gott und Vaterland verlassenen Ich die Existentialisten hätte begeistern müssen, wären die Schilderungen des auf seine elementaren Funktionen verwiesenen Leibs und der im Entzug geistig-materieller Nahrung ausgedörrten Empfindungen Stoff für Phänomenologen wie Merleau-Ponty gewesen. Und sollte Samuel Beckett tatsächlich keine Kenntnis von "Haut und Knochen" gehabt haben? Hyvernaud steht als Geistesverwandter Becketts ebenso fremd und konsterniert vor dem Rätsel menschlichen Verhaltens: "Die Absurdität ist eine lebendige Offenbarung, die in bestimmten intensiven Momenten alles mit sich reißt. Einen solchen Moment habe ich erlebt, als ich in Gefangenschaft geriet. Die Deutschen verfielen auf die Idee, uns vorzuschieben, um die Kumpels am Schießen zu hindern. Bei jedem Feuerstoß fielen ein paar Männer, und die anderen schrien noch lauter. Nicht schießen, verdammt, schießt nicht. Fast alle besoffen. Sie hatten eine englische Kantine geplündert, hatten bis zum Anschlag Gin und Whiskey in sich reingekippt - ihre letzte Tat als freie Menschen."
Hyvernauds Kurzroman beginnt mit der Rückkehr des unverhüllt autobiographischen Protagonisten aus fünfzig Monaten deutscher Kriegsgefangenschaft. Daheim wird er als lebender Märtyrer und mitleiderregendes Opfer herumgereicht, ohne dass einer der zukunftsgläubigen Patrioten in seiner Nähe Interesse für das wirkliche Grauen seines Schicksals aufbrächte - die stupide Banalität des Gefangenschaftsalltags, die Abstumpfung dem eigenen Gewissen und der eigenen Menschenwürde gegenüber. Deshalb verharrt das Ich auch in entselbsteter Namenlosigkeit. Sein Schicksal geht in der kollektiven Absurdität namens Krieg auf: "Will man sich dessen, was uns zugestoßen ist, ganz und gar bewusst werden, muss man sich nur Hintern an Hintern in den Latrinen hinkauern ... Gleichheit und Brüderlichkeit der Scheiße. Wir hatten unsere Probleme. Wir waren stolz auf unsere Probleme, unsere Ängste. Jetzt sind wir auf nichts mehr stolz. Und es gibt auch nur ein einziges Problem: essen, und anschließend einen Platz finden, wo man seinen Hintern auf die verdreckten Bretter setzen kann ... Man ist Teil jenes kollektiven und mechanischen Ungeheuers, das den ganzen Tag lang um die Abortgrube herum steht."
Der Bachmannpreisträgerin Julia Schoch ("Mit der Geschwindigkeit des Sommers"), die aus dem Französischen bislang vor allem die Krimiautorin Fred Vargas übertragen hat, gebührt nicht nur das Verdienst, Hyvernaud für die Bibliothek Suhrkamp entdeckt zu haben, sondern ihn auch in einem schlackenlosen, zeitgenössischen Deutsch zu präsentieren, das dem Erzähler eine manchmal schnoddrige, manchmal sarkastische, immer aber kreatürlich-glaubhafte Stimme verleiht - als beträfe das, was er von seiner Kriegsgefangenschaft berichtet, genauso uns selbst, denn es rührt an die Frage nach der condition humaine: "Täglich feilt man an seinen Vorwürfen und Abneigungen, man frischt sie auf, vervollkommnet sie. Zwangsläufig. Das kommt von diesem nach Latrine riechenden Elend, in dem wir alle durchgewalkt werden ... Man nimmt ihnen ihre Visagen übel, ihre Stimmen, ihren Geschmack und ihre Abgeschmacktheiten, den Raum, den sie einnehmen, dass sie sagen, was sie sagen, dass sie singen, was sie singen, Nietzsche, die kleine Amelie, dass sie ihre Nase hochziehen, rülpsen, existieren. Man nimmt ihnen dieses unveränderliche, unvermeidliche Leben übel, in dem unser Leben auseinanderbricht."
JAN RÖHNERT.
Georges Hyvernaud: "Haut und Knochen". Roman.
Aus dem Französischen von Julia Schoch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 111 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Entdeckung und eine Erschütterung: In der Übersetzung von Julia Schoch zeigt sich Georges Hyvernauds Kriegsroman "Haut und Knochen" als Dokument des modernen Schreckens.
Erzählungen von der Schmach des Besiegtseins gehören in der Siegernation Frankreich nicht gerade zum Lektürekanon, schürt doch jeder Kratzer im Heldenbild Zweifel am dominierenden patriotischen Selbstverständnis - Zweifel, die in der literarischen Welt der Franzosen jedoch eine unterschwellige Tradition haben. Hatten die sich auf Sade berufenden Surrealisten das Pathos des Patriotismus bereits mit der fäkalen Macht der Eingeweide konfrontiert, so brach es mit Louis-Ferdinand Célines "Reise ans Ende der Nacht" offen hervor, das ganz und gar unpathetische Frankreich aus dem Blickwinkel der Verweigerer und bekennenden Feiglinge, der illusionslos im Regen Stehenden, die vor Fahnen und großen Worten das Kotzen kriegen - von Sartres "Ekel" bis zu Houellebecqs "Kampfzone" gehen die Antihelden französischer Romane auf die Tiraden von Célines Schandmaul zurück.
Pech für Georges Hyvernaud (1901 bis 1983), dass seine beiden Romane bislang ein Schattendasein in diesem Gegenkanon führten. Weder der 1949 erschienene Text "Haut und Knochen" noch "Der Viehwaggon" hinterließen bis zu ihrer Wiederentdeckung in den Neunzigern nachhaltige Spuren bei der französischen Kritik. Da es ihnen an prominenten Fürsprechern fehlte, gingen sie in der Aufbruchstimmung jener Jahre einfach unter, und Hyvernaud, der Lycée-Lehrer, begrub alle weiteren literarischen Projekte. Dabei hätte es ganz anders kommen können: 1946 hatte Jean-Paul Sartre in "Les Temps Modernes" ein Kapitel aus "Haut und Knochen" vorgestellt, und während das darin gezeichnete Bild des von Gott und Vaterland verlassenen Ich die Existentialisten hätte begeistern müssen, wären die Schilderungen des auf seine elementaren Funktionen verwiesenen Leibs und der im Entzug geistig-materieller Nahrung ausgedörrten Empfindungen Stoff für Phänomenologen wie Merleau-Ponty gewesen. Und sollte Samuel Beckett tatsächlich keine Kenntnis von "Haut und Knochen" gehabt haben? Hyvernaud steht als Geistesverwandter Becketts ebenso fremd und konsterniert vor dem Rätsel menschlichen Verhaltens: "Die Absurdität ist eine lebendige Offenbarung, die in bestimmten intensiven Momenten alles mit sich reißt. Einen solchen Moment habe ich erlebt, als ich in Gefangenschaft geriet. Die Deutschen verfielen auf die Idee, uns vorzuschieben, um die Kumpels am Schießen zu hindern. Bei jedem Feuerstoß fielen ein paar Männer, und die anderen schrien noch lauter. Nicht schießen, verdammt, schießt nicht. Fast alle besoffen. Sie hatten eine englische Kantine geplündert, hatten bis zum Anschlag Gin und Whiskey in sich reingekippt - ihre letzte Tat als freie Menschen."
Hyvernauds Kurzroman beginnt mit der Rückkehr des unverhüllt autobiographischen Protagonisten aus fünfzig Monaten deutscher Kriegsgefangenschaft. Daheim wird er als lebender Märtyrer und mitleiderregendes Opfer herumgereicht, ohne dass einer der zukunftsgläubigen Patrioten in seiner Nähe Interesse für das wirkliche Grauen seines Schicksals aufbrächte - die stupide Banalität des Gefangenschaftsalltags, die Abstumpfung dem eigenen Gewissen und der eigenen Menschenwürde gegenüber. Deshalb verharrt das Ich auch in entselbsteter Namenlosigkeit. Sein Schicksal geht in der kollektiven Absurdität namens Krieg auf: "Will man sich dessen, was uns zugestoßen ist, ganz und gar bewusst werden, muss man sich nur Hintern an Hintern in den Latrinen hinkauern ... Gleichheit und Brüderlichkeit der Scheiße. Wir hatten unsere Probleme. Wir waren stolz auf unsere Probleme, unsere Ängste. Jetzt sind wir auf nichts mehr stolz. Und es gibt auch nur ein einziges Problem: essen, und anschließend einen Platz finden, wo man seinen Hintern auf die verdreckten Bretter setzen kann ... Man ist Teil jenes kollektiven und mechanischen Ungeheuers, das den ganzen Tag lang um die Abortgrube herum steht."
Der Bachmannpreisträgerin Julia Schoch ("Mit der Geschwindigkeit des Sommers"), die aus dem Französischen bislang vor allem die Krimiautorin Fred Vargas übertragen hat, gebührt nicht nur das Verdienst, Hyvernaud für die Bibliothek Suhrkamp entdeckt zu haben, sondern ihn auch in einem schlackenlosen, zeitgenössischen Deutsch zu präsentieren, das dem Erzähler eine manchmal schnoddrige, manchmal sarkastische, immer aber kreatürlich-glaubhafte Stimme verleiht - als beträfe das, was er von seiner Kriegsgefangenschaft berichtet, genauso uns selbst, denn es rührt an die Frage nach der condition humaine: "Täglich feilt man an seinen Vorwürfen und Abneigungen, man frischt sie auf, vervollkommnet sie. Zwangsläufig. Das kommt von diesem nach Latrine riechenden Elend, in dem wir alle durchgewalkt werden ... Man nimmt ihnen ihre Visagen übel, ihre Stimmen, ihren Geschmack und ihre Abgeschmacktheiten, den Raum, den sie einnehmen, dass sie sagen, was sie sagen, dass sie singen, was sie singen, Nietzsche, die kleine Amelie, dass sie ihre Nase hochziehen, rülpsen, existieren. Man nimmt ihnen dieses unveränderliche, unvermeidliche Leben übel, in dem unser Leben auseinanderbricht."
JAN RÖHNERT.
Georges Hyvernaud: "Haut und Knochen". Roman.
Aus dem Französischen von Julia Schoch. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 111 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Äußerst dankbar zeigt sich Rezensent Jan Röhnert der Übersetzerin und (Wieder-)Entdeckerin dieses Autors gegenüber. Das gerade, zeitgenössische Deutsch, das Julia Schoch Georges Hyvernauds kleinem Heimkehrerroman gönnt, scheint ihm angemessen, um das Existentielle der Geschichte und der Erzähler-Stimme zu transportieren: Der Mensch reduziert aufs Kreatürliche, das geht uns alle an. So jedenfalls beschreibt Röhnert seine durchweg positive Erfahrung mit einem Buch, das er einordnet in den Gegenkanon der französischen Literatur, irgendwo zwischen Sartres "Ekel" und Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Bachmannpreisträgerin Julia Schoch ... gebührt nicht nur das Verdienst, Hyvernaud für die Bibliothek Suhrkamp entdeckt zu haben, sondern ihn auch in einem schlackenlosen, zeitgenössischen Deutsch zu präsentieren, das dem Erzähler eine manchmal schnoddrige, manchmal sarkastische, immer aber kreatürlich-glaubhafte Stimme verleiht.« Jan Röhnert Frankfurter Allgemeine Zeitung 20110308