Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Christiane Schlötzer betont die Nähe des Krimis von Merle Kröger zu den aktuellen Flüchtlingsdramen, aber auch die Zeitlosigkeit der Geschichte, die Kröger erzählt. Schließlich sei der Thriller auch schon vor einiger Zeit entstanden. Die Konfrontation der verwöhnten Besatzung eines Mittelmeer-Luxusliners mit einem in Not geratenen Flüchtlingsboot inszeniert die auch als Drehbuchautorin arbeitende Kröger laut Schlötzer mit filmischen Mitteln, gestochen scharf, nah dran und aus nicht weniger als elf Perspektiven. Ein Stakkato, das laut Rezensentin mitunter klischeeartig wird. Für Schlötzer jedoch kein Problem, derart rasant und gut ausbalanciert zwischen Schonungslosigkeit und Pathos erscheinen ihr die Handlung und Krögers Ton.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.06.2015Eine Kreuzfahrt, die ist gierig
Mit vollen Segeln unter der Krimi-Flagge durchs Mittelmeer: Merle Kröger hat mit "Havarie" den Roman zur Stunde geschrieben. Mit kurzen Sätzen für komplizierte Schicksale.
Treffen sich vier Schiffe im Mittelmeer. Kann dabei derzeit nicht viel Gutes herauskommen, denn zu viele Flüchtlinge sind dort unterwegs, zu viele Tote treiben im Mare Nostrum. So auch bei Merle Kröger, die sich mit ihrem neuen, vierten Roman "Havarie" - ohne es so geplant zu haben, wie sie unlängst verriet - passgenau in die politische Großwetterlage schiebt. Der Krimi zum Flüchtlingsdrama? Oder doch Dokufiktion?
Ein Kreuzfahrtriese trifft auf ein Schlauchboot mit algerischen Flüchtlingen, ein spanischer Seenotkreuzer wird in Marsch gesetzt, ein russischer Frachter ergänzt das Ensemble unweit der Küstenstadt Cartagena. Dem Schlauchboot ist der Sprit ausgegangen, der Kreuzfahrer dagegen, der auf den zeigefingrigen Namen "Spirit of Europe" hört, hat einen kranken illegalen Syrer und noch mehr Probleme an Bord. Der Chefingenieur des Frachters "Siobhan" stammt aus der Ukraine und hat soeben einen Einberufungsbefehl zur Armee bekommen. Das Vergnügungsschiff ist per Seerecht verpflichtet zu warten, bis die Seenotretter eintreffen. Eine Unterbrechung, die, da nicht viel zu sehen ist, für die Passagiere bald langweilig wird. Man kehrt zum Bingo zurück, "Gier siegt über Neugier".
Wer vom Süden nach Norden fährt, kreuzt unweigerlich die vielbefahrenen Handelsrouten zwischen Gibraltar und dem Schwarzen Meer, und so ist das Mittelmeer ein Knotenpunkt, an dem sich die Zivilisationen und Existenzen mischen, das war schon immer so, das hat sich in der globalisierten Welt noch stärker verflochten. Sind so viele Geschichten, die sich kreuzen. Etwa jene vom indischen "Gurkha Girl", das in der Security arbeitet und dem ein möglicher Liebhaber aus der Jazzkapelle abhandenkommt - die Suche nach ihm kommt einem Krimiplot noch am nächsten. Dann ist da der algerische Schlauchbootkapitän, der unbedingt seine Geliebte in Europa finden will; auch sie ist in Gegenrichtung bereits an der spanischen Küste unterwegs. An Bord des Kreuzfahrers sind die unterschiedlichsten Figuren, jede als Träger einer Geschichte von Schuld und Verstrickung, der irische Tourist mit dem Bürgerkriegstrauma, das alte deutsche Schwesternpaar, spielsüchtig die eine, rachsüchtig die andere.
"Havarie" segelt unter Krimi-Flagge, hat sogleich mit Vehemenz den ersten Platz auf der ZEIT-Krimi-Bestenliste erklommen, was leider nicht automatisch dazu führt, auch die Bestsellerlisten zu erreichen: Dort steht eingemauert zu Hunderttausenden das Marktgängige aus der Fabrikation von Donna Leon, Martin Suter, Jussi Adler-Olson und so fort. Der Argument Verlag meldet im Fall "Havarie" eine verkaufte Auflage von 5000 Exemplaren. Merle Krögers Roman ist nach klassischer Lesart eigentlich kein Krimi; zwar gibt es zwei Tote, aber wirklich ermittelt wird nicht, an der Aufklärung eines Falles oder einem epischen Handlungsmuster ist die Autorin nicht interessiert. Die 1967 in Plön geborene Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters kommt vom Dokumentarfilm, ihr Romandebüt "Cut!" erschien vor zwölf Jahren, es folgten "Kyai!" (2007) und "Grenzfall" (2012). Sie ist Mitinhaberin einer Produktionsfirma und unterrichtet Dokumentarfilm in Halle.
Tatsächlich: Für Faktenchecker bleibt kein Wunsch offen, die umfangreiche Recherche macht sich deutlich bemerkbar und schafft auch Distanz zu vielen Konkurrenten, die mit Historie und Gelände lässiger umgehen. Am Ende des Buches stehen schwarzweiße Fotografien, die den Augenschein zu Orten und Episoden liefern. Die Methode hat Vorteile. Sie setzt die Schnitttechnik des Films ein, das beschleunigt in Tateinheit mit dem gerne genommenen historischen Präsens und Einwortsätzen ("Heute.") das Erzähltempo. Die Methode hat Nachteile. Wikipedia ist hier nie fern, etwa wenn der Ukrainer auf der "Siobhan" sich mit dauernder Internetrecherche seiner Position auf dem Globus und im Leben vergewissert: "Oran, Wahran auf Arabisch, Container- und Fährhafen, zweitgrößte Stadt in Algerien, 678 000 Einwohner, ,Die Pest' von Albert Camus spielt hier, bedeutender französischer Roman."
Literarische Ambition versagt sich die Autorin; manche passivischen Konstruktionen wirken arg hölzern ("Hier wird geschuftet und geschwitzt, Nachschub gewuchtet, Müll verschoben, Wäsche in Säcken hinter sich her gezerrt.") Schließlich lässt die Multiperspektive nur eine flüchtige Charakterisierung der Figuren zu, wirklich näher kommt man ihnen nie, zu hastig wechselt die Erzählerkamera die Position. Nach fünfundvierzig kurzen Kapiteln erlischt das Bild. Und doch funktioniert das Buch für eine schnelle, spannungsgeladene Lektüre. "Havarie" ist ein Kind seiner Zeit und bildet diese so ab, wie wir gewohnt sind, sie zu betrachten.
Ob das Buch in die Reihe jener Krimis aufsteigt, die man auch ein zweites Mal lesen kann, wird sich zeigen. Für die Gegenwart steht fest: Die beliebte Platte mit dem Dauerlamento, deutschsprachige Autoren hätten dem angloamerikanischen Markt nichts entgegenzusetzen, darf man jetzt leiser drehen. Merle Kröger hat längst den Gegenbeweis angetreten.
HANNES HINTERMEIER
Merle Kröger:
"Havarie"
Ariadne Kriminalroman.
Argument Verlag, Hamburg 2015. 256 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit vollen Segeln unter der Krimi-Flagge durchs Mittelmeer: Merle Kröger hat mit "Havarie" den Roman zur Stunde geschrieben. Mit kurzen Sätzen für komplizierte Schicksale.
Treffen sich vier Schiffe im Mittelmeer. Kann dabei derzeit nicht viel Gutes herauskommen, denn zu viele Flüchtlinge sind dort unterwegs, zu viele Tote treiben im Mare Nostrum. So auch bei Merle Kröger, die sich mit ihrem neuen, vierten Roman "Havarie" - ohne es so geplant zu haben, wie sie unlängst verriet - passgenau in die politische Großwetterlage schiebt. Der Krimi zum Flüchtlingsdrama? Oder doch Dokufiktion?
Ein Kreuzfahrtriese trifft auf ein Schlauchboot mit algerischen Flüchtlingen, ein spanischer Seenotkreuzer wird in Marsch gesetzt, ein russischer Frachter ergänzt das Ensemble unweit der Küstenstadt Cartagena. Dem Schlauchboot ist der Sprit ausgegangen, der Kreuzfahrer dagegen, der auf den zeigefingrigen Namen "Spirit of Europe" hört, hat einen kranken illegalen Syrer und noch mehr Probleme an Bord. Der Chefingenieur des Frachters "Siobhan" stammt aus der Ukraine und hat soeben einen Einberufungsbefehl zur Armee bekommen. Das Vergnügungsschiff ist per Seerecht verpflichtet zu warten, bis die Seenotretter eintreffen. Eine Unterbrechung, die, da nicht viel zu sehen ist, für die Passagiere bald langweilig wird. Man kehrt zum Bingo zurück, "Gier siegt über Neugier".
Wer vom Süden nach Norden fährt, kreuzt unweigerlich die vielbefahrenen Handelsrouten zwischen Gibraltar und dem Schwarzen Meer, und so ist das Mittelmeer ein Knotenpunkt, an dem sich die Zivilisationen und Existenzen mischen, das war schon immer so, das hat sich in der globalisierten Welt noch stärker verflochten. Sind so viele Geschichten, die sich kreuzen. Etwa jene vom indischen "Gurkha Girl", das in der Security arbeitet und dem ein möglicher Liebhaber aus der Jazzkapelle abhandenkommt - die Suche nach ihm kommt einem Krimiplot noch am nächsten. Dann ist da der algerische Schlauchbootkapitän, der unbedingt seine Geliebte in Europa finden will; auch sie ist in Gegenrichtung bereits an der spanischen Küste unterwegs. An Bord des Kreuzfahrers sind die unterschiedlichsten Figuren, jede als Träger einer Geschichte von Schuld und Verstrickung, der irische Tourist mit dem Bürgerkriegstrauma, das alte deutsche Schwesternpaar, spielsüchtig die eine, rachsüchtig die andere.
"Havarie" segelt unter Krimi-Flagge, hat sogleich mit Vehemenz den ersten Platz auf der ZEIT-Krimi-Bestenliste erklommen, was leider nicht automatisch dazu führt, auch die Bestsellerlisten zu erreichen: Dort steht eingemauert zu Hunderttausenden das Marktgängige aus der Fabrikation von Donna Leon, Martin Suter, Jussi Adler-Olson und so fort. Der Argument Verlag meldet im Fall "Havarie" eine verkaufte Auflage von 5000 Exemplaren. Merle Krögers Roman ist nach klassischer Lesart eigentlich kein Krimi; zwar gibt es zwei Tote, aber wirklich ermittelt wird nicht, an der Aufklärung eines Falles oder einem epischen Handlungsmuster ist die Autorin nicht interessiert. Die 1967 in Plön geborene Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters kommt vom Dokumentarfilm, ihr Romandebüt "Cut!" erschien vor zwölf Jahren, es folgten "Kyai!" (2007) und "Grenzfall" (2012). Sie ist Mitinhaberin einer Produktionsfirma und unterrichtet Dokumentarfilm in Halle.
Tatsächlich: Für Faktenchecker bleibt kein Wunsch offen, die umfangreiche Recherche macht sich deutlich bemerkbar und schafft auch Distanz zu vielen Konkurrenten, die mit Historie und Gelände lässiger umgehen. Am Ende des Buches stehen schwarzweiße Fotografien, die den Augenschein zu Orten und Episoden liefern. Die Methode hat Vorteile. Sie setzt die Schnitttechnik des Films ein, das beschleunigt in Tateinheit mit dem gerne genommenen historischen Präsens und Einwortsätzen ("Heute.") das Erzähltempo. Die Methode hat Nachteile. Wikipedia ist hier nie fern, etwa wenn der Ukrainer auf der "Siobhan" sich mit dauernder Internetrecherche seiner Position auf dem Globus und im Leben vergewissert: "Oran, Wahran auf Arabisch, Container- und Fährhafen, zweitgrößte Stadt in Algerien, 678 000 Einwohner, ,Die Pest' von Albert Camus spielt hier, bedeutender französischer Roman."
Literarische Ambition versagt sich die Autorin; manche passivischen Konstruktionen wirken arg hölzern ("Hier wird geschuftet und geschwitzt, Nachschub gewuchtet, Müll verschoben, Wäsche in Säcken hinter sich her gezerrt.") Schließlich lässt die Multiperspektive nur eine flüchtige Charakterisierung der Figuren zu, wirklich näher kommt man ihnen nie, zu hastig wechselt die Erzählerkamera die Position. Nach fünfundvierzig kurzen Kapiteln erlischt das Bild. Und doch funktioniert das Buch für eine schnelle, spannungsgeladene Lektüre. "Havarie" ist ein Kind seiner Zeit und bildet diese so ab, wie wir gewohnt sind, sie zu betrachten.
Ob das Buch in die Reihe jener Krimis aufsteigt, die man auch ein zweites Mal lesen kann, wird sich zeigen. Für die Gegenwart steht fest: Die beliebte Platte mit dem Dauerlamento, deutschsprachige Autoren hätten dem angloamerikanischen Markt nichts entgegenzusetzen, darf man jetzt leiser drehen. Merle Kröger hat längst den Gegenbeweis angetreten.
HANNES HINTERMEIER
Merle Kröger:
"Havarie"
Ariadne Kriminalroman.
Argument Verlag, Hamburg 2015. 256 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die fiktive Geschichte einer schicksalhaften Begegnung auf dem Meer, erzählt aus der Perspektive von elf Menschen aus aller Welt. In ihrem fesselnden, elegant konstruierten Roman meistert Merle Kröger den Spagat zwischen Realität und Fiktion. Wer ihn liest, wird in Zukunft genauer hinschauen – und vielleicht auch die Menschen hinter den Nachrichtenbildern näher an sich heranlassen.« ARD, Titel Thesen Temperamente (Yasemin Ergin)