Ausgezeichnet mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2021, Sachbuch des Jahres.
Durch keinen anderen Denker lernt man so gut kennen, was auch die «Sattelzeit» genannt wurde: der Übergang des alten Europa in die moderne Gesellschaft. Ob Aufklärung, die Herrschaft Napoleons oder die Befreiungskriege, ob Industrialisierung, Vormärz oder die großen Entdeckungen - die Welt ändert sich während der Lebensjahrzehnte Georg Wilhelm Friedrich Hegels von Grund auf. Und zwar durch Ideen, die zu Revolutionen führten: politische, industrielle, ästhetische und pädagogische. Nicht umsonst hat Hegel von der Philosophie verlangt, ihre eigene Zeit auf den Begriff zu bringen; nicht ewige Wahrheiten, nicht den Grund allen Seins, sondern die eigene Zeit in Gedanken. Jürgen Kaube erzählt Hegels Leben, erläutert sein Werk und zeigt, wie jene epochalen Umbrüche zum Versuch einer letzten Revolution führen: der des Denkens.
Hegel wirkte unter anderem in Jena, dem intellektuellen Zentrum der Klassik mit inspirierender Nähe zu Schiller und Goethe, die er kannte wie die anderen Großen seiner Zeit. Als begnadeter Polemiker stritt er gern, etwa mit den Romantikern; als allseits Interessierter nahm er alles Neue auf. Aber auch dem Persönlichen schenkt Kaube alle Aufmerksamkeit: dem unehelichen Sohn Hegels etwa, der in Indonesien am Tropenfieber starb, oder Hegels Schwester, die an der republikanischen Verschwörung in Württemberg mittat. - Eine faszinierende Biographie - und eine Zeit, in der sich die Welt, unsere Welt, neu formierte. Letzteres lässt dieses Buch auch zu unserer Gegenwart sprechen.
Durch keinen anderen Denker lernt man so gut kennen, was auch die «Sattelzeit» genannt wurde: der Übergang des alten Europa in die moderne Gesellschaft. Ob Aufklärung, die Herrschaft Napoleons oder die Befreiungskriege, ob Industrialisierung, Vormärz oder die großen Entdeckungen - die Welt ändert sich während der Lebensjahrzehnte Georg Wilhelm Friedrich Hegels von Grund auf. Und zwar durch Ideen, die zu Revolutionen führten: politische, industrielle, ästhetische und pädagogische. Nicht umsonst hat Hegel von der Philosophie verlangt, ihre eigene Zeit auf den Begriff zu bringen; nicht ewige Wahrheiten, nicht den Grund allen Seins, sondern die eigene Zeit in Gedanken. Jürgen Kaube erzählt Hegels Leben, erläutert sein Werk und zeigt, wie jene epochalen Umbrüche zum Versuch einer letzten Revolution führen: der des Denkens.
Hegel wirkte unter anderem in Jena, dem intellektuellen Zentrum der Klassik mit inspirierender Nähe zu Schiller und Goethe, die er kannte wie die anderen Großen seiner Zeit. Als begnadeter Polemiker stritt er gern, etwa mit den Romantikern; als allseits Interessierter nahm er alles Neue auf. Aber auch dem Persönlichen schenkt Kaube alle Aufmerksamkeit: dem unehelichen Sohn Hegels etwa, der in Indonesien am Tropenfieber starb, oder Hegels Schwester, die an der republikanischen Verschwörung in Württemberg mittat. - Eine faszinierende Biographie - und eine Zeit, in der sich die Welt, unsere Welt, neu formierte. Letzteres lässt dieses Buch auch zu unserer Gegenwart sprechen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2020JÜRGEN KAUBE, für das Feuilleton verantwortlicher Herausgeber dieser Zeitung, hat eine Biographie des Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel geschrieben. Hegel erscheint hier als der Denker einer Welt, die immer mehr ihren Halt in Traditionen durch Selbsterkundung und die Bildung ihrer Individuen ersetzt. Er steht am Übergang zur modernen Gesellschaft. Die Französische Revolution ist Hegels Vorbild dafür, das soziale Leben auf Ideen und auf Selbstgesetzgebung gründen zu können. So wird er zum ersten Philosophen des Rechtsstaats, eines Christentums, das "Verweltlichung" bejaht, und einer Kunst, die Subjektivität zu ihrem Inhalt hat. Das Buch erzählt, wie es zu diesem außergewöhnlichen Werk kam, dessen Anspruch es war, alle Begriffe, die für die Erkenntnis der modernen Welt und ihres Geistes nötig sind, zu klären. (Jürgen Kaube: "Hegels Welt". Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 592 S., Abb., geb., 28,- [Euro].)
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Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Peter Neumann kann uns einiges über den philosophischen Werdegang Hegels erzählen, den er als philosophischen Spätzünder beschreibt. Zu Kaubes Buch äußert er sich nur mit wenigen Sätzen: Er findet es leichthändig und "farbensatt" erzählt, und ihm gefällt, dass Kaube das späte 18. Jahrhundert nicht scharf teilt in eine Welt vor und nach der Aufklärung. Dass er großen Umbruchserzählungen misstraut, findet der Rezensent ausgesprochen hegelianisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.08.2020Energie des Begreifenwollens
Wir können uns die Welt nicht ausdenken, sondern bestenfalls in sie hineindenken:
Jürgen Kaube erschließt in seiner Biografie den Reichtum der Gedanken wie der Wirklichkeit Hegels
VON STEFFEN MARTUS
Hegel zählt zu den Philosophen, die sich besonders interessant geirrt haben, obwohl sie es besser hätten wissen können. Als er 1801 auf Betreiben Schellings an die Universität Jena kam, musste er noch eine Habilitationsschrift abliefern. Dieser hastig zusammengestöpselte Text legte unter anderem dar, dass zwischen Jupiter und Mars kein Platz für einen weiteren Planeten bleibe. Die Wirklichkeit aber hielt sich nicht an Hegels Vorgaben. Bereits zu Jahresanfang hatte ein italienischer Astronom genau an der für unmöglich erklärten Stelle einen Himmelskörper entdeckt. Für den Erfolg vor der Prüfungskommission war dies nicht weiter von Belang. Die Entdeckung war während der vergangenen acht Monate noch nicht bis nach Jena durchgedrungen.
Kurz zuvor hatte Hegel erstmals verkündet, seine Überlegungen strebten einem philosophischen „System“ zu. Und genau dieser Gedankenarbeit widmete er sich in den folgenden Jahrzehnten mit einer zuvor nie dagewesenen Konsequenz. Systematische Naturforschung folgte zu dieser Zeit jedoch bereits ganz anderen Konzepten. So verdankte sich die Entdeckung des kleinen Himmelskörpers Ceres zwar dem Zufall, die Suche danach aber war von der auf dem europäischen Astronomenkongress gegründeten „Himmelspolizey“ planmäßig organisiert worden: Man unterteilte den Himmel in 24 Abschnitte, die jeweils genau observiert wurden. Carl Friedrich Gauß machte dann die richtigen Berechnungen und sagte voraus, wo der Kleinplanet nach dem langen Weg hinter der Sonne wieder zu entdecken sein würde.
Mit solchen Details hielt sich Hegel nicht lange auf. Als er auf dem Höhepunkt seines Ruhms – mittlerweile an der Berliner Universität lehrend – den Einzelwissenschaften ihren Bedarf an philosophischer Expertise erläuterte, tat dies ein Denker, dessen Physik sich auf Kriegspfad mit den maßgeblichen Lehren Newtons befand, der noch immer den Ideen vom animalischen Magnetismus anhing, der die Zusammensetzung von Wasser aus zwei Elementen für abwegig hielt und die Qualität einer Weinernte auch einmal auf die Einwirkung eines Kometen zurückführte.
Warum aber nahm der wichtigste Vertreter des „deutschen Idealismus“ überhaupt das Risiko in Kauf, sich auf positives Wissen und konkrete Sachverhalte so zu beziehen, dass sich seine Aussagen relativ leicht empirisch überprüfen ließen und dabei oftmals keine gute Figur machten?
Die Antwort auf diese Frage gibt der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Titel seiner außerordentlich intelligenten Hegel-Biografie. Wer sich seit dem 18. Jahrhundert, seit dem Zeitalter der Aufklärung also, auf dem Stand seiner Zeit befinden wollte, musste sich zur „Welt“ verhalten: zu einem Bezugsrahmen, der immer weniger oder sogar keine Voraussetzungen akzeptierte, die außerhalb seiner selbst lagen. Die Welt war nicht nur „imaginierbar“, sondern durch Entdeckungen und Experimente, Medien und Handelsbeziehungen zunehmend auch „erreichbar“ geworden. In diese Welt brach kein Phänomen von außen ein, auch keine neue Idee und keine neue Erfindung. Man befand sich vielmehr grundsätzlich in Entwicklungen, die ihre Voraussetzung in anderen Entwicklungen hatten. Genau darauf zielte Hegels Zentralbegriff „Geist“: Der Versuch, die Welt als Geistesgeschichte zu begreifen, muss von der zunächst ebenso schlichten, wie in der Durchführung enorm anspruchsvollen Einsicht ausgehen, „dass schon vor uns gedacht wurde und wir uns die Welt nicht ausdenken, sondern uns bestenfalls in sie hinein denken können“.
Dass die Französische Revolution in „Hegels Welt“ die zentrale Etappe markierte, bedeutete daher gerade nicht, sie aus Perspektive des radikalen Umsturzes wahrzunehmen. Als die Ereignisse sich in Paris überschlugen, unterzog sich Hegel gemeinsam mit Schelling und Hölderlin den theologischen Exerzitien des Tübinger Stifts. Die Studenten begeisterte zwar zunächst die Vorstellung, dass Ideen eine eruptive Macht entfalteten. Hegel aber war kein Revolutionär. Langfristig beschäftigten ihn die Ereignisse vielmehr als Paradigma einer Politik, die möglichst wenig transzendente Voraussetzungen machte. Es handelte sich um den bis dahin größten „Versuch der Selbstgesetzgebung eines Staates“, der in der Welt selbst Gründe für botmäßiges und unbotmäßiges Handeln suchte und insofern ein „Gepräge der Freiheit“ trug. „Idealismus“, so Kaubes Arbeitsdefinition, „ist philosophisches Könnensbewusstsein“.
Hegel brachte seine Welthaltung auf den Nenner eines Satzes, der dem „Verknappungsbedarf der Mit- und Nachdenkenden“ zwar entgegenkam, aber auch zu fortlaufenden Missverständnissen Anlass bot: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Er empfahl damit einen gewissen Blickwinkel auf die Welt, etwa auf die Politik, an der ihn weniger die offenkundigen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten interessierten, als der „Vollzug des welthistorisch aufkommenden Rechtsstaats durch eine gebildete Verwaltungselite“ sowie die „Einarbeitung der Freiheit in die soziale Ordnung“. „Freiheit“ wiederum verstand Hegel nicht als „spontanes Draufloshandelnkönnen“, sondern fand sie in der „Fähigkeit, gerade durch Verbindung mit etwas oder jemand anderem zu sich selbst zu finden und in Anderen bei sich zu sein“. Man möchte diesen Satz allen aktuellen „Querdenkern“ gern dick ins Notizbuch schreiben.
Kaube befasst sich auch deswegen lange mit diesem Bonmot über die Wirklichkeit der Vernunft, weil die Rezeptionsgeschichte des Satzes so viele Beispiele dafür bietet, wie man mit einem Denker gerade nicht umgehen sollte. Bereits Hegel bat angesichts vieler schneller Urteile über ihn um ein Mindestmaß an Respekt: „Wer wäre nicht zu klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll?“ Hegels Kernsätze unterbreiten kein Angebot zum Ausleben intellektueller Schnappreflexe, sondern „erzwingen, noch mehr als sie selbst zu lesen und bis dahin ein Urteil zurückzuhalten“.
Hegel ist ein Philosoph der Zumutungen, der gedanklichen und stilistischen Rücksichtslosigkeit. Seine Texte bieten sehr viele Möglichkeiten, sich zu „bilden“, sich also „mit unbekannten Problemen auseinanderzusetzen und unerwarteten Tatsachen etwas abzugewinnen“. Im Zentrum dieses Hegelschen Bildungskonzepts steht die Fähigkeit, fremde Äußerungen in eigenen Worten zusammenzufassen und sich durch diese gedankliche und sprachliche Arbeit anzueignen. Daraus resultiert die „Fähigkeit, etwas, das an einem Fall verstanden wurde, auf einen anderen so anzuwenden, dass die Unterschiede wie die Gemeinsamkeiten der Fälle übrig bleiben und genutzt werden“. Genau dies gelingt Jürgen Kaube eindrucksvoll, und daher ist seine Hegel-Biografie ein großes Bildungserlebnis.
Auf der Suche nach dem Weltgeist boten sich Hegel ebenso viele Gelegenheiten, Tatsachen zu beachten wie zu ignorieren, weil diese sich die für listige agierende Geschichte als nur beiläufig erweisen. Diese Haltung hatte auch ganz pragmatische Konsequenzen. Bereits seine Zeitgenossen verdächtigten Hegel eher restaurativer Einstellungen. Noch 1828 echauffierte er sich über das Kotzebue-Attentat des Jenaer Studenten Karl Ludwig Sand: „Aber nun die stupide Dummheit, durch den Mord des alten Waschlappens das Vaterland retten zu wollen! Der kalte, freche Hochmut, als kleiner Weltrichter die sogenannten Schlechten abzuurteilen!“
Gleichwohl stellte sich Hegel schützend vor Studenten, die im Rahmen der aus dem Ruder laufenden „Demagogenverfolgung“ ins Visier staatlicher Verfolgung gerieten. Politisch stand er zwar auf der anderen Seite, traute aber dem Individuum schlicht keine so einflussreiche Rolle zu, dass es dieses extremen polizeilichen und juristischen Aufhebens bedurft hätte.
Hegel musste sich zu seinen Gedanken durchkämpfen. „Freiheit“ war für ihn ein Name für die „Energie des Begreifenwollens“. Alles wirkte in ihm und auf ihn langsam und allmählich. Wäre er so jung wie Hölderlin gestorben, hätte man seinen Namen allenfalls in den Fußnoten der Geistesgeschichte gefunden. „Wer ihm eine Tierart zuordnen wollte, müsste zwischen Wiederkäuer und Maulwurf schwanken.“
Gerade weil Hegel nicht nur philosophisch, sondern in seinem ganzen intellektuellen Habitus Einspruch gegen das Unmittelbare einlegte, kann Kaube diesen intellektuellen Lebenslauf von der Seite seiner Offenheit und damit auch seines Überraschungsgehalts aus beschreiben. Oder mit Hegel formuliert: „Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen.“ Wer an diesem Reichtum und der ihn umgebenden Welt Anteil haben möchte, sollte Jürgen Kaubes Hegel-Biografie lesen.
Warum nahm er überhaupt das
Risiko in Kauf, sich auf
positives Wissen zu beziehen?
Er ist ein Philosoph der
gedanklichen und stilistischen
Rücksichtslosigkeit
Jürgen Kaube: Hegels Welt. Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 592 Seiten, 28 Euro.
Student am Tübinger Stift war Hegel von 1788 bis ’93. Dort nannte man ihn den „alten Mann“, was auf sein
Temperament als junger Mann schließen lässt. In seinem Stammbuch karikiert ihn sein Freund Georg
Friedrich Fallot als solchen: „Gott stehe dem alten Mann bey“. Foto: mauritius images / Alamy / The Picture Art Collection
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Wir können uns die Welt nicht ausdenken, sondern bestenfalls in sie hineindenken:
Jürgen Kaube erschließt in seiner Biografie den Reichtum der Gedanken wie der Wirklichkeit Hegels
VON STEFFEN MARTUS
Hegel zählt zu den Philosophen, die sich besonders interessant geirrt haben, obwohl sie es besser hätten wissen können. Als er 1801 auf Betreiben Schellings an die Universität Jena kam, musste er noch eine Habilitationsschrift abliefern. Dieser hastig zusammengestöpselte Text legte unter anderem dar, dass zwischen Jupiter und Mars kein Platz für einen weiteren Planeten bleibe. Die Wirklichkeit aber hielt sich nicht an Hegels Vorgaben. Bereits zu Jahresanfang hatte ein italienischer Astronom genau an der für unmöglich erklärten Stelle einen Himmelskörper entdeckt. Für den Erfolg vor der Prüfungskommission war dies nicht weiter von Belang. Die Entdeckung war während der vergangenen acht Monate noch nicht bis nach Jena durchgedrungen.
Kurz zuvor hatte Hegel erstmals verkündet, seine Überlegungen strebten einem philosophischen „System“ zu. Und genau dieser Gedankenarbeit widmete er sich in den folgenden Jahrzehnten mit einer zuvor nie dagewesenen Konsequenz. Systematische Naturforschung folgte zu dieser Zeit jedoch bereits ganz anderen Konzepten. So verdankte sich die Entdeckung des kleinen Himmelskörpers Ceres zwar dem Zufall, die Suche danach aber war von der auf dem europäischen Astronomenkongress gegründeten „Himmelspolizey“ planmäßig organisiert worden: Man unterteilte den Himmel in 24 Abschnitte, die jeweils genau observiert wurden. Carl Friedrich Gauß machte dann die richtigen Berechnungen und sagte voraus, wo der Kleinplanet nach dem langen Weg hinter der Sonne wieder zu entdecken sein würde.
Mit solchen Details hielt sich Hegel nicht lange auf. Als er auf dem Höhepunkt seines Ruhms – mittlerweile an der Berliner Universität lehrend – den Einzelwissenschaften ihren Bedarf an philosophischer Expertise erläuterte, tat dies ein Denker, dessen Physik sich auf Kriegspfad mit den maßgeblichen Lehren Newtons befand, der noch immer den Ideen vom animalischen Magnetismus anhing, der die Zusammensetzung von Wasser aus zwei Elementen für abwegig hielt und die Qualität einer Weinernte auch einmal auf die Einwirkung eines Kometen zurückführte.
Warum aber nahm der wichtigste Vertreter des „deutschen Idealismus“ überhaupt das Risiko in Kauf, sich auf positives Wissen und konkrete Sachverhalte so zu beziehen, dass sich seine Aussagen relativ leicht empirisch überprüfen ließen und dabei oftmals keine gute Figur machten?
Die Antwort auf diese Frage gibt der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Titel seiner außerordentlich intelligenten Hegel-Biografie. Wer sich seit dem 18. Jahrhundert, seit dem Zeitalter der Aufklärung also, auf dem Stand seiner Zeit befinden wollte, musste sich zur „Welt“ verhalten: zu einem Bezugsrahmen, der immer weniger oder sogar keine Voraussetzungen akzeptierte, die außerhalb seiner selbst lagen. Die Welt war nicht nur „imaginierbar“, sondern durch Entdeckungen und Experimente, Medien und Handelsbeziehungen zunehmend auch „erreichbar“ geworden. In diese Welt brach kein Phänomen von außen ein, auch keine neue Idee und keine neue Erfindung. Man befand sich vielmehr grundsätzlich in Entwicklungen, die ihre Voraussetzung in anderen Entwicklungen hatten. Genau darauf zielte Hegels Zentralbegriff „Geist“: Der Versuch, die Welt als Geistesgeschichte zu begreifen, muss von der zunächst ebenso schlichten, wie in der Durchführung enorm anspruchsvollen Einsicht ausgehen, „dass schon vor uns gedacht wurde und wir uns die Welt nicht ausdenken, sondern uns bestenfalls in sie hinein denken können“.
Dass die Französische Revolution in „Hegels Welt“ die zentrale Etappe markierte, bedeutete daher gerade nicht, sie aus Perspektive des radikalen Umsturzes wahrzunehmen. Als die Ereignisse sich in Paris überschlugen, unterzog sich Hegel gemeinsam mit Schelling und Hölderlin den theologischen Exerzitien des Tübinger Stifts. Die Studenten begeisterte zwar zunächst die Vorstellung, dass Ideen eine eruptive Macht entfalteten. Hegel aber war kein Revolutionär. Langfristig beschäftigten ihn die Ereignisse vielmehr als Paradigma einer Politik, die möglichst wenig transzendente Voraussetzungen machte. Es handelte sich um den bis dahin größten „Versuch der Selbstgesetzgebung eines Staates“, der in der Welt selbst Gründe für botmäßiges und unbotmäßiges Handeln suchte und insofern ein „Gepräge der Freiheit“ trug. „Idealismus“, so Kaubes Arbeitsdefinition, „ist philosophisches Könnensbewusstsein“.
Hegel brachte seine Welthaltung auf den Nenner eines Satzes, der dem „Verknappungsbedarf der Mit- und Nachdenkenden“ zwar entgegenkam, aber auch zu fortlaufenden Missverständnissen Anlass bot: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Er empfahl damit einen gewissen Blickwinkel auf die Welt, etwa auf die Politik, an der ihn weniger die offenkundigen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten interessierten, als der „Vollzug des welthistorisch aufkommenden Rechtsstaats durch eine gebildete Verwaltungselite“ sowie die „Einarbeitung der Freiheit in die soziale Ordnung“. „Freiheit“ wiederum verstand Hegel nicht als „spontanes Draufloshandelnkönnen“, sondern fand sie in der „Fähigkeit, gerade durch Verbindung mit etwas oder jemand anderem zu sich selbst zu finden und in Anderen bei sich zu sein“. Man möchte diesen Satz allen aktuellen „Querdenkern“ gern dick ins Notizbuch schreiben.
Kaube befasst sich auch deswegen lange mit diesem Bonmot über die Wirklichkeit der Vernunft, weil die Rezeptionsgeschichte des Satzes so viele Beispiele dafür bietet, wie man mit einem Denker gerade nicht umgehen sollte. Bereits Hegel bat angesichts vieler schneller Urteile über ihn um ein Mindestmaß an Respekt: „Wer wäre nicht zu klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll?“ Hegels Kernsätze unterbreiten kein Angebot zum Ausleben intellektueller Schnappreflexe, sondern „erzwingen, noch mehr als sie selbst zu lesen und bis dahin ein Urteil zurückzuhalten“.
Hegel ist ein Philosoph der Zumutungen, der gedanklichen und stilistischen Rücksichtslosigkeit. Seine Texte bieten sehr viele Möglichkeiten, sich zu „bilden“, sich also „mit unbekannten Problemen auseinanderzusetzen und unerwarteten Tatsachen etwas abzugewinnen“. Im Zentrum dieses Hegelschen Bildungskonzepts steht die Fähigkeit, fremde Äußerungen in eigenen Worten zusammenzufassen und sich durch diese gedankliche und sprachliche Arbeit anzueignen. Daraus resultiert die „Fähigkeit, etwas, das an einem Fall verstanden wurde, auf einen anderen so anzuwenden, dass die Unterschiede wie die Gemeinsamkeiten der Fälle übrig bleiben und genutzt werden“. Genau dies gelingt Jürgen Kaube eindrucksvoll, und daher ist seine Hegel-Biografie ein großes Bildungserlebnis.
Auf der Suche nach dem Weltgeist boten sich Hegel ebenso viele Gelegenheiten, Tatsachen zu beachten wie zu ignorieren, weil diese sich die für listige agierende Geschichte als nur beiläufig erweisen. Diese Haltung hatte auch ganz pragmatische Konsequenzen. Bereits seine Zeitgenossen verdächtigten Hegel eher restaurativer Einstellungen. Noch 1828 echauffierte er sich über das Kotzebue-Attentat des Jenaer Studenten Karl Ludwig Sand: „Aber nun die stupide Dummheit, durch den Mord des alten Waschlappens das Vaterland retten zu wollen! Der kalte, freche Hochmut, als kleiner Weltrichter die sogenannten Schlechten abzuurteilen!“
Gleichwohl stellte sich Hegel schützend vor Studenten, die im Rahmen der aus dem Ruder laufenden „Demagogenverfolgung“ ins Visier staatlicher Verfolgung gerieten. Politisch stand er zwar auf der anderen Seite, traute aber dem Individuum schlicht keine so einflussreiche Rolle zu, dass es dieses extremen polizeilichen und juristischen Aufhebens bedurft hätte.
Hegel musste sich zu seinen Gedanken durchkämpfen. „Freiheit“ war für ihn ein Name für die „Energie des Begreifenwollens“. Alles wirkte in ihm und auf ihn langsam und allmählich. Wäre er so jung wie Hölderlin gestorben, hätte man seinen Namen allenfalls in den Fußnoten der Geistesgeschichte gefunden. „Wer ihm eine Tierart zuordnen wollte, müsste zwischen Wiederkäuer und Maulwurf schwanken.“
Gerade weil Hegel nicht nur philosophisch, sondern in seinem ganzen intellektuellen Habitus Einspruch gegen das Unmittelbare einlegte, kann Kaube diesen intellektuellen Lebenslauf von der Seite seiner Offenheit und damit auch seines Überraschungsgehalts aus beschreiben. Oder mit Hegel formuliert: „Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen.“ Wer an diesem Reichtum und der ihn umgebenden Welt Anteil haben möchte, sollte Jürgen Kaubes Hegel-Biografie lesen.
Warum nahm er überhaupt das
Risiko in Kauf, sich auf
positives Wissen zu beziehen?
Er ist ein Philosoph der
gedanklichen und stilistischen
Rücksichtslosigkeit
Jürgen Kaube: Hegels Welt. Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 592 Seiten, 28 Euro.
Student am Tübinger Stift war Hegel von 1788 bis ’93. Dort nannte man ihn den „alten Mann“, was auf sein
Temperament als junger Mann schließen lässt. In seinem Stammbuch karikiert ihn sein Freund Georg
Friedrich Fallot als solchen: „Gott stehe dem alten Mann bey“. Foto: mauritius images / Alamy / The Picture Art Collection
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Geistesgeschichte ist bei Kaube Kulturgeschichte, und die Stärke Hegels war es, sich allen Wissensgebieten mit ganzer Person auszuliefern und dabei an den eigenen Erkenntnissen zu zweifeln. Dieses Sicheinlassen auf eine sich ändernde Welt macht Hegel so inspirierend für die Gegenwart, in der sich das unvoreingenommene Denken gegen falsche Gewissheiten, Wissenschaftsfeindlichkeit und Ausgrenzung von Schwächeren behaupten muss. Jurybegründung Sachbuch des Jahres 2021 20210614