Alessandro Baricco erhebt Einspruch gegen Musik, die in Häppchen gereicht wird, gegen langweilige Werktreue und moderne Musik als Bußritual. Seine These lautet: Ein Musikstück ist dann ein Kunstwerk, wenn es sich immer wieder neu interpretieren läßt; und neue Musik muß sich fragen lassen, ob ihr die sinnliche Anziehungskraft der ernsten Musik fehlt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999Mit großer Würde rückwärts rudern
Alessandro Baricco plaudert über das Unheil der Neuen Musik / Von Eleonore Büning
Es kommt öfters vor, dass ein Autor nicht genau weiß, worüber er schreibt. Seltener ist der Fall, dass ein Autor weiß, dass er nicht weiß, worüber er schreibt. Gibt er das offen zu, hat er beim Leser den ersten Punkt gemacht. Sein neues Buch, so bemerkt Alessandro Baricco im Vorwort verschmitzt, folge "dieser speziellen Form der Guerrillataktik". Es klopft nur aphoristisch auf den Busch. Vieles ist nicht so gemeint, anderes begrifflich unscharf, manches gilt nur lokal für sein Heimatland Italien. Und "selbst dort, wo es Antworten formuliert, sucht es in Wirklichkeit nur nach ihnen".
Baricco, der sich binnen kürzester Frist mit neoromantischen Romanen wie "Seide" und "Land aus Glas" eine begeisterte, vorwiegend weibliche Leserschaft erschrieb, hat in seinem früheren Leben den Beruf eines Musikkritikers ausgeübt. Aus jener Zeit stammen die vier Essays, die er jetzt, bekränzt mit Vor- und Nachwort und angeführt von einem mehrheitsfähigen Klassikerzitat, zu einem Lesebuch zusammengefasst hat. Das Klassikerzitat stammt aus Hegels Vorlesungen zur Ästhetik und spricht tröstlich von der seelenerhebenden, menschheitsbessernden Macht der Musik. Auf dem Fuße folgt ein zweites, prosaischeres Motto, welches über die gesteigerte Milchproduktion von Musik hörenden Kühen in Wisconsin informiert. Baricco umreißt damit das Feld, auf das er sich begeben will: Da letzteres Phänomen empirisch erhärtet, aber nicht erklärbar ist - das erste Motto aber eine schöne Utopie ohne jeden Beweisnotstand entwirft, sind die Türen für Spekulationen sperrangelweit offen. Wie geht es der Musik heute? Wie wirkt sie, was nutzt und wo schadet sie? Tatsächlich treten diese sieben Jahre alten Texte aus der Schublade eines Musikkritikers mit dem Anspruch auf, einige Übel bei der Wurzel zu packen. Sie stellen bekannte Rituale des herrschenden Musikbetriebs an den Pranger und rufen zu Umkehr oder zu einem ersten Umdenken auf. Nur wie und wohin? Schon beißt sich die Guerrillakatze in den eigenen, bunt geringelten Schwanz.
Im ersten Kapitel beklagt Baricco wortgewandt den Graben zwischen so genannter Unterhaltungs- und so genannter ernster Musik. Geschenkt. Er mokiert sich zweitens über das falsche Vornehmtun der E-, kritisiert drittens den Warencharakter der U-Musik und ärgert sich viertens über die kommerzielle Verwertung, der heutzutage selbst Ideenkunstwerke im Hegel'schen Sinne wie etwa Beethovens Neunte unterworfen seien. Auch das alles so richtig wie traurig, aber wahr. Man beginnt sich zu langweilen und verlegt sich darauf, des Autors rhetorische Begabung zu bewundern und seine geübte Kunstfertigkeit, ein blumen- und bildreiches, inhaltsleeres Bonmot nahtlos an das nächste zu hängen. Zum Beispiel: "Von der Moderne bedroht, rudert der Konsument ernster Musik mit großer Würde rückwärts, in der Furcht vor den Strudeln der Zukunft und voller Sehnsucht nach den immer ferneren friedlich sprudelnden Quellen." Wunderbar gesagt. Oder: "Bei kulinarischem Musikkonsum und ohne Vermittlung werden selbst die größten Meisterwerke der ernsten Musik wieder zu dem, was sie ursprünglich waren: brillante Verführungsmechanismen, wenn nicht gar reine Konsumprodukte." Auch diese feine Formulierung hält einer Sinn-Überprüfung nicht stand. Im folgenden Kapitel über Interpretation und Werktreue werden weitere Halb- und Binsenweisheiten zu hübschen, neuen Körbchen geflochten: "Das Original gibt es nicht" (Stimmt). "Im Interpreten begegnet das Werk einer neuen Welt, in der es sich niederlassen will" (Toll). "Die Interpretation arbeitet mit den Schwächen des Werks" (Stuss). Und so weiter. Aber dann, im Kapitel über die Neue Musik, schießt der Spaß-Kommandante Baricco plötzlich überraschend aus der Hüfte, und zwar mit scharfer, polemischer Munition.
Aufgehängt an jenem berühmten didaktischen Aufsatz Anton Weberns über den "Weg zur Neuen Musik" (1932), stellt Baricco die überraschende Gegenthese auf, Neue Musik sei prinzipiell nicht lehr- und lernbar, weil wider die menschliche Natur. Er behauptet: Die Dur-Moll-Tonalität basiert auf "unabänderlichen physiologischen Gegebenheiten". Zunächst wird dazu wieder die seit bald hundert Jahren widerlegte These bemüht, die Tonalität legitimiere sich ganz natürlich aus der Obertonreihe. Anschließend referiert Baricco, ohne freilich seine Quelle zu nennen, über die von Ernest Ansermet gegen die atonale und die Zwölftonmusik ins Feld geführten hörpsychologischen Kategorien von Spannung und Entspannung, Erwartung und Erwiderung. Es ist gewiss etwas Wahres daran, dass Musikverständnis auf Wiederholung von Bekanntem basiert und dass der Mensch im Allgemeinen vor allem das liebt, was er schon kennt oder zu kennen glaubt. Fremdes wird ausgegrenzt. Daraus zu schließen, dass etwas (noch) nicht Bekanntes und die Wiederholung prinzipiell Negierendes wie die Neue Musik grundsätzlich gegen die menschliche Natur verstoße, ist gar zu kurz und zu dumm gedacht. Baricco vergisst sogar das kultivierte Formulieren und höhnt in hölzernen Sätzen: "Glaubt irgendjemand wirklich, dass das nur eine Frage der Gewöhnung, der Zeit oder der kulturellen Bildung ist?" Er unterschlägt dabei geflissentlich, dass Zwölftonopern wie Schönbergs "Moses und Aron" seit einigen Jahren die großen Bühnen erobern und Alban Bergs "Lulu" oder "Wozzeck", vor sechzig Jahren noch zur "entarteten Musik" gerechnet, längst fest zum Repertoire gehören.
Es verwundert nach alledem nicht, dass im letzten Kapitel ausgerechnet Puccini (nebst Mahler; beide, versteht sich, vor allem wegen der Nähe zum Kino) als Wegbereiter der wahren Moderne auf den Schild gehoben und der circensische Effekt des Spektakulären als Ausweg aus allen Nöten verklärt wird. Baricco predigt die Kultur des Events. Seine Stammleserinnenschaft, auch wenn sie bei Butterflys Tod oder in Miss Saigon schon manche Träne verloren hat, wird trotzdem von diesem Traktat enttäuscht sein: Er liest sich, wie gesagt, nicht durchweg wie Glas und Seide. Und der Piper Verlag, der im Falle Baricco und seiner ersten, knallhart abgesägten Übersetzerin Karin Krieger schon einmal gezeigt hat, dass ihm gar nichts peinlich genug sein kann, als dass sich nicht doch noch Geld daraus schlagen ließe, hat sich diesmal vielleicht verrechnet.
Alessandro Baricco: "Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin. Nachdenken über Musik". Aus dem Italienischen übersetzt von Viola Bauer. Piper Verlag, München 1999. 136 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alessandro Baricco plaudert über das Unheil der Neuen Musik / Von Eleonore Büning
Es kommt öfters vor, dass ein Autor nicht genau weiß, worüber er schreibt. Seltener ist der Fall, dass ein Autor weiß, dass er nicht weiß, worüber er schreibt. Gibt er das offen zu, hat er beim Leser den ersten Punkt gemacht. Sein neues Buch, so bemerkt Alessandro Baricco im Vorwort verschmitzt, folge "dieser speziellen Form der Guerrillataktik". Es klopft nur aphoristisch auf den Busch. Vieles ist nicht so gemeint, anderes begrifflich unscharf, manches gilt nur lokal für sein Heimatland Italien. Und "selbst dort, wo es Antworten formuliert, sucht es in Wirklichkeit nur nach ihnen".
Baricco, der sich binnen kürzester Frist mit neoromantischen Romanen wie "Seide" und "Land aus Glas" eine begeisterte, vorwiegend weibliche Leserschaft erschrieb, hat in seinem früheren Leben den Beruf eines Musikkritikers ausgeübt. Aus jener Zeit stammen die vier Essays, die er jetzt, bekränzt mit Vor- und Nachwort und angeführt von einem mehrheitsfähigen Klassikerzitat, zu einem Lesebuch zusammengefasst hat. Das Klassikerzitat stammt aus Hegels Vorlesungen zur Ästhetik und spricht tröstlich von der seelenerhebenden, menschheitsbessernden Macht der Musik. Auf dem Fuße folgt ein zweites, prosaischeres Motto, welches über die gesteigerte Milchproduktion von Musik hörenden Kühen in Wisconsin informiert. Baricco umreißt damit das Feld, auf das er sich begeben will: Da letzteres Phänomen empirisch erhärtet, aber nicht erklärbar ist - das erste Motto aber eine schöne Utopie ohne jeden Beweisnotstand entwirft, sind die Türen für Spekulationen sperrangelweit offen. Wie geht es der Musik heute? Wie wirkt sie, was nutzt und wo schadet sie? Tatsächlich treten diese sieben Jahre alten Texte aus der Schublade eines Musikkritikers mit dem Anspruch auf, einige Übel bei der Wurzel zu packen. Sie stellen bekannte Rituale des herrschenden Musikbetriebs an den Pranger und rufen zu Umkehr oder zu einem ersten Umdenken auf. Nur wie und wohin? Schon beißt sich die Guerrillakatze in den eigenen, bunt geringelten Schwanz.
Im ersten Kapitel beklagt Baricco wortgewandt den Graben zwischen so genannter Unterhaltungs- und so genannter ernster Musik. Geschenkt. Er mokiert sich zweitens über das falsche Vornehmtun der E-, kritisiert drittens den Warencharakter der U-Musik und ärgert sich viertens über die kommerzielle Verwertung, der heutzutage selbst Ideenkunstwerke im Hegel'schen Sinne wie etwa Beethovens Neunte unterworfen seien. Auch das alles so richtig wie traurig, aber wahr. Man beginnt sich zu langweilen und verlegt sich darauf, des Autors rhetorische Begabung zu bewundern und seine geübte Kunstfertigkeit, ein blumen- und bildreiches, inhaltsleeres Bonmot nahtlos an das nächste zu hängen. Zum Beispiel: "Von der Moderne bedroht, rudert der Konsument ernster Musik mit großer Würde rückwärts, in der Furcht vor den Strudeln der Zukunft und voller Sehnsucht nach den immer ferneren friedlich sprudelnden Quellen." Wunderbar gesagt. Oder: "Bei kulinarischem Musikkonsum und ohne Vermittlung werden selbst die größten Meisterwerke der ernsten Musik wieder zu dem, was sie ursprünglich waren: brillante Verführungsmechanismen, wenn nicht gar reine Konsumprodukte." Auch diese feine Formulierung hält einer Sinn-Überprüfung nicht stand. Im folgenden Kapitel über Interpretation und Werktreue werden weitere Halb- und Binsenweisheiten zu hübschen, neuen Körbchen geflochten: "Das Original gibt es nicht" (Stimmt). "Im Interpreten begegnet das Werk einer neuen Welt, in der es sich niederlassen will" (Toll). "Die Interpretation arbeitet mit den Schwächen des Werks" (Stuss). Und so weiter. Aber dann, im Kapitel über die Neue Musik, schießt der Spaß-Kommandante Baricco plötzlich überraschend aus der Hüfte, und zwar mit scharfer, polemischer Munition.
Aufgehängt an jenem berühmten didaktischen Aufsatz Anton Weberns über den "Weg zur Neuen Musik" (1932), stellt Baricco die überraschende Gegenthese auf, Neue Musik sei prinzipiell nicht lehr- und lernbar, weil wider die menschliche Natur. Er behauptet: Die Dur-Moll-Tonalität basiert auf "unabänderlichen physiologischen Gegebenheiten". Zunächst wird dazu wieder die seit bald hundert Jahren widerlegte These bemüht, die Tonalität legitimiere sich ganz natürlich aus der Obertonreihe. Anschließend referiert Baricco, ohne freilich seine Quelle zu nennen, über die von Ernest Ansermet gegen die atonale und die Zwölftonmusik ins Feld geführten hörpsychologischen Kategorien von Spannung und Entspannung, Erwartung und Erwiderung. Es ist gewiss etwas Wahres daran, dass Musikverständnis auf Wiederholung von Bekanntem basiert und dass der Mensch im Allgemeinen vor allem das liebt, was er schon kennt oder zu kennen glaubt. Fremdes wird ausgegrenzt. Daraus zu schließen, dass etwas (noch) nicht Bekanntes und die Wiederholung prinzipiell Negierendes wie die Neue Musik grundsätzlich gegen die menschliche Natur verstoße, ist gar zu kurz und zu dumm gedacht. Baricco vergisst sogar das kultivierte Formulieren und höhnt in hölzernen Sätzen: "Glaubt irgendjemand wirklich, dass das nur eine Frage der Gewöhnung, der Zeit oder der kulturellen Bildung ist?" Er unterschlägt dabei geflissentlich, dass Zwölftonopern wie Schönbergs "Moses und Aron" seit einigen Jahren die großen Bühnen erobern und Alban Bergs "Lulu" oder "Wozzeck", vor sechzig Jahren noch zur "entarteten Musik" gerechnet, längst fest zum Repertoire gehören.
Es verwundert nach alledem nicht, dass im letzten Kapitel ausgerechnet Puccini (nebst Mahler; beide, versteht sich, vor allem wegen der Nähe zum Kino) als Wegbereiter der wahren Moderne auf den Schild gehoben und der circensische Effekt des Spektakulären als Ausweg aus allen Nöten verklärt wird. Baricco predigt die Kultur des Events. Seine Stammleserinnenschaft, auch wenn sie bei Butterflys Tod oder in Miss Saigon schon manche Träne verloren hat, wird trotzdem von diesem Traktat enttäuscht sein: Er liest sich, wie gesagt, nicht durchweg wie Glas und Seide. Und der Piper Verlag, der im Falle Baricco und seiner ersten, knallhart abgesägten Übersetzerin Karin Krieger schon einmal gezeigt hat, dass ihm gar nichts peinlich genug sein kann, als dass sich nicht doch noch Geld daraus schlagen ließe, hat sich diesmal vielleicht verrechnet.
Alessandro Baricco: "Hegels Seele oder Die Kühe von Wisconsin. Nachdenken über Musik". Aus dem Italienischen übersetzt von Viola Bauer. Piper Verlag, München 1999. 136 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main