Die Wissenschaft der Logik, laut Brecht "eines der größten humoristischen Werke der Weltliteratur", ist das dunkle Herz des Hegel'schen Systems. Während Hegel seit einiger Zeit mit seiner Rechtsphilosophie oder auch der Phänomenologie in die intellektuelle Debatte der Gegenwart zurückgekehrt ist, bleibt seine Logik ein ungelesenes Hauptwerk der Philosophiegeschichte. So wartet dieses schwer zu durchdringende, kolossale Werk in unseren Tagen immer noch auf eine öffnende Neulektüre jenseits der Fachwelt. Patrick Eiden-Offe hat sich dem Exerzitium unterworfen, die Logik jeden Morgen eine Stunde zu studieren, konsequent von Anfang bis Ende. Er hat mit und in dem Buch überraschende und berührende Erfahrungen gemacht, die bei der bloßen Aneignung durch die Sekundärliteratur entgehen. Dabei hat er einen Hegel entdeckt, dessen radikales Denken zu einer ganz eigenen, hermetischen Sprache drängt, die allenfalls noch mit der Hölderlins vergleich bar ist; einen Hegel, der der Sache selbst "auf den Grund gehen" will und dann bloß noch protokollieren kann, wie sie "zugrunde geht". Und einen Hegel, dessen Philosophie Züge eines abgründigen Humors trägt. Das Lesen der Logik wird zu einem Selbstversuch, ebenso wie das Schreiben darüber. Am Ende erscheint Die Wissenschaft der Logik selbst als ein Essay, dem als Trostbuch der modernen Seele für unsere Tage unbedingte Aktualität zukommt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.02.2021Die Wahrheit
ohne Hülle
Kann man Hegels „Logik“ als Laie mit Gewinn lesen?
Wenn keiner mehr da ist, um ein Experiment durchzuführen, weil es zu gefährlich, zu abwegig oder sonstwie verfehlt erscheint, tritt der Selbstversucher auf den Plan. Am eigenen Leib oder am eigenen Kopf will er demonstrieren, dass mehr Vernunft in der zu prüfenden Sache liegt, als es den Anschein hat. Mit einem solchen Anspruch setzte sich der Naturforscher Johann Wilhelm Ritter, ein guter Bekannter Goethes, selbst unter elektrischen Strom. Er bezahlte seine Neugier mit einem frühen Tod. Sigmund Freud erschloss sich die Psychoanalyse, indem er sich dem eigenen Leben zuwandte. Auch die Wirksamkeit des Halluzinogens LSD wurde zuerst in einem Selbstversuch ermittelt. In der populären Kultur schließlich gibt es, vom Grünen Kobold bis zu Hulk, genialische Gestalten zuhauf, denen der experimentelle Eifer zur persönlichen Metamorphose gerät.
Im vergangenen Herbst waren 250 Jahre vergangen, seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren wurde, nicht der unzugänglichste, aber der anspruchsvollste unter den deutschen Philosophen. Der Ertrag dieses Jubiläums war vor allem biografisch. In welche Welt er geriet, wie er sie veränderte und was davon übrig blieb: So lauteten die Fragen, mit denen sich eine vor allem historisierende Kritik auseinandersetzte. Ob und was man von Hegel lernen könne, diese Frage spielte eine allenfalls untergeordnete Rolle.
Einer solchen, grundsätzlich relativierenden Lektüre stellt sich nun der Berliner Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe entgegen, in Gestalt eben eines „Selbstversuchs“. Ein halbes Jahr, vom Herbst 2018 bis zum Frühjahr 2019, verbrachte er jeden Morgen eine Stunde damit, Satz für Satz das Buch zu lesen, das als das schwierigste unter den Werken des Philosophen gilt: die „Wissenschaft der Logik“, zuerst erschienen in den Jahren zwischen 1812 und 1816. Ein „Selbstversuch“ sollte diese Lektüre auch insofern sein, als Patrick Eiden-Offe nur wenig Sekundärliteratur benutzte. Gelten sollte, was geschrieben stand und von einem mehr oder minder unbefangenen Leser verstanden werden konnte.
Zu einem Selbstversuch gehört Wagemut. Warum aber sollte die Lektüre einer philosophischen Schrift besondere Kühnheit erfordern? Sie tut es in diesem Fall tatsächlich, und zwar in dem Maße, in dem sie die Wissenschaft von der Wissenschaft sein will. Die „Logik“, hatte Hegel über sein Werk geschrieben, sei „die Wahrheit wie sie ohne Hülle an und für sich ist“. Sie bestehe aus den „Gedanken Gottes“. Der Entfaltung dieses Anspruchs widmet Hegel 800 Seiten, Schritt für Schritt und Gedanke für Gedanke. Die im modernen Wissenschaftsbetrieb geläufige Vorstellung, er habe eine „Methode“ entwickelt, die neben anderen Methoden zu prüfen sei, hält er für eine intellektuelle Zumutung.
Dem Leser bleiben daher nur zwei Möglichkeiten mit der „Logik“: Entweder er verweigert die Beschäftigung und erklärt sie zu einem gigantischen Humbug. Karl Popper propagierte einen solchen Umgang mit Hegel. Oder er lässt sich auf den Gang der Gedanken ein. Vielleicht findet er Fehler, gravierende Mängel in der Argumentation, innere Widersprüche, Auslassungen und Lücken. Findet er sie nicht, muss er etwas tun, was in einem pluralistisch verfassten Wissenschaftsbetrieb nicht vorgesehen ist, um den Preis, zu einem Grünen Kobold des akademischen Lebens zu werden: Er muss ein philosophisches System als wahr anerkennen.
So weit treibt Patrick Eiden-Offe seinen „Selbstversuch“ nicht. Er liest und tut, was man vor der Erfindung von Kopierern und Textverarbeitungsprogrammen tat, wenn man sich einen Text aneignen wollte: Er exzerpiert. Er fasst in eigene Worte. Er zieht aktuelle Vergleiche. Und weil er selbständig arbeitet, ohne stets die Geschichte der Philosophie oder den Stand der Diskussion innerhalb der Disziplin im Sinn zu haben, werden seine Darlegungen zugänglicher, als sie zum Beispiel in Pirmin Stekelers monumentalem Kommentar zur „Logik“ (2019/2020) zu haben sind.
Zudem lässt er einsichtig werden, welchen Anteil die deutsche Sprache an den Eigenarten der Hegel’schen Philosophie hat (in einzelnen Wörtern wie „urteilen“ oder „aufheben“, aber auch etwa durch die Dehnbarkeit der Syntax). Und schließlich verlieren große Vokabeln wie die „Gedanken Gottes“ oder das „absolute Wissen“, weil in den Gang der Argumentation aufgelöst, ihre scheinbare Monstrosität. Der „Selbstversuch“ Patrick Eiden-Offes verwandelt sich so in ein didaktisches Unternehmen, zum Vorteil des Lesers.
Man folgt ihm gern, dem Selbstversucher, wenn er sich auf die Spur eines romantischen Irrtums, nämlich der „schlechten Unendlichkeit“, begibt, wenn er den unvermeidlichen Mangel der Teilung von Wissenschaft in einzelne Disziplinen aufdeckt, oder wenn er Begriff, Urteil und Schluss auseinanderlegt. Misstrauisch aber wird man, wenn aus dem Ineinander des „Singulären“ („dieser Mensch“) und des „Allgemeinen“ („ein Mensch“) eine „universelle Gleichheit“ abgeleitet werden soll. Hegels bekannte Absicht, „Wahrheit und Größe des preußischen Staates“ philosophisch zu begründen, erfährt an diesem Punkt eine befremdliche Variation.
Und ein großer Zweifel stellt sich ein, wenn Patrick Eiden-Offe den Umstand, dass Hegel keine Ethik verfasste (eine „Altklugheit des Sollens“, wie er meinte), dazu benutzt, die „Logik“ in eine Ethik des „Vorwärtsdrängens, Zurückkommens und Wiederbeginnens“, also in etwas grundsätzlich Offenes zu verwandeln: Als ob die finale Pointe dieser Lehre nicht darin bestünde, dass die Welt und ihr Begriff zusammenfallen, weil sie ganz und gar in Gedanken „aufgehoben“ seien. Hier, so scheint es, soll Hegels Lehre eine Aktualität gewinnen, die sich zwar in eine moderne Geistes- oder Kulturwissenschaft fügen könnte, die aber der „Logik“ nicht angemessen ist.
Die Lektüre der „Logik“ stellt, daran lässt auch Patrick Eiden-Offe keinen Zweifel, eine große Anstrengung dar, auf die sich weitaus mehr Kraft verwenden ließe, als ein Exerzitium von einer Stunde täglich während eines halben Jahres verlangt. Warum aber unterwirft man sich einer solchen Übung? Hegels Denken ist schließlich auch in seiner Rechtsphilosophie, in seiner Enzyklopädie oder in seiner Ästhetik gegenwärtig, und der systematische Verzicht auf Konkretion dient gewiss nicht der besseren Verständlichkeit.
Trotzdem liegt in der „Logik“ – zumindest potenziell – ein praktischer Nutzen: Er tritt immer dann ein, wenn sich die Schrift zur Wissens- oder Wissenschaftskritik verwenden lässt. Hegel selbst setzt in der „Logik“ Kants Theorie der Erkenntnis in einer Weise zu, die es auch hartnäckigen Pluralisten schwer machen dürfte, es bei einer historischen Einordnung dieser Lehre bewenden zu lassen. Dabei geht es um die beliebte Behauptung, was wahr sei, entziehe sich aller Erkenntnis: also um einen Gedanken, der sich selbst für das Endgültige erklärt, das er allen anderen Gedanken abspricht. Für eine solche Widerlegung bedarf es keiner Anschauung.
In der „Logik“ finden sich viele solcher Argumente. Sie gelten den elementaren Operationen des Denkens, also der Frage, was ein „Grund“ im Unterschied zu einer „Ursache“ sei, warum ein Argumentieren in „Bedingungen“ oder „Möglichkeiten“ nicht zur Erklärung eines Gegenstands tauge, oder was sich mit Vergleichen anstellen lasse. Und weil das so ist, wünscht man sich eine Fortsetzung dieses „Selbstversuchs“, bei dem der Versucher nicht länger allein ist.
THOMAS STEINFELD
Trotz aller Abstraktheit liegt
ein zeitloser praktischer
Nutzen in der „Logik“
Patrick Eiden-Offe:
Hegels ‚Logik‘ lesen.
Ein Selbstversuch.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
256 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ohne Hülle
Kann man Hegels „Logik“ als Laie mit Gewinn lesen?
Wenn keiner mehr da ist, um ein Experiment durchzuführen, weil es zu gefährlich, zu abwegig oder sonstwie verfehlt erscheint, tritt der Selbstversucher auf den Plan. Am eigenen Leib oder am eigenen Kopf will er demonstrieren, dass mehr Vernunft in der zu prüfenden Sache liegt, als es den Anschein hat. Mit einem solchen Anspruch setzte sich der Naturforscher Johann Wilhelm Ritter, ein guter Bekannter Goethes, selbst unter elektrischen Strom. Er bezahlte seine Neugier mit einem frühen Tod. Sigmund Freud erschloss sich die Psychoanalyse, indem er sich dem eigenen Leben zuwandte. Auch die Wirksamkeit des Halluzinogens LSD wurde zuerst in einem Selbstversuch ermittelt. In der populären Kultur schließlich gibt es, vom Grünen Kobold bis zu Hulk, genialische Gestalten zuhauf, denen der experimentelle Eifer zur persönlichen Metamorphose gerät.
Im vergangenen Herbst waren 250 Jahre vergangen, seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren wurde, nicht der unzugänglichste, aber der anspruchsvollste unter den deutschen Philosophen. Der Ertrag dieses Jubiläums war vor allem biografisch. In welche Welt er geriet, wie er sie veränderte und was davon übrig blieb: So lauteten die Fragen, mit denen sich eine vor allem historisierende Kritik auseinandersetzte. Ob und was man von Hegel lernen könne, diese Frage spielte eine allenfalls untergeordnete Rolle.
Einer solchen, grundsätzlich relativierenden Lektüre stellt sich nun der Berliner Literaturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe entgegen, in Gestalt eben eines „Selbstversuchs“. Ein halbes Jahr, vom Herbst 2018 bis zum Frühjahr 2019, verbrachte er jeden Morgen eine Stunde damit, Satz für Satz das Buch zu lesen, das als das schwierigste unter den Werken des Philosophen gilt: die „Wissenschaft der Logik“, zuerst erschienen in den Jahren zwischen 1812 und 1816. Ein „Selbstversuch“ sollte diese Lektüre auch insofern sein, als Patrick Eiden-Offe nur wenig Sekundärliteratur benutzte. Gelten sollte, was geschrieben stand und von einem mehr oder minder unbefangenen Leser verstanden werden konnte.
Zu einem Selbstversuch gehört Wagemut. Warum aber sollte die Lektüre einer philosophischen Schrift besondere Kühnheit erfordern? Sie tut es in diesem Fall tatsächlich, und zwar in dem Maße, in dem sie die Wissenschaft von der Wissenschaft sein will. Die „Logik“, hatte Hegel über sein Werk geschrieben, sei „die Wahrheit wie sie ohne Hülle an und für sich ist“. Sie bestehe aus den „Gedanken Gottes“. Der Entfaltung dieses Anspruchs widmet Hegel 800 Seiten, Schritt für Schritt und Gedanke für Gedanke. Die im modernen Wissenschaftsbetrieb geläufige Vorstellung, er habe eine „Methode“ entwickelt, die neben anderen Methoden zu prüfen sei, hält er für eine intellektuelle Zumutung.
Dem Leser bleiben daher nur zwei Möglichkeiten mit der „Logik“: Entweder er verweigert die Beschäftigung und erklärt sie zu einem gigantischen Humbug. Karl Popper propagierte einen solchen Umgang mit Hegel. Oder er lässt sich auf den Gang der Gedanken ein. Vielleicht findet er Fehler, gravierende Mängel in der Argumentation, innere Widersprüche, Auslassungen und Lücken. Findet er sie nicht, muss er etwas tun, was in einem pluralistisch verfassten Wissenschaftsbetrieb nicht vorgesehen ist, um den Preis, zu einem Grünen Kobold des akademischen Lebens zu werden: Er muss ein philosophisches System als wahr anerkennen.
So weit treibt Patrick Eiden-Offe seinen „Selbstversuch“ nicht. Er liest und tut, was man vor der Erfindung von Kopierern und Textverarbeitungsprogrammen tat, wenn man sich einen Text aneignen wollte: Er exzerpiert. Er fasst in eigene Worte. Er zieht aktuelle Vergleiche. Und weil er selbständig arbeitet, ohne stets die Geschichte der Philosophie oder den Stand der Diskussion innerhalb der Disziplin im Sinn zu haben, werden seine Darlegungen zugänglicher, als sie zum Beispiel in Pirmin Stekelers monumentalem Kommentar zur „Logik“ (2019/2020) zu haben sind.
Zudem lässt er einsichtig werden, welchen Anteil die deutsche Sprache an den Eigenarten der Hegel’schen Philosophie hat (in einzelnen Wörtern wie „urteilen“ oder „aufheben“, aber auch etwa durch die Dehnbarkeit der Syntax). Und schließlich verlieren große Vokabeln wie die „Gedanken Gottes“ oder das „absolute Wissen“, weil in den Gang der Argumentation aufgelöst, ihre scheinbare Monstrosität. Der „Selbstversuch“ Patrick Eiden-Offes verwandelt sich so in ein didaktisches Unternehmen, zum Vorteil des Lesers.
Man folgt ihm gern, dem Selbstversucher, wenn er sich auf die Spur eines romantischen Irrtums, nämlich der „schlechten Unendlichkeit“, begibt, wenn er den unvermeidlichen Mangel der Teilung von Wissenschaft in einzelne Disziplinen aufdeckt, oder wenn er Begriff, Urteil und Schluss auseinanderlegt. Misstrauisch aber wird man, wenn aus dem Ineinander des „Singulären“ („dieser Mensch“) und des „Allgemeinen“ („ein Mensch“) eine „universelle Gleichheit“ abgeleitet werden soll. Hegels bekannte Absicht, „Wahrheit und Größe des preußischen Staates“ philosophisch zu begründen, erfährt an diesem Punkt eine befremdliche Variation.
Und ein großer Zweifel stellt sich ein, wenn Patrick Eiden-Offe den Umstand, dass Hegel keine Ethik verfasste (eine „Altklugheit des Sollens“, wie er meinte), dazu benutzt, die „Logik“ in eine Ethik des „Vorwärtsdrängens, Zurückkommens und Wiederbeginnens“, also in etwas grundsätzlich Offenes zu verwandeln: Als ob die finale Pointe dieser Lehre nicht darin bestünde, dass die Welt und ihr Begriff zusammenfallen, weil sie ganz und gar in Gedanken „aufgehoben“ seien. Hier, so scheint es, soll Hegels Lehre eine Aktualität gewinnen, die sich zwar in eine moderne Geistes- oder Kulturwissenschaft fügen könnte, die aber der „Logik“ nicht angemessen ist.
Die Lektüre der „Logik“ stellt, daran lässt auch Patrick Eiden-Offe keinen Zweifel, eine große Anstrengung dar, auf die sich weitaus mehr Kraft verwenden ließe, als ein Exerzitium von einer Stunde täglich während eines halben Jahres verlangt. Warum aber unterwirft man sich einer solchen Übung? Hegels Denken ist schließlich auch in seiner Rechtsphilosophie, in seiner Enzyklopädie oder in seiner Ästhetik gegenwärtig, und der systematische Verzicht auf Konkretion dient gewiss nicht der besseren Verständlichkeit.
Trotzdem liegt in der „Logik“ – zumindest potenziell – ein praktischer Nutzen: Er tritt immer dann ein, wenn sich die Schrift zur Wissens- oder Wissenschaftskritik verwenden lässt. Hegel selbst setzt in der „Logik“ Kants Theorie der Erkenntnis in einer Weise zu, die es auch hartnäckigen Pluralisten schwer machen dürfte, es bei einer historischen Einordnung dieser Lehre bewenden zu lassen. Dabei geht es um die beliebte Behauptung, was wahr sei, entziehe sich aller Erkenntnis: also um einen Gedanken, der sich selbst für das Endgültige erklärt, das er allen anderen Gedanken abspricht. Für eine solche Widerlegung bedarf es keiner Anschauung.
In der „Logik“ finden sich viele solcher Argumente. Sie gelten den elementaren Operationen des Denkens, also der Frage, was ein „Grund“ im Unterschied zu einer „Ursache“ sei, warum ein Argumentieren in „Bedingungen“ oder „Möglichkeiten“ nicht zur Erklärung eines Gegenstands tauge, oder was sich mit Vergleichen anstellen lasse. Und weil das so ist, wünscht man sich eine Fortsetzung dieses „Selbstversuchs“, bei dem der Versucher nicht länger allein ist.
THOMAS STEINFELD
Trotz aller Abstraktheit liegt
ein zeitloser praktischer
Nutzen in der „Logik“
Patrick Eiden-Offe:
Hegels ‚Logik‘ lesen.
Ein Selbstversuch.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
256 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Christoph Menke bewundert Patrick Eiden-Offe für seinen Selbstversuch mit Hegels Logik. Für Menke riskiert der Autor damit nicht wenig, nämlich denkend beim Erkunden des Denkens abzustürzen, weil die Dialektik zwischen Erzählung und Kritik ein so "schmaler Grat ist". Für Menke aber bietet die Übung alleine schon den Gewinn einer meditativen Praxis sowie die Chance, der Denkfaulheit zu entkommen. Zudem erweist sich Hegels Logik mit Eiden-Offe als großer Spaß, staunt Menke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2021Im Spiel der Sprache kommen Begriffe in Bewegung
Nichts bleibt halt, was es gewesen ist: Patrick Eiden-Offe unterwirft sich auf lehrreiche Weise dem Exerzitium der Lektüre von Hegels "Logik"
Warum soll man Hegel lesen? Und wenn schon Hegel, warum dann seine "Wissenschaft der Logik", Hegels zweites großes Buch, das doch nur das Schattenreich des "reinen Gedankens" enthalten soll? Warum haben Lenin am Anfang des Ersten Weltkriegs und Brecht nach Hitlers Machtergreifung, in "finsteren Zeiten", abgeschnitten von jeder Aussicht auf veränderndes Handeln, ausgerechnet Hegels "Logik" gelesen? Was haben sie davon gehabt, sich einem Buch auszusetzen, in dem man nach dem Eingeständnis Adornos, einem anderen Leser der "Logik", zuweilen keine Ahnung hat, wovon überhaupt die Rede ist?
Patrick Eiden-Offe berichtet von einem "Selbstversuch", der, wie jeder Versuch, in dem es auf etwas ankommt, einer Regel (und der Disziplin ihrer Einhaltung) bedurfte: "Tag für Tag eine Stunde in der Früh" wollte er Hegels "Logik" lesen. Das heißt, sie "wirklich lesen", also nicht, um am Ende etwas über Hegel zu wissen, sondern um sein Vorwissen zu vergessen und sich, wie in einer meditativen Praxis, zu üben. Hegels "Logik" lesen heißt, sich im Denken zu üben. Es folgt demselben Antrieb, der alle paar Jahre die geistig Wachen dazu bringt, die neuesten angesagten Meisterdenker - und immer öfter auch Meisterdenkerinnen - zu studieren. Wie in der Lust an der Mode geht es im Lesen der "Logik" um Beweglichkeit im Denken, um Übungen gegen die grassierende "Denkfaulheit", die sich auf Standpunkte, Methoden und Werte verlässt.
Hegels "Logik" übt ins Denken ein, weil sie, wie Eiden-Offe mit Brecht sagt, die "Lebensweise der Begriffe" untersucht. Sie zeigt deren Instabilität, ihre Schlüpfrigkeit: die Komödie ihrer Zwiste, ihrer Paarungen, ihrer Zeugungen und deren abermalige Entzweiungen, Verbindungen und Entgegensetzungen. Hegels "Logik", so will Eiden-Offe mit Brecht zeigen, ist eines der "größten humoristischen Werke der Weltliteratur". Das ist sie gerade deshalb, weil sie, wie Hegel allen Ernstes in der Einleitung verkündet, die "Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist". Denn wenn die Logik die Beweglichkeit der Begriffe entfaltet, geht es ihr nicht um die verbreitete Ansicht, dass alle Begriffe in ihrem Inhalt geschichtlich, kontextuell, relativ und daher veränderlich sind. Es geht in der Logik gar nicht darum, was Begriffe sagen, sondern wie sie sind; es geht um ihre Form. Dialektik heißt: Die Form der Begriffe, nicht erst ihr Inhalt, ist in Bewegung. Die Logik will zeigen, dass wir im Denken, gleichgültig, worum es geht, in allgemeinen Strukturen denken, die aber unser Denken nicht determinieren, sondern die sich im Denken selbst verändern. Denken ist nicht Denken in vorgegebenen Formen, sondern Denken heißt, die Formen des Denkens im Denken zu verändern.
Eiden-Offe zeigt das in exemplarischen Lektüren, die genau und dabei gut verständlich sind. Er zeigt etwa, wie ich nach Hegel damit beginne, mein Denken so zu verstehen, dass ich Etwas denke; wie ich dann verstehe, dass ich Etwas nur denken kann, wenn ich etwas Anderes (und das Etwas als das Andere des Anderen) denke; dass ich dann aber nur erst seine Grenze gedacht habe und daher weitergehen muss (oder "soll"); wie dieses Weitergehen mich vom Etwas unendlich wegführt; dass dieses unendliche Hinausgehen über das Etwas aber vielleicht gerade das Etwas selbst ist (das dann aber einen neuen Namen braucht: Fürsichsein), und so fort. Indem Eiden-Offe das vorführt, interessiert ihn aber immer, wie man diese Formen verändernde Bewegung des Denkens selbst zu denken hat. Folgt sie einer Methode? Was ist mit dem berüchtigten dialektischen Dreischritt, und warum hat Hegel selbst gesagt, dass, wer richtig zähle, nicht auf drei, sondern vier Schritte komme? Und was heißt das für den Anfang und das Ende des Denkens: Wie kann es sie überhaupt geben?
Vor allem aber: Welche Rolle spielt die Sprache dabei, deren Einfällen und Wendungen sich Hegel immer wieder überlässt und deren schriftliche Mittel, bis zu den Satzzeichen, er virtuos (und immer bedeutsam) handhabt? Diese Frage führt ins Zentrum von Eiden-Offes Selbstversuch. Es ist die Frage, wie es jene Veränderungen in der Form der Begriffe, die die "Logik" vorführt, gibt. Die eine Antwort ist, dass sich die Form von selbst, im Spielen der Sprache, ändert, die andere Antwort, dass wir sie ändern müssen, durch unseren Akt des Denkens. Nach der ersten Antwort können wir uns darauf verlassen (und wie Eiden-Offe am Schluss sagt, in finsteren Zeiten damit trösten), dass nichts bleibt, wie es ist - dass alles, selbst die logischen Formen des Denkens, sich immer wieder und weiter verändern. Nach der zweiten Antwort müssen wir dies selbst tun: Wir müssen durch unser Denken die Dinge allererst veränderbar machen, ihre Veränderbarkeit selbst hervorbringen. Dann fiele auch der Trost, dass die Dinge veränderlich sind, dem Denken erst zu, wenn es den Mut gehabt hat, selbst die Veränderung seiner Formen zu unternehmen.
Man kann Eiden-Offes dialektische Übung so verstehen, dass auch an dieser letzten oder höchsten Stelle beide Antworten gegeben werden müssen: dass also der Widerspruch nicht aufgelöst werden kann, der das Anders-Werden und das Anders-Machen, das Erkennen und das Tun, die Ideen des Wahren und des Guten vereint, indem er sie trennt. Die "Sache", so zitiert Eiden-Offe Hegel, ist "in sich gebrochen in ihr Sollen und ihr Seyn". Man kann das, was uns im Denken geschieht (weil es von selbst geschieht), nicht gegen das ausspielen, was wir selbst im Denken tun, und das, was wir im Denken selbst tun, nicht gegen das, was uns im Denken geschieht. Am Anfang wie am Ende der Logik geht es, so zeigt Eiden-Offe in pointierten Deutungen, vielmehr genau darum, wie das eine aus dem anderen hervorgeht und wieder in es umschlägt.
Indem Eiden-Offes Lektüre diese Perspektive entfaltet, balanciert sie auf einem äußerst schmalen Grat. Es ist der Grat zwischen einem Denken, das hinnimmt, wie es ist, und einem Denken, das eingreift und verändert. Auf der eine Seite stehen Erzählung, Kontingenz, Evolution, Schicksal, auf der anderen Seite Kritik, Tat, Revolution, Fortschritt: die Entgegensetzungen der Gegenwart, "nach der Postmoderne". Es ist nicht immer klar, ob Eiden-Offe bei seinem Balanceakt nicht abstürzt. Aber das kann auch gar nicht klar und eindeutig sein. Die Dialektik, in die er sich und seine Leser einüben will, kann nur gelingen, wenn sie das Risiko des Scheiterns auf sich nimmt.
CHRISTOPH MENKE
Patrick Eiden-Offe:
"Hegels Logik lesen".
Ein Selbstversuch.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2020. 250 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nichts bleibt halt, was es gewesen ist: Patrick Eiden-Offe unterwirft sich auf lehrreiche Weise dem Exerzitium der Lektüre von Hegels "Logik"
Warum soll man Hegel lesen? Und wenn schon Hegel, warum dann seine "Wissenschaft der Logik", Hegels zweites großes Buch, das doch nur das Schattenreich des "reinen Gedankens" enthalten soll? Warum haben Lenin am Anfang des Ersten Weltkriegs und Brecht nach Hitlers Machtergreifung, in "finsteren Zeiten", abgeschnitten von jeder Aussicht auf veränderndes Handeln, ausgerechnet Hegels "Logik" gelesen? Was haben sie davon gehabt, sich einem Buch auszusetzen, in dem man nach dem Eingeständnis Adornos, einem anderen Leser der "Logik", zuweilen keine Ahnung hat, wovon überhaupt die Rede ist?
Patrick Eiden-Offe berichtet von einem "Selbstversuch", der, wie jeder Versuch, in dem es auf etwas ankommt, einer Regel (und der Disziplin ihrer Einhaltung) bedurfte: "Tag für Tag eine Stunde in der Früh" wollte er Hegels "Logik" lesen. Das heißt, sie "wirklich lesen", also nicht, um am Ende etwas über Hegel zu wissen, sondern um sein Vorwissen zu vergessen und sich, wie in einer meditativen Praxis, zu üben. Hegels "Logik" lesen heißt, sich im Denken zu üben. Es folgt demselben Antrieb, der alle paar Jahre die geistig Wachen dazu bringt, die neuesten angesagten Meisterdenker - und immer öfter auch Meisterdenkerinnen - zu studieren. Wie in der Lust an der Mode geht es im Lesen der "Logik" um Beweglichkeit im Denken, um Übungen gegen die grassierende "Denkfaulheit", die sich auf Standpunkte, Methoden und Werte verlässt.
Hegels "Logik" übt ins Denken ein, weil sie, wie Eiden-Offe mit Brecht sagt, die "Lebensweise der Begriffe" untersucht. Sie zeigt deren Instabilität, ihre Schlüpfrigkeit: die Komödie ihrer Zwiste, ihrer Paarungen, ihrer Zeugungen und deren abermalige Entzweiungen, Verbindungen und Entgegensetzungen. Hegels "Logik", so will Eiden-Offe mit Brecht zeigen, ist eines der "größten humoristischen Werke der Weltliteratur". Das ist sie gerade deshalb, weil sie, wie Hegel allen Ernstes in der Einleitung verkündet, die "Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist". Denn wenn die Logik die Beweglichkeit der Begriffe entfaltet, geht es ihr nicht um die verbreitete Ansicht, dass alle Begriffe in ihrem Inhalt geschichtlich, kontextuell, relativ und daher veränderlich sind. Es geht in der Logik gar nicht darum, was Begriffe sagen, sondern wie sie sind; es geht um ihre Form. Dialektik heißt: Die Form der Begriffe, nicht erst ihr Inhalt, ist in Bewegung. Die Logik will zeigen, dass wir im Denken, gleichgültig, worum es geht, in allgemeinen Strukturen denken, die aber unser Denken nicht determinieren, sondern die sich im Denken selbst verändern. Denken ist nicht Denken in vorgegebenen Formen, sondern Denken heißt, die Formen des Denkens im Denken zu verändern.
Eiden-Offe zeigt das in exemplarischen Lektüren, die genau und dabei gut verständlich sind. Er zeigt etwa, wie ich nach Hegel damit beginne, mein Denken so zu verstehen, dass ich Etwas denke; wie ich dann verstehe, dass ich Etwas nur denken kann, wenn ich etwas Anderes (und das Etwas als das Andere des Anderen) denke; dass ich dann aber nur erst seine Grenze gedacht habe und daher weitergehen muss (oder "soll"); wie dieses Weitergehen mich vom Etwas unendlich wegführt; dass dieses unendliche Hinausgehen über das Etwas aber vielleicht gerade das Etwas selbst ist (das dann aber einen neuen Namen braucht: Fürsichsein), und so fort. Indem Eiden-Offe das vorführt, interessiert ihn aber immer, wie man diese Formen verändernde Bewegung des Denkens selbst zu denken hat. Folgt sie einer Methode? Was ist mit dem berüchtigten dialektischen Dreischritt, und warum hat Hegel selbst gesagt, dass, wer richtig zähle, nicht auf drei, sondern vier Schritte komme? Und was heißt das für den Anfang und das Ende des Denkens: Wie kann es sie überhaupt geben?
Vor allem aber: Welche Rolle spielt die Sprache dabei, deren Einfällen und Wendungen sich Hegel immer wieder überlässt und deren schriftliche Mittel, bis zu den Satzzeichen, er virtuos (und immer bedeutsam) handhabt? Diese Frage führt ins Zentrum von Eiden-Offes Selbstversuch. Es ist die Frage, wie es jene Veränderungen in der Form der Begriffe, die die "Logik" vorführt, gibt. Die eine Antwort ist, dass sich die Form von selbst, im Spielen der Sprache, ändert, die andere Antwort, dass wir sie ändern müssen, durch unseren Akt des Denkens. Nach der ersten Antwort können wir uns darauf verlassen (und wie Eiden-Offe am Schluss sagt, in finsteren Zeiten damit trösten), dass nichts bleibt, wie es ist - dass alles, selbst die logischen Formen des Denkens, sich immer wieder und weiter verändern. Nach der zweiten Antwort müssen wir dies selbst tun: Wir müssen durch unser Denken die Dinge allererst veränderbar machen, ihre Veränderbarkeit selbst hervorbringen. Dann fiele auch der Trost, dass die Dinge veränderlich sind, dem Denken erst zu, wenn es den Mut gehabt hat, selbst die Veränderung seiner Formen zu unternehmen.
Man kann Eiden-Offes dialektische Übung so verstehen, dass auch an dieser letzten oder höchsten Stelle beide Antworten gegeben werden müssen: dass also der Widerspruch nicht aufgelöst werden kann, der das Anders-Werden und das Anders-Machen, das Erkennen und das Tun, die Ideen des Wahren und des Guten vereint, indem er sie trennt. Die "Sache", so zitiert Eiden-Offe Hegel, ist "in sich gebrochen in ihr Sollen und ihr Seyn". Man kann das, was uns im Denken geschieht (weil es von selbst geschieht), nicht gegen das ausspielen, was wir selbst im Denken tun, und das, was wir im Denken selbst tun, nicht gegen das, was uns im Denken geschieht. Am Anfang wie am Ende der Logik geht es, so zeigt Eiden-Offe in pointierten Deutungen, vielmehr genau darum, wie das eine aus dem anderen hervorgeht und wieder in es umschlägt.
Indem Eiden-Offes Lektüre diese Perspektive entfaltet, balanciert sie auf einem äußerst schmalen Grat. Es ist der Grat zwischen einem Denken, das hinnimmt, wie es ist, und einem Denken, das eingreift und verändert. Auf der eine Seite stehen Erzählung, Kontingenz, Evolution, Schicksal, auf der anderen Seite Kritik, Tat, Revolution, Fortschritt: die Entgegensetzungen der Gegenwart, "nach der Postmoderne". Es ist nicht immer klar, ob Eiden-Offe bei seinem Balanceakt nicht abstürzt. Aber das kann auch gar nicht klar und eindeutig sein. Die Dialektik, in die er sich und seine Leser einüben will, kann nur gelingen, wenn sie das Risiko des Scheiterns auf sich nimmt.
CHRISTOPH MENKE
Patrick Eiden-Offe:
"Hegels Logik lesen".
Ein Selbstversuch.
Matthes & Seitz Verlag,
Berlin 2020. 250 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main