Martin Heidegger zählt zu den wirkmächtigsten Denkern des 20. Jahrhunderts - zugleich ist er einer der umstrittensten, nicht zuletzt aufgrund seiner Parteinahme für den Nationalsozialismus 1933. Basierend auf neuesten Quellen erzählt Lorenz Jäger das Leben des Philosophen, der den Menschen und sein Dasein in der Welt auf ganz neue Weise gedacht hat - von der katholischen Kindheit in Meßkirch und den geistigen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre über den Nationalsozialismus bis weit in die Jahre des Wiederaufbaus hinein. Dabei begegnen uns Lehrer wie Edmund Husserl, dem 1936 die Lehrerlaubnis entzogen wurde, Vertraute wie Karl Jaspers und Hannah Arendt, deren so schwieriges wie intensives Verhältnis zu Heidegger über historische Brüche hinweg anhielt, Intellektuelle und Dichter wie Ernst Jünger und Paul Celan, die ihn in seiner Schwarzwaldhütte besuchten, bis hin zu späten Interpreten wie Lacan und Derrida. Warum Heidegger jede Generation aufs Neue fasziniert und polarisiert, sein Denken auch heute nichts an Bedeutung eingebüßt hat: Auch das zeigt Lorenz Jäger in dieser Biographie, die meisterhaft das Leben Heideggers erzählt - und zugleich ein deutsches Jahrhundert.
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Gnadenlos eingebettet
Vor sieben Jahren bewiesen die „Schwarzen Hefte“ zweifelsfrei Heideggers Antisemitismus. Lorenz Jäger wagt die erste Biografie nach den Enthüllungen
Geboren 1889 im badischen Meßkirch, ausgestattet mit humanistischer Bildung, empfänglich für die Schwingungen des Zeitgeistes, mischen sich bei Martin Heidegger früh Eigensinn und philosophischer Tiefsinn. Er geht Risiken ein: heiratet eine Protestantin, erkennt den unehelichen Sohn an, trennt sich von der katholischen Kirche, wendet sich ab vom in festen Bahnen denkenden Neukantianer Heinrich Rickert und der alles andere als etablierten Phänomenologie Edmund Husserls zu Sein Denken prägen intensive Lektüren von Augustinus und Luther, zurückgeblendet auf Aristoteles, später Platon. Der Erste Weltkrieg ist dabei als Erschütterungserfahrung stets im Hintergrund. Dass all das Etablierte weg muss, um zu etwas Neuem durchdringen zu können, das aber tatsächlich das Urälteste ist, ist Heideggers grundlegende Überzeugung. Erst wenn sich die Wahrheit „unverborgen“ zeigt, das Dasein, das wir selbst je sind, sichtbar wird, lässt sich Eigentliches denken und sagen.
1927 erscheint dann das Buch, um das sich alles weitere drehen wird: „Sein und Zeit“. Die Rede vom „Leben“ wird polemisch in die „Botanik“ geschoben, das „Dasein“ mit dem „Tod“ verkoppelt, auf den es unerbittlich zuläuft. Die unhistorische „Geschichtlichkeit“, aus der später das „Geschick“ werden wird, lässt alle Ethik hinter sich, ein mögliches „Ich“ muss nicht weiter bedacht werden. Über all dem thront das Sein oder das Seyn und mit ihnen, weil nach und nach einzig er ihnen Ausdruck verleihen kann: Martin Heidegger.
Wie ungeheuer flexibel dieses Schema ist, nicht zuletzt deshalb, weil sein Erfinder einer der genauesten und gewalttätigsten Leser ist, den die Philosophie je gesehen hat, zeigt sich im „Dritten Reich“. Von hochmütiger Weltabgewandtheit und sich zugleich den Zeitläuften ganz ausliefernd, treten ihm die „Ereignisse“ als zu deutende Phänomene der „Seinsgeschichte“ entgegen. Treffen sie ihn nicht direkt, werden sie gnadenlos eingebettet in die nie stillstehende „Besinnung“. Hölderlin sorgt fürs Helle, die Vorsokratiker bewahren die Möglichkeit eines „anderen Anfangs“ in sich, der noch freigelegt werden muss.
Ansonsten herrscht spätestens ab 1939 die „Machenschaft“, die „Bolschewismus“, „Amerikanismus“, das „Judentum“ und auch die sich selbst nicht verstehenden „Deutschen“ in den Schlund des „Riesenhaften“ und falsch verstandener Metaphysik drücken wird. Daneben, dazwischen, darüber, je nach Denksituation, hauchzarte Dichtungsauslegung und filigrane Deutungsbemühungen der von Heidegger neu angeordneten „Tradition“.
Von hier aus geht es in die Nachkriegszeit. Sein „Dasein“, nicht sein „Leben“, werden öffentlich sichtbar. Zusammen mit anderen, die den Zweiten Weltkrieg überstanden hatten und behaupteten von der Schoah, wenn überhaupt, allenfalls in der Form von Gerüchten oder „Nachrichten“ erfahren zu haben, und sich gegen deren bloßer Benennung oder ihrer Deutung als singulärem Einschnitt in der Menschheitsgeschichte wehrten, beginnt Heideggers eigentliche Karriere. „Holzwege“, „Vorträge und Aufsätze“ und „Wegmarken“ heißen Bände, die über Jahrzehnte jeder Philosophiestudierende „intus“ haben musste.
Heideggers Geschichte bleibt bis zum „Tod“ im Jahr 1976 eine äußerst erfolgreiche. Als es so weit ist, ist alles geordnet: Die „Gesamtausgabe“ steuert unaufhaltsam auf die 100-Bände-Marke zu – und die globale Rezeption belegt seinen außerordentlichen Rang. Die eng mit dem Werk verwobenen, seit 2014 erscheinenden „Schwarzen Hefte“, legen die Fundierung von Heideggers Denken offen. Von ihnen aus muss das Werk neu erschlossen werden.
Biographische Darstellungen Martin Heideggers in deutscher Sprache sind gleichwohl selten. Der gerade 90 Jahre alt gewordene Historiker Hugo Ott präsentierte 1992 eine „vorläufige“, die ein Muster an archivbasierter Analyse darstellt. Zwei Jahre später folgte Rüdiger Safranski, der Heidegger als „Meister aus Deutschland“ präsentierte. Der stets nüchterne Manfred Geier ersetzte 2005 die alte rororo-Bildmonografie des Heidegger-Schülers Walter Biemel. Es wurde also Zeit, eine neue biografische Summe zu ziehen.
Mit Lorenz Jäger nimmt sich nun allerdings ein ganz anderer Intellektuellentypus als die Genannten dem Denker an. Von 1997 bis 2016 war der 1951 Geborene Redakteur und kurzzeitig Leiter des Ressorts „Geisteswissenschaften“ in der FAZ. Der promovierte Germanist legte ab 2003 eine Reihe von eng verzahnten Studien vor, die auf eine Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts hinauslaufen.
In jedem Falle darf man sich auf ein beneidenswert gut geschriebenes und klug komponiertes Buch freuen, das den Mut zur Auswahl hat. So gelingt Jäger eine eindringliche Darstellung des jungen Heidegger und der vom Helden stets viel beschworenen „Herkunft“ seines Denkens aus dem Alemannischen und der sich von Meßkirch und bis nach Todtnauberg erstreckenden Landschaft. Glaubhaft im Wortsinn ist, was auf den ersten 100 Seiten entwickelt wird. Dort wird zudem ein auf immer verlorenes natürliches Umfeld rekonstruiert, für das die Einheit von Kirche und Bildung selbstverständlich ist.
Was Jäger zitiert, ist stets wohlerwogen. Er liest zudem sehr genau. Das Buch, auf ausschließlich publizierten Schriften basierend, zwingt durch die vorgenommenen Arrangements auch erfahrene Leser die Schriften Heideggers oder Karls Jaspers’ nochmals in die Hand zu nehmen. Und es ist überzeugend und aufklärend, wenn Jäger Argumente und Denkmotive des frühen Heidegger bis weit in die Dreißigerjahre und auch darüber hinaus als maßgeblich für dessen Denken erachtet. „Es gibt Unwahrheit, sicher, aber sie firmiert unter dem Titel ‚irre‘. Irre ist in dieser Lesart ebenso eine Versuchung wie ein Ausweis der Größe. In die ‚Irre‘ und in den ‚Irrtum‘ war er im Nationalsozialismus gegangen, mehr ins Detail zu gehen war seine Sache nicht. Alles Verhalten wird in so ragende Höhen und große Dimensionen gebracht, dass es im Alltag nicht mehr fassbar wird, nicht angesprochen werden kann. Größe bedeutet großes Irren: Das wird die Formel, unter der Heidegger sein Leben verstehen wird. Mit zwanzig Jahren hat er sie gefunden.“ Die Passage vermittelt einen guten Eindruck von Jägers Abgeklärtheit. Der Analyst der Irrungen und Wirrungen ideologischer Grabenkämpfe skandalisiert nicht Heideggers späteres Beiseiteschieben des nationalsozialistischen Engagements, sondern notiert es.
Mit Gewinn lesen sich auch die Kapitel zu Hannah Arendt und Karl Löwith, deren Werke in sehr unterschiedlicher Weise auf Heidegger bezogen sind. Jäger kann auch der Auseinandersetzung mit Jaspers viel abgewinnen. Ein kleines Meisterstück ist in den Jaspers-Passagen die Deutung von Heideggers Besprechung der „Psychologie der Weltanschauungen“. Darin kann Jäger zeigen, wie sehr Heidegger bei anderen Ambivalenzen freilegen konnte, denen gegenüber er selbst nahezu blind war. Ein Coup gelingt Jäger mit dem Germanisten Max Kommerell, der sich als teilnehmender Beobachter in die Nähe Heideggers begab, um dessen Denkstil zu erkunden.
Mit Kommerell sind wir bei Hölderlin. Nirgendwo sonst gesteht der Biograf Heidegger so viel Eskapismus, denkerische „Höhe“ und Auslegungsfreiheiten zu wie hier. Hölderlin ist denn auch die Kippfigur des Buches, sozusagen ein zweiter Held. In ihm lässt Jäger Heidegger sich nochmals spiegeln und ins vermeintlich Freie treten: „Die höchste Auffassung vom Dichterischen ist verschwistert mit der Häresie: So lässt sich die zerreißende Konstellation beschreiben, in der Heidegger, ein religiös aufs Äußerste krisengeschüttelter Mensch, in Hölderlins Hymnen den ihm gemäßen Gegenstand des Denkens entdeckt. Eine Geste der Distanzierung Heideggers gegenüber der herrschenden Wirklichkeit wird erkennbar.“
Ist das so? Die Frage stellt sich immer wieder, wenn in Jäger der Ideologiehistoriker hervortritt. Denn der Ideologiehistoriker löst die zuvor virtuos belegte Verwobenheit von Leben, Dasein, Tod und Sein auf, fügt in die „Distanzierung“ mehr und mehr eigenwillige, ja, absurde Vergleiche ein. Diese dienen nicht einer Verharmlosung von Heideggers Antisemitismus, hier ist Jäger völlig klar, vielmehr glaubt der Biograf im Ungefähren bleiben zu müssen, bis hin zur Klitterung. Wie in seiner Adorno-Biografie vermag er nicht hinzuschreiben, dass am 1. September 1939 von der Reichswehr Polen überfallen wurde. Der übermäßige Einsatz des Wortes „unheimlich“ ist bei einem so genauen Kenner historischer Abläufe selbst unheimlich.
Ärgerlich, weil teilweise schlicht falsch, sind die Bemerkungen zu Herbert Marcuse. Und was Jäger von der „jüdischen Armee“ faselt, hätte ihm ein gnädiger Lektor rausstreichen müssen. Gelegentlich scheint es, als habe der Biograf das früh im Buch auftauchende Wort „Weltbürgerkrieg“ dadurch rechtfertigen wollen, indem er später immer wieder kleine Scharmützel inszeniert und dabei wirkt, als wolle er alten Kameraden zurufen, er sei wieder auf ihrer Seite. Doch Jäger kann leicht gegen Jäger verteidigt werden. Seine Heidegger-Biografie sollte man trotz der Einwände unbedingt lesen.
THOMAS MEYER
Bei anderen konnte er
Ambivalenzen freilegen, denen
gegenüber er selbst blind war
Martin Heidegger im Jahr 1960.
Foto: SZ Photo
Lorenz Jäger:
Heidegger.
Ein deutsches Leben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021.
604 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vor sieben Jahren bewiesen die „Schwarzen Hefte“ zweifelsfrei Heideggers Antisemitismus. Lorenz Jäger wagt die erste Biografie nach den Enthüllungen
Geboren 1889 im badischen Meßkirch, ausgestattet mit humanistischer Bildung, empfänglich für die Schwingungen des Zeitgeistes, mischen sich bei Martin Heidegger früh Eigensinn und philosophischer Tiefsinn. Er geht Risiken ein: heiratet eine Protestantin, erkennt den unehelichen Sohn an, trennt sich von der katholischen Kirche, wendet sich ab vom in festen Bahnen denkenden Neukantianer Heinrich Rickert und der alles andere als etablierten Phänomenologie Edmund Husserls zu Sein Denken prägen intensive Lektüren von Augustinus und Luther, zurückgeblendet auf Aristoteles, später Platon. Der Erste Weltkrieg ist dabei als Erschütterungserfahrung stets im Hintergrund. Dass all das Etablierte weg muss, um zu etwas Neuem durchdringen zu können, das aber tatsächlich das Urälteste ist, ist Heideggers grundlegende Überzeugung. Erst wenn sich die Wahrheit „unverborgen“ zeigt, das Dasein, das wir selbst je sind, sichtbar wird, lässt sich Eigentliches denken und sagen.
1927 erscheint dann das Buch, um das sich alles weitere drehen wird: „Sein und Zeit“. Die Rede vom „Leben“ wird polemisch in die „Botanik“ geschoben, das „Dasein“ mit dem „Tod“ verkoppelt, auf den es unerbittlich zuläuft. Die unhistorische „Geschichtlichkeit“, aus der später das „Geschick“ werden wird, lässt alle Ethik hinter sich, ein mögliches „Ich“ muss nicht weiter bedacht werden. Über all dem thront das Sein oder das Seyn und mit ihnen, weil nach und nach einzig er ihnen Ausdruck verleihen kann: Martin Heidegger.
Wie ungeheuer flexibel dieses Schema ist, nicht zuletzt deshalb, weil sein Erfinder einer der genauesten und gewalttätigsten Leser ist, den die Philosophie je gesehen hat, zeigt sich im „Dritten Reich“. Von hochmütiger Weltabgewandtheit und sich zugleich den Zeitläuften ganz ausliefernd, treten ihm die „Ereignisse“ als zu deutende Phänomene der „Seinsgeschichte“ entgegen. Treffen sie ihn nicht direkt, werden sie gnadenlos eingebettet in die nie stillstehende „Besinnung“. Hölderlin sorgt fürs Helle, die Vorsokratiker bewahren die Möglichkeit eines „anderen Anfangs“ in sich, der noch freigelegt werden muss.
Ansonsten herrscht spätestens ab 1939 die „Machenschaft“, die „Bolschewismus“, „Amerikanismus“, das „Judentum“ und auch die sich selbst nicht verstehenden „Deutschen“ in den Schlund des „Riesenhaften“ und falsch verstandener Metaphysik drücken wird. Daneben, dazwischen, darüber, je nach Denksituation, hauchzarte Dichtungsauslegung und filigrane Deutungsbemühungen der von Heidegger neu angeordneten „Tradition“.
Von hier aus geht es in die Nachkriegszeit. Sein „Dasein“, nicht sein „Leben“, werden öffentlich sichtbar. Zusammen mit anderen, die den Zweiten Weltkrieg überstanden hatten und behaupteten von der Schoah, wenn überhaupt, allenfalls in der Form von Gerüchten oder „Nachrichten“ erfahren zu haben, und sich gegen deren bloßer Benennung oder ihrer Deutung als singulärem Einschnitt in der Menschheitsgeschichte wehrten, beginnt Heideggers eigentliche Karriere. „Holzwege“, „Vorträge und Aufsätze“ und „Wegmarken“ heißen Bände, die über Jahrzehnte jeder Philosophiestudierende „intus“ haben musste.
Heideggers Geschichte bleibt bis zum „Tod“ im Jahr 1976 eine äußerst erfolgreiche. Als es so weit ist, ist alles geordnet: Die „Gesamtausgabe“ steuert unaufhaltsam auf die 100-Bände-Marke zu – und die globale Rezeption belegt seinen außerordentlichen Rang. Die eng mit dem Werk verwobenen, seit 2014 erscheinenden „Schwarzen Hefte“, legen die Fundierung von Heideggers Denken offen. Von ihnen aus muss das Werk neu erschlossen werden.
Biographische Darstellungen Martin Heideggers in deutscher Sprache sind gleichwohl selten. Der gerade 90 Jahre alt gewordene Historiker Hugo Ott präsentierte 1992 eine „vorläufige“, die ein Muster an archivbasierter Analyse darstellt. Zwei Jahre später folgte Rüdiger Safranski, der Heidegger als „Meister aus Deutschland“ präsentierte. Der stets nüchterne Manfred Geier ersetzte 2005 die alte rororo-Bildmonografie des Heidegger-Schülers Walter Biemel. Es wurde also Zeit, eine neue biografische Summe zu ziehen.
Mit Lorenz Jäger nimmt sich nun allerdings ein ganz anderer Intellektuellentypus als die Genannten dem Denker an. Von 1997 bis 2016 war der 1951 Geborene Redakteur und kurzzeitig Leiter des Ressorts „Geisteswissenschaften“ in der FAZ. Der promovierte Germanist legte ab 2003 eine Reihe von eng verzahnten Studien vor, die auf eine Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts hinauslaufen.
In jedem Falle darf man sich auf ein beneidenswert gut geschriebenes und klug komponiertes Buch freuen, das den Mut zur Auswahl hat. So gelingt Jäger eine eindringliche Darstellung des jungen Heidegger und der vom Helden stets viel beschworenen „Herkunft“ seines Denkens aus dem Alemannischen und der sich von Meßkirch und bis nach Todtnauberg erstreckenden Landschaft. Glaubhaft im Wortsinn ist, was auf den ersten 100 Seiten entwickelt wird. Dort wird zudem ein auf immer verlorenes natürliches Umfeld rekonstruiert, für das die Einheit von Kirche und Bildung selbstverständlich ist.
Was Jäger zitiert, ist stets wohlerwogen. Er liest zudem sehr genau. Das Buch, auf ausschließlich publizierten Schriften basierend, zwingt durch die vorgenommenen Arrangements auch erfahrene Leser die Schriften Heideggers oder Karls Jaspers’ nochmals in die Hand zu nehmen. Und es ist überzeugend und aufklärend, wenn Jäger Argumente und Denkmotive des frühen Heidegger bis weit in die Dreißigerjahre und auch darüber hinaus als maßgeblich für dessen Denken erachtet. „Es gibt Unwahrheit, sicher, aber sie firmiert unter dem Titel ‚irre‘. Irre ist in dieser Lesart ebenso eine Versuchung wie ein Ausweis der Größe. In die ‚Irre‘ und in den ‚Irrtum‘ war er im Nationalsozialismus gegangen, mehr ins Detail zu gehen war seine Sache nicht. Alles Verhalten wird in so ragende Höhen und große Dimensionen gebracht, dass es im Alltag nicht mehr fassbar wird, nicht angesprochen werden kann. Größe bedeutet großes Irren: Das wird die Formel, unter der Heidegger sein Leben verstehen wird. Mit zwanzig Jahren hat er sie gefunden.“ Die Passage vermittelt einen guten Eindruck von Jägers Abgeklärtheit. Der Analyst der Irrungen und Wirrungen ideologischer Grabenkämpfe skandalisiert nicht Heideggers späteres Beiseiteschieben des nationalsozialistischen Engagements, sondern notiert es.
Mit Gewinn lesen sich auch die Kapitel zu Hannah Arendt und Karl Löwith, deren Werke in sehr unterschiedlicher Weise auf Heidegger bezogen sind. Jäger kann auch der Auseinandersetzung mit Jaspers viel abgewinnen. Ein kleines Meisterstück ist in den Jaspers-Passagen die Deutung von Heideggers Besprechung der „Psychologie der Weltanschauungen“. Darin kann Jäger zeigen, wie sehr Heidegger bei anderen Ambivalenzen freilegen konnte, denen gegenüber er selbst nahezu blind war. Ein Coup gelingt Jäger mit dem Germanisten Max Kommerell, der sich als teilnehmender Beobachter in die Nähe Heideggers begab, um dessen Denkstil zu erkunden.
Mit Kommerell sind wir bei Hölderlin. Nirgendwo sonst gesteht der Biograf Heidegger so viel Eskapismus, denkerische „Höhe“ und Auslegungsfreiheiten zu wie hier. Hölderlin ist denn auch die Kippfigur des Buches, sozusagen ein zweiter Held. In ihm lässt Jäger Heidegger sich nochmals spiegeln und ins vermeintlich Freie treten: „Die höchste Auffassung vom Dichterischen ist verschwistert mit der Häresie: So lässt sich die zerreißende Konstellation beschreiben, in der Heidegger, ein religiös aufs Äußerste krisengeschüttelter Mensch, in Hölderlins Hymnen den ihm gemäßen Gegenstand des Denkens entdeckt. Eine Geste der Distanzierung Heideggers gegenüber der herrschenden Wirklichkeit wird erkennbar.“
Ist das so? Die Frage stellt sich immer wieder, wenn in Jäger der Ideologiehistoriker hervortritt. Denn der Ideologiehistoriker löst die zuvor virtuos belegte Verwobenheit von Leben, Dasein, Tod und Sein auf, fügt in die „Distanzierung“ mehr und mehr eigenwillige, ja, absurde Vergleiche ein. Diese dienen nicht einer Verharmlosung von Heideggers Antisemitismus, hier ist Jäger völlig klar, vielmehr glaubt der Biograf im Ungefähren bleiben zu müssen, bis hin zur Klitterung. Wie in seiner Adorno-Biografie vermag er nicht hinzuschreiben, dass am 1. September 1939 von der Reichswehr Polen überfallen wurde. Der übermäßige Einsatz des Wortes „unheimlich“ ist bei einem so genauen Kenner historischer Abläufe selbst unheimlich.
Ärgerlich, weil teilweise schlicht falsch, sind die Bemerkungen zu Herbert Marcuse. Und was Jäger von der „jüdischen Armee“ faselt, hätte ihm ein gnädiger Lektor rausstreichen müssen. Gelegentlich scheint es, als habe der Biograf das früh im Buch auftauchende Wort „Weltbürgerkrieg“ dadurch rechtfertigen wollen, indem er später immer wieder kleine Scharmützel inszeniert und dabei wirkt, als wolle er alten Kameraden zurufen, er sei wieder auf ihrer Seite. Doch Jäger kann leicht gegen Jäger verteidigt werden. Seine Heidegger-Biografie sollte man trotz der Einwände unbedingt lesen.
THOMAS MEYER
Bei anderen konnte er
Ambivalenzen freilegen, denen
gegenüber er selbst blind war
Martin Heidegger im Jahr 1960.
Foto: SZ Photo
Lorenz Jäger:
Heidegger.
Ein deutsches Leben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021.
604 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Karl-Heinz Ott hätte es gern gesehen, dass in einer Heidegger-Biografie einmal Derrida auftritt und Heideggers "etymologisierendes Sinnieren" als "Rustikalkitsch" entlarvt. Bei Lorenz Jäger kann er da lange suchen. Jäger folgt Heideggers Lebens- und Denkensweg (im Grunde ein und dasselbe, findet Ott), ja sogar seinen Affären mit Wohlwollen, stellt der Rezensent naserümpfend fest. Zwar lässt der Autor laut Ott Heideggers Abwehr des Jüdischen nicht unerwähnt, doch konzentriert er sich lieber auf Heideggers bäuerliche Herkunft, den daher rührenden Widerstand gegen die Meinungsmacht eines "urbanen Milieus" und Heideggers Philosophie der Erregung, die der Autor für radikaler hält als etwa das Denken der Frankfurter Schule, so hält Ott fest. Als Einführung in Heideggers Leben taugt das Buch trefflich, nur setzt es eben auf Einfühlung, gibt der Rezensent zu bedenken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Ohne Affären kein Denken des Seyns
Das bloß Philosophische war ihm eben nicht genug: Lorenz Jäger legt eine einfühlsame Biographie von Martin Heidegger vor.
Von Karl-Heinz Ott
Hält man eine Biographie Martin Heideggers in Händen, kommt einem unwillkürlich die Anekdote in den Sinn, wonach er eine Aristoteles-Vorlesung mit den Worten eingeleitet haben soll: "Er wurde geboren, arbeitete und starb. Kommen wir zur Sache." Bei Heidegger fällt es schwer, das Denken vom Leben zu trennen. Schließlich glaubte er, mit Hitler breche ein neuer Äon an, in dem das Denken zu seinen Ursprüngen zurückfindet und die Herrschaft einer logizistischen Vernunft überwindet, die mit Sokrates einsetzt und in der Neuzeit einem fatalen Höhepunkt zustrebt. Bald sieht Heidegger sich von Hitler enttäuscht. Was er nie laut bekennt. Er deutet seine um 1934 einsetzende Hinwendung zu Nietzsche und Hölderlin im Nachhinein als Abkehr vom Nationalsozialismus. Klartext spricht Heidegger selten, und wenn er es tut wie in den "Schwarzen Heften", gilt er in erster Linie Juden und christlich-humanistischen Moralisten. Er bestätigt ihnen eine Seinsferne, die sich in einem Denken offenbart, das nur die Kategorien von Soll und Haben, Schuld und Sühne, Gut und Böse kennt. Weiter reicht ihr Horizont nicht.
Alle diese Dinge spielen in Lorenz Jägers Biographie eine keineswegs kleine Rolle, allerdings überschatten sie nicht Heideggers gesamten gedanklichen Kosmos. Jäger zitiert Sätze, in denen Heidegger das amerikanische Unwesen der Siegermächte für schlimmer hält als das millionenhafte Morden der Nazis. Ebenso verweist er auf seine Abwehr jüdisch-christlicher Traditionslinien, die für ihn aus einem Schwall an Moral bestehen und rechnerischem Kalkül. Jägers Kommentar: "Zweifellos hat Heidegger an dieser Stelle den Tiefpunkt seines Denkens erreicht." Da zu diesem Komplex jedoch alles gesagt scheint, konzentriert er sich auf einen Heidegger, der angesichts nicht endender Kritik erst wieder freigelegt werden will.
Gleich in den ersten Sätzen lässt er die bäuerlich geprägte schwäbische Welt des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts erstehen, eine Welt, der Heidegger weder je entkommt noch entkommen will. Wollte man seiner Biographie eine zentrale These entnehmen, liefe sie darauf hinaus, dass Heidegger von klein auf erfahren muss, was es heißt, unter der Vorherrschaft von Meinungsmächten zu leben, die einhergeht mit politischer und ökonomischer Dominanz. Bis zuletzt fühlt er sich auf einsamem Posten, im Widerstand gegen ein urbanes Milieu, das protestantisch, jüdisch, linksgeistig geprägt ist und aus der Aufklärung einen Gott macht.
Dass Jäger sich Heidegger näher fühlt als seinen Kritikern, daran lässt er keinen Zweifel. Adornos "Gesten psychoanalytischer und marxistischer Entlarvung" zeugen für ihn von verstiegener Überheblichkeit, Habermas charakterisiert er als "philosophischen Polemiker". Sie repräsentieren jenes "feuilletonistische Zeitalter", dem Heidegger sich entgegenstemmt. Doch nicht bloß an dieser Front steht für Jäger fest, wer sich lediglich auf der Ebene humanistischer Kulturexerzitien bewegt und wo wirkliche Tiefe sich Bahn bricht. Was den berühmten Davoser Disput angeht, urteilt er über Ernst Cassirer: "Er ist kein König der Philosophie, sondern Sprecher einer Gelehrtenrepublik." Selbst Karl Löwith, der mit Heidegger befreundete Schüler, wird für ihn zum zwanghaft Renitenten, als er dem Lehrer die Abdrift in eine "neue, an Eckhart gemahnende Seinsmystik" bescheinigt, an der sich argumentativ nichts mehr einholen lässt.
Erstaunlicherweise diagnostiziert Jäger genau das Gleiche. Nur dass es ihn nicht im Geringsten befremdet. Auch er verweist ausdrücklich auf Meister Eckhardt nebst Paulus, Augustinus, Pascal und Kierkegaard. Sie alle bilden Heideggers maßgebliche Stichwortgeber, weit mehr als die Phalanx der Philosophen. Nur tritt bei ihm an die Stelle Gottes das Seyn. Wobei die Kernelemente des religiösen Denkens beibehalten werden: hier das Leben im Falschen, dort das Leben im Wahren; hier die "Verfallenheit ans Man", dort der Sprung in die Eigentlichkeit. Was sich biblisch Sünde nennt, nennt sich bei Heidegger Seinsvergessenheit. Jäger spricht von "überkonfessioneller Religiosität", "postchristlicher Haltung" und einer "Theologie ohne Erlösung".
Nie geht es um reine Erkenntnis, immer geht es um die Existenz. Oder um es in Jägers Worten zu sagen: um Erregung. Darin besteht für ihn das Wesen von Heideggers Philosophie, die über alles bloß Philosophische hinaus strebt. Deshalb verlässt er auch das angestammte Terrain einer Terminologie, die den Blick aufs Seyn eher verstellt, als dass sie ihn öffnet. Heidegger will unsere jahrhunderte- und jahrtausendealten Begriffsgestelle rigoros abbauen, womit er für Jäger jeden anderen Denker an Radikalität übertrifft. Zwar könnte man einwenden, dass die Frankfurter Schule nicht weniger radikal mit der abendländischen Rationalitätsherrschaft ins Gericht geht, nur dass sie nicht vom "rechnenden Denken" redet, sondern von "instrumenteller Vernunft". Für Jäger jedoch steht fest, dass es sich dort um wohlfeile Gesellschaftskritik handelt, während Heidegger keinen einzigen Stein auf dem andern lässt.
Was Heideggers Erregungselement angeht, beschränkt es sich in keiner Weise aufs Denken allein, vielmehr gelangt das Denken erst in Fahrt, wenn erotische Wogen anbranden. Seine ständigen Affären rechtfertigt er seiner Frau gegenüber mit dem Argument, er bedürfe ihrer um des Denkens willen, andernfalls würde jede Energie versiegen. Einerseits attestiert Jäger ihm eine grenzenlose Egozentrik, andererseits gerät er regelrecht ins Schwärmen, wenn er sich über Seiten hinweg in seine Liebesbeziehungen einfühlt. Statt sie platonisch zu überhöhen, könnte man auch von einer Sucht nach narzisstischer Zufuhr reden, ganz zu schweigen vom machtvollen Spiel mit Abhängigkeiten, wie nicht nur die Geschichte mit der siebzehn Jahre jüngeren Studentin namens Hannah Arendt zeigt. Wie wenig Heidegger freilich von solchen heutigen Mokerien hielte, belegt seine Bemerkung, er wolle sich "nie etwas psychologisierend an demonstrieren lassen". Schließlich geht es ihm ja gerade darum, unserem modischen Psychologisieren und Soziologisieren ein "wesentliches Denken" entgegenzusetzen.
Einige zentrale Punkte spart Jäger überraschenderweise aus. Keinerlei Erwähnung findet Heideggers Überbietungsanspruch gegenüber Nietzsche, dem er vorhält, die Metaphysik noch nicht hinter sich gelassen zu haben. Hegel wiederum erscheint als willkommener Inspirationsquell, obwohl Heidegger sich dezidiert in Opposition zu ihm begibt, wenn er ihm ein leeres Geschichtsdenken vorhält, in dem sich der neuzeitliche Fortschrittswahn spiegelt. Nicht anders verhält es sich mit Sokrates, der in keiner einzigen Zeile als der unheilvolle Architekt unserer abendländischen Rationalitätsversessenheit auftritt. Auch wer einen Überblick gewinnen will über die Debatten nach Heideggers Tod, geht leer aus. Der Name Farías taucht so wenig auf wie der von Hugo Ott. Derrida dient erstmals auf der vorletzten Seite als Beleg dafür, dass man in Frankreich keine deutschen Scheuklappen besitzt. Dabei ließe sich mit ihm vorführen, wie man Heideggers etymologisierendes Sinnieren ad absurdum führt. Während Jäger Heideggers Deutung von van Goghs Bauernschuhen lediglich referiert, treibt Derrida sie auf die Spitze, und zwar so sehr, dass davon nichts bleibt außer Rustikalkitsch.
Wer sich über Heideggers Leben kundig machen will, ist mit dem Buch von Lorenz Jäger bestens bedient. Er geht den Weg narrativer Einfühlung, voller Wohlwollen, um nicht zu sagen Bewunderung.
Lorenz Jäger: "Heidegger". Ein deutsches Leben.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 608 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das bloß Philosophische war ihm eben nicht genug: Lorenz Jäger legt eine einfühlsame Biographie von Martin Heidegger vor.
Von Karl-Heinz Ott
Hält man eine Biographie Martin Heideggers in Händen, kommt einem unwillkürlich die Anekdote in den Sinn, wonach er eine Aristoteles-Vorlesung mit den Worten eingeleitet haben soll: "Er wurde geboren, arbeitete und starb. Kommen wir zur Sache." Bei Heidegger fällt es schwer, das Denken vom Leben zu trennen. Schließlich glaubte er, mit Hitler breche ein neuer Äon an, in dem das Denken zu seinen Ursprüngen zurückfindet und die Herrschaft einer logizistischen Vernunft überwindet, die mit Sokrates einsetzt und in der Neuzeit einem fatalen Höhepunkt zustrebt. Bald sieht Heidegger sich von Hitler enttäuscht. Was er nie laut bekennt. Er deutet seine um 1934 einsetzende Hinwendung zu Nietzsche und Hölderlin im Nachhinein als Abkehr vom Nationalsozialismus. Klartext spricht Heidegger selten, und wenn er es tut wie in den "Schwarzen Heften", gilt er in erster Linie Juden und christlich-humanistischen Moralisten. Er bestätigt ihnen eine Seinsferne, die sich in einem Denken offenbart, das nur die Kategorien von Soll und Haben, Schuld und Sühne, Gut und Böse kennt. Weiter reicht ihr Horizont nicht.
Alle diese Dinge spielen in Lorenz Jägers Biographie eine keineswegs kleine Rolle, allerdings überschatten sie nicht Heideggers gesamten gedanklichen Kosmos. Jäger zitiert Sätze, in denen Heidegger das amerikanische Unwesen der Siegermächte für schlimmer hält als das millionenhafte Morden der Nazis. Ebenso verweist er auf seine Abwehr jüdisch-christlicher Traditionslinien, die für ihn aus einem Schwall an Moral bestehen und rechnerischem Kalkül. Jägers Kommentar: "Zweifellos hat Heidegger an dieser Stelle den Tiefpunkt seines Denkens erreicht." Da zu diesem Komplex jedoch alles gesagt scheint, konzentriert er sich auf einen Heidegger, der angesichts nicht endender Kritik erst wieder freigelegt werden will.
Gleich in den ersten Sätzen lässt er die bäuerlich geprägte schwäbische Welt des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts erstehen, eine Welt, der Heidegger weder je entkommt noch entkommen will. Wollte man seiner Biographie eine zentrale These entnehmen, liefe sie darauf hinaus, dass Heidegger von klein auf erfahren muss, was es heißt, unter der Vorherrschaft von Meinungsmächten zu leben, die einhergeht mit politischer und ökonomischer Dominanz. Bis zuletzt fühlt er sich auf einsamem Posten, im Widerstand gegen ein urbanes Milieu, das protestantisch, jüdisch, linksgeistig geprägt ist und aus der Aufklärung einen Gott macht.
Dass Jäger sich Heidegger näher fühlt als seinen Kritikern, daran lässt er keinen Zweifel. Adornos "Gesten psychoanalytischer und marxistischer Entlarvung" zeugen für ihn von verstiegener Überheblichkeit, Habermas charakterisiert er als "philosophischen Polemiker". Sie repräsentieren jenes "feuilletonistische Zeitalter", dem Heidegger sich entgegenstemmt. Doch nicht bloß an dieser Front steht für Jäger fest, wer sich lediglich auf der Ebene humanistischer Kulturexerzitien bewegt und wo wirkliche Tiefe sich Bahn bricht. Was den berühmten Davoser Disput angeht, urteilt er über Ernst Cassirer: "Er ist kein König der Philosophie, sondern Sprecher einer Gelehrtenrepublik." Selbst Karl Löwith, der mit Heidegger befreundete Schüler, wird für ihn zum zwanghaft Renitenten, als er dem Lehrer die Abdrift in eine "neue, an Eckhart gemahnende Seinsmystik" bescheinigt, an der sich argumentativ nichts mehr einholen lässt.
Erstaunlicherweise diagnostiziert Jäger genau das Gleiche. Nur dass es ihn nicht im Geringsten befremdet. Auch er verweist ausdrücklich auf Meister Eckhardt nebst Paulus, Augustinus, Pascal und Kierkegaard. Sie alle bilden Heideggers maßgebliche Stichwortgeber, weit mehr als die Phalanx der Philosophen. Nur tritt bei ihm an die Stelle Gottes das Seyn. Wobei die Kernelemente des religiösen Denkens beibehalten werden: hier das Leben im Falschen, dort das Leben im Wahren; hier die "Verfallenheit ans Man", dort der Sprung in die Eigentlichkeit. Was sich biblisch Sünde nennt, nennt sich bei Heidegger Seinsvergessenheit. Jäger spricht von "überkonfessioneller Religiosität", "postchristlicher Haltung" und einer "Theologie ohne Erlösung".
Nie geht es um reine Erkenntnis, immer geht es um die Existenz. Oder um es in Jägers Worten zu sagen: um Erregung. Darin besteht für ihn das Wesen von Heideggers Philosophie, die über alles bloß Philosophische hinaus strebt. Deshalb verlässt er auch das angestammte Terrain einer Terminologie, die den Blick aufs Seyn eher verstellt, als dass sie ihn öffnet. Heidegger will unsere jahrhunderte- und jahrtausendealten Begriffsgestelle rigoros abbauen, womit er für Jäger jeden anderen Denker an Radikalität übertrifft. Zwar könnte man einwenden, dass die Frankfurter Schule nicht weniger radikal mit der abendländischen Rationalitätsherrschaft ins Gericht geht, nur dass sie nicht vom "rechnenden Denken" redet, sondern von "instrumenteller Vernunft". Für Jäger jedoch steht fest, dass es sich dort um wohlfeile Gesellschaftskritik handelt, während Heidegger keinen einzigen Stein auf dem andern lässt.
Was Heideggers Erregungselement angeht, beschränkt es sich in keiner Weise aufs Denken allein, vielmehr gelangt das Denken erst in Fahrt, wenn erotische Wogen anbranden. Seine ständigen Affären rechtfertigt er seiner Frau gegenüber mit dem Argument, er bedürfe ihrer um des Denkens willen, andernfalls würde jede Energie versiegen. Einerseits attestiert Jäger ihm eine grenzenlose Egozentrik, andererseits gerät er regelrecht ins Schwärmen, wenn er sich über Seiten hinweg in seine Liebesbeziehungen einfühlt. Statt sie platonisch zu überhöhen, könnte man auch von einer Sucht nach narzisstischer Zufuhr reden, ganz zu schweigen vom machtvollen Spiel mit Abhängigkeiten, wie nicht nur die Geschichte mit der siebzehn Jahre jüngeren Studentin namens Hannah Arendt zeigt. Wie wenig Heidegger freilich von solchen heutigen Mokerien hielte, belegt seine Bemerkung, er wolle sich "nie etwas psychologisierend an demonstrieren lassen". Schließlich geht es ihm ja gerade darum, unserem modischen Psychologisieren und Soziologisieren ein "wesentliches Denken" entgegenzusetzen.
Einige zentrale Punkte spart Jäger überraschenderweise aus. Keinerlei Erwähnung findet Heideggers Überbietungsanspruch gegenüber Nietzsche, dem er vorhält, die Metaphysik noch nicht hinter sich gelassen zu haben. Hegel wiederum erscheint als willkommener Inspirationsquell, obwohl Heidegger sich dezidiert in Opposition zu ihm begibt, wenn er ihm ein leeres Geschichtsdenken vorhält, in dem sich der neuzeitliche Fortschrittswahn spiegelt. Nicht anders verhält es sich mit Sokrates, der in keiner einzigen Zeile als der unheilvolle Architekt unserer abendländischen Rationalitätsversessenheit auftritt. Auch wer einen Überblick gewinnen will über die Debatten nach Heideggers Tod, geht leer aus. Der Name Farías taucht so wenig auf wie der von Hugo Ott. Derrida dient erstmals auf der vorletzten Seite als Beleg dafür, dass man in Frankreich keine deutschen Scheuklappen besitzt. Dabei ließe sich mit ihm vorführen, wie man Heideggers etymologisierendes Sinnieren ad absurdum führt. Während Jäger Heideggers Deutung von van Goghs Bauernschuhen lediglich referiert, treibt Derrida sie auf die Spitze, und zwar so sehr, dass davon nichts bleibt außer Rustikalkitsch.
Wer sich über Heideggers Leben kundig machen will, ist mit dem Buch von Lorenz Jäger bestens bedient. Er geht den Weg narrativer Einfühlung, voller Wohlwollen, um nicht zu sagen Bewunderung.
Lorenz Jäger: "Heidegger". Ein deutsches Leben.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021. 608 S., geb., 28,- Euro.
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Ein beneidenswert gut geschriebenes und klug komponiertes Buch ... unbedingt lesen. Süddeutsche Zeitung 20211002