Vor 200 Jahren erschien Hegels "Phänomenologie des Geistes", die zu einem Schlüsseltext der modernen Philosophie wurde. Der Band würdigt den Gang der "Phänomenologie des Geistes" in seiner Gesamtheit und legt einen kooperativen Kommentar dieses Jahrtausendwerkes vor mit dem Ziel, Hegels Entdeckungsreise ins Wissen in ihren entscheidenden Wegstrecken nachzuzeichnen und ihre Bedeutung für die zeitgenössische Philosophie herauszuarbeiten. Die Beiträge international ausgewiesener Hegel-Experten widmen sich dem Gang der Argumentation in der Phänomenologie, umspannen aber auch das gesamte Spektrum des Hegelschen Denkens im Lichte aktueller philosophischer Debatten. Entstanden ist ein umfassender Kommentarband, der insbesondere für Studierende ein unverzichtbares Hilfsmittel bei der Erschließung dieses Werks und der Philosophie Hegels darstellt. Mit Beiträgen u. a. von Hans Friedrich Fulda, Axel Honneth, John McDowell, Terry Pinkard, Robert Pippin und Ludwig Siep.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2008Anerkennung - da lacht Hegel
Otto Pöggeler, der jahrelang der Hegel-Forschung präsidierte, hat an der "Phänomenologie des Geistes" immer wieder die Unabgeschlossenheit des Denkens gerühmt. Ein seltsames Argument! Sollte man doch meinen, dass es in der Philosophie darauf ankommt, eine Sache zu Ende zu denken. Tatsächlich haben die Rechtshegelianer Hegels Erstling nie sonderlich geschätzt. Es waren die Linkshegelianer, die das Buch berühmt machten. In einzelnen Kapiteln entdeckten sie Widerständiges, das der spätere preußische Staatsphilosoph dann wegsystematisiert habe: Feuerbach in der "sinnlichen Gewissheit", Kierkegaard und ihm folgend Sartre im "unglücklichen Bewusstsein", Marx und Lukács in "Herrschaft und Knechtschaft" und dem "entfremdeten Geist".
Der neue Sammelband ("Hegels Phänomenologie des Geistes". Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Herausgegeben von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 690 S., br., 18,- [Euro]) trägt den Namen Kommentar nicht ganz zu Recht. Es sind eher Essays, bei deren Zuordnung zu einzelnen Kapiteln reichlich gemogelt wurde. Aber man erfährt doch ganz gut, um was es interpretatorisch oder philologisch überhaupt geht. Und da fällt auf, wie weiträumig das kaum mehr als zehn, fünfzehn Jahre bekannte Interesse der amerikanischen postanalytischen Philosophie an Hegel die Diskussion bestimmt. Grundsätzlich muss man zumal dem hier nicht vertretenen Robert Brandom das Lob aussprechen, sehr genau zu lesen. Wie einst bei Heidegger führt das Vertrauen, dass Hegel sich mit seinen Sätzen etwas gedacht hat, zu besserem Verständnis als bei manchem lebenslangen Philologen.
Dennoch geht auch diese Lektüre auf verdrängte Motive, und auch sie hat ihre Lieblingskapitel: Selbst wo sie terminologisch im Paradigma "Kampf um Anerkennung" bleibt, wird ihr Interesse lebendig beim "geistigen Tierreich" und beim "Gewissen". Robert Pippin, mittlerweile ganz auf Brandoms Linie eingeschwenkt, macht gleich einleitend die Schwerpunkte klar. Gut pragmatistisch interessiert ihn Hegels Haltung des "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen". Mit Hegel lasse sich gegen intentionalistische und kausalistische Handlungstheorien, gegen überzogene Vorstellungen von der Autorität des Individuums zu Felde ziehen. Intentionen können sich wandeln, in seinen Absichten und Motiven kann man sich täuschen. Deshalb zeigt erst die Tat, woran sich jemand gebunden fühlt.
Und erst in den Reaktionen der anderen zeigt sich, was diese Tat wert war. Wer sich äußert, setzt sich der Kritik aus, wer handelt, muss mit Widerstand rechnen. Die schöne Seele, die jede Handlung als Verunreinigung ihrer guten Absichten auffasst, verkümmert entweder oder wird geradezu böse, wo sie die Versöhnungsangebote der anderen zurückweist. Die ganze "Phänomenologie" sei ein solches Opfer der Individualität, erklärt Pippin, in dem das natürliche Bewusstsein seine Partikularität überschreitet und einsieht, in der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit des Geistes als dem Ensemble gelebter Normen seinen Grund zu haben.
Und entsprechend fordert Pippin von der Philosophie, sich als ahistorische und deduktive Disziplin zu opfern. Jedes Erfassen eines begrifflichen oder normativen Inhalts müsse mit der Betrachtung von dessen wirklichem Gebrauch innerhalb einer sprachlich und normativ verbundenen oder urteilenden Gemeinschaft verknüpft sein. John McDowell bezichtigt Pippin erstaunlich direkt schlechter Philosophie und deshalb schlechter Hegel-Deutung, wenn er die Gesellschaftlichkeit des Geistes konstruktivistisch denke. Gründe sind nicht schon deshalb gut, weil sie von allen für gut gehalten werden.
Vor dem Hintergrund der amerikanischen pragmatistischen Hegel-Interpretation kann Pirmin Stekeler-Weithofer "Herrschaft und Knechtschaft" als Allegorie für das Verhältnis von Bewusstsein und Leib und den Kampf um Anerkennung als Kampf zwischen Pflicht und Neigung deuten. Nicht unsere edlen Absichten, sondern unsere wirklichen Motive und Fähigkeiten entscheiden über den Ausgang unseres Tuns, weil wir mit ihnen immer schon in die soziale Welt verstrickt sind. Dass Hegel hier den kantisch-fichteschen Willensbegriff kritisiere, ist in der Hegel-Philologie immer wieder und mit guten Gründen behauptet worden.
In Wahrheit ist Anerkennung für Hegel eben kein zentraler Begriff, und Intersubjektivität spielt für ihn nur hinein, wo sich in ihr der Gegensatz zwischen der Einzelheit des Bewusstseins und der Allgemeinheit des Geistes verkörpert. Doch auch die neue amerikanische Hegel-Deutung bleibt an der scheinbaren Offenheit des frühen Hegel ausgerichtet. Sie interessiert sich für die Form von Rechtfertigungsprozessen, für die Sozialität von Normen, nicht für die Positivität von Institutionen. Und wenn dann gar von Opfer die Rede ist, tritt die spezifisch amerikanische Traditionslinie hervor. Schon Josiah Royce, Lehrer von G.H. Mead, hatte aus dem "Gewissen" ein Denken der Gemeinschaft herausgelesen, das Hegel nicht weniger suspekt war als der Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft.
GUSTAV FALKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Otto Pöggeler, der jahrelang der Hegel-Forschung präsidierte, hat an der "Phänomenologie des Geistes" immer wieder die Unabgeschlossenheit des Denkens gerühmt. Ein seltsames Argument! Sollte man doch meinen, dass es in der Philosophie darauf ankommt, eine Sache zu Ende zu denken. Tatsächlich haben die Rechtshegelianer Hegels Erstling nie sonderlich geschätzt. Es waren die Linkshegelianer, die das Buch berühmt machten. In einzelnen Kapiteln entdeckten sie Widerständiges, das der spätere preußische Staatsphilosoph dann wegsystematisiert habe: Feuerbach in der "sinnlichen Gewissheit", Kierkegaard und ihm folgend Sartre im "unglücklichen Bewusstsein", Marx und Lukács in "Herrschaft und Knechtschaft" und dem "entfremdeten Geist".
Der neue Sammelband ("Hegels Phänomenologie des Geistes". Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne. Herausgegeben von Klaus Vieweg und Wolfgang Welsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 690 S., br., 18,- [Euro]) trägt den Namen Kommentar nicht ganz zu Recht. Es sind eher Essays, bei deren Zuordnung zu einzelnen Kapiteln reichlich gemogelt wurde. Aber man erfährt doch ganz gut, um was es interpretatorisch oder philologisch überhaupt geht. Und da fällt auf, wie weiträumig das kaum mehr als zehn, fünfzehn Jahre bekannte Interesse der amerikanischen postanalytischen Philosophie an Hegel die Diskussion bestimmt. Grundsätzlich muss man zumal dem hier nicht vertretenen Robert Brandom das Lob aussprechen, sehr genau zu lesen. Wie einst bei Heidegger führt das Vertrauen, dass Hegel sich mit seinen Sätzen etwas gedacht hat, zu besserem Verständnis als bei manchem lebenslangen Philologen.
Dennoch geht auch diese Lektüre auf verdrängte Motive, und auch sie hat ihre Lieblingskapitel: Selbst wo sie terminologisch im Paradigma "Kampf um Anerkennung" bleibt, wird ihr Interesse lebendig beim "geistigen Tierreich" und beim "Gewissen". Robert Pippin, mittlerweile ganz auf Brandoms Linie eingeschwenkt, macht gleich einleitend die Schwerpunkte klar. Gut pragmatistisch interessiert ihn Hegels Haltung des "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen". Mit Hegel lasse sich gegen intentionalistische und kausalistische Handlungstheorien, gegen überzogene Vorstellungen von der Autorität des Individuums zu Felde ziehen. Intentionen können sich wandeln, in seinen Absichten und Motiven kann man sich täuschen. Deshalb zeigt erst die Tat, woran sich jemand gebunden fühlt.
Und erst in den Reaktionen der anderen zeigt sich, was diese Tat wert war. Wer sich äußert, setzt sich der Kritik aus, wer handelt, muss mit Widerstand rechnen. Die schöne Seele, die jede Handlung als Verunreinigung ihrer guten Absichten auffasst, verkümmert entweder oder wird geradezu böse, wo sie die Versöhnungsangebote der anderen zurückweist. Die ganze "Phänomenologie" sei ein solches Opfer der Individualität, erklärt Pippin, in dem das natürliche Bewusstsein seine Partikularität überschreitet und einsieht, in der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit des Geistes als dem Ensemble gelebter Normen seinen Grund zu haben.
Und entsprechend fordert Pippin von der Philosophie, sich als ahistorische und deduktive Disziplin zu opfern. Jedes Erfassen eines begrifflichen oder normativen Inhalts müsse mit der Betrachtung von dessen wirklichem Gebrauch innerhalb einer sprachlich und normativ verbundenen oder urteilenden Gemeinschaft verknüpft sein. John McDowell bezichtigt Pippin erstaunlich direkt schlechter Philosophie und deshalb schlechter Hegel-Deutung, wenn er die Gesellschaftlichkeit des Geistes konstruktivistisch denke. Gründe sind nicht schon deshalb gut, weil sie von allen für gut gehalten werden.
Vor dem Hintergrund der amerikanischen pragmatistischen Hegel-Interpretation kann Pirmin Stekeler-Weithofer "Herrschaft und Knechtschaft" als Allegorie für das Verhältnis von Bewusstsein und Leib und den Kampf um Anerkennung als Kampf zwischen Pflicht und Neigung deuten. Nicht unsere edlen Absichten, sondern unsere wirklichen Motive und Fähigkeiten entscheiden über den Ausgang unseres Tuns, weil wir mit ihnen immer schon in die soziale Welt verstrickt sind. Dass Hegel hier den kantisch-fichteschen Willensbegriff kritisiere, ist in der Hegel-Philologie immer wieder und mit guten Gründen behauptet worden.
In Wahrheit ist Anerkennung für Hegel eben kein zentraler Begriff, und Intersubjektivität spielt für ihn nur hinein, wo sich in ihr der Gegensatz zwischen der Einzelheit des Bewusstseins und der Allgemeinheit des Geistes verkörpert. Doch auch die neue amerikanische Hegel-Deutung bleibt an der scheinbaren Offenheit des frühen Hegel ausgerichtet. Sie interessiert sich für die Form von Rechtfertigungsprozessen, für die Sozialität von Normen, nicht für die Positivität von Institutionen. Und wenn dann gar von Opfer die Rede ist, tritt die spezifisch amerikanische Traditionslinie hervor. Schon Josiah Royce, Lehrer von G.H. Mead, hatte aus dem "Gewissen" ein Denken der Gemeinschaft herausgelesen, das Hegel nicht weniger suspekt war als der Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft.
GUSTAV FALKE
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