"Ich bin vor zehn Tagen in dieser Stadt angekommen, und ich kann mich nicht von ihr losreißen." Im Rahmen einer Rheinreise macht Victor Hugo im Herbst 1840 am NeckarStation. Mit Zeichenstift und Schreibfeder spürt er nicht nur den gängigen Sehenswürdigkeiten der Universitätsstadt nach, sondern vor allem den verborgenen Orten voller Legenden. Er besucht das "Heidenloch" auf dem Heiligenberg, bestaunt die vier Burgen im "zauberhaften Tal" des nahen Neckarsteinach, liest aus den Ruinen des Heidelberger Schlosses die Geschichte seiner Zerstörung, erzählt schaudernd vomSchicksal des Hofnarren Perkeo und blickt in die Rheinebene hinaus, die sich seinen träumerischen Blicken "wie ein Meer" darbietet. Heidelberg im Mondschein löst Victor Hugos schwärmerische Vorstellung von der deutschen Romantik ein: "Manmüsste hier leben!"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2016Vom tiefen Ernst im Gesicht junger Männer
Kaum ein Fremder auf Deutschland-Tour, gleich ob Amerikaner oder Chinese, Franzose oder Russe, lässt Heidelberg aus, und jeder von ihnen nimmt die Erinnerung daran mit als Inbegriff des "romantic Germany". Aber hat er Heidelberg auch kennengelernt und etwas mehr gesehen als eine Schlossruine und ein paar Gassen mit Butzenscheiben-Dekor und Gartenzwerg-Feeling? Am 6. Oktober 1840 kam der Franzose Victor Hugo, noch nicht einmal vierzig Jahre alt, aber schon reichlich mit Dichter-Lorbeer bekränzt, in diese Stadt, ein Mann, der sich durch seine Reisen in Europa Weitblick erworben hatte und die Träume von einer schöneren, politisch einigen Welt mit sich trug. Hugo blieb acht Tage in Heidelberg und seiner Umgebung und vergeudete, wie er selbst sagte, "keine Minute". Er stieg zu Burgen hinauf, erkundete Täler, spazierte durch Dörfer und sog begierig jederlei Legenden auf. Was er sah, ist nicht immer mit bloßem Auge zu erkennen, sondern bedarf zusätzlich einer empfindsamen Seele, und was er erlebte, braucht einen Schuss Übertreibung, wenn es die Situation treffen soll. Wie sonst hätte er den Studenten der Heidelberger Universität so und nicht anders begegnen können: "Edlen und ernsten jungen Männern, deren Gesicht bereits das Denken verrät." Aller Überschwang, der in dem Satz gipfelt, "Man müsste hier leben", hindert Hugo allerdings nicht daran, die Konturen Heidelbergs scharfsinnig und immer in historischem Zusammenhang zu sehen. Entstanden ist dadurch ein zauberhaftes, wortgewaltiges Porträt dieser Stadt und ihres Umlands, hier wiederbelebt in einem sorgfältig gestalteten Buch. Es ist geschmückt mit Zeichnungen Hugos, der, darin Goethe nicht unähnlich, gerne mit Feder und Pinsel seine Reiseeindrücke festhielt, und etlicher Zeitgenossen, etwa Ernst Fries, Peter Wagner oder Christian Philipp Koester. Hervorzuheben sind vor allem die Lithographien aus dem 1836 entstandenen "Führer für Reisende durch die Ruinen des Heidelberger Schlosses" von Charles de Graimberg. Die Anmerkungen Victor Hugos und die editorischen Zugaben runden eine Publikation ab, die es verdiente, an der Stadtgrenze jedem Fremden überreicht zu werden - mit der Pflicht, nachzuweisen, dass sie gelesen wurde. Und ganz sicher täte es den Einwohnern Heidelbergs gut, sich Victor Hugos Sicht der Dinge zu Gemüte zu führen.
tg
"Heidelberg" von Victor Hugo. Herausgegeben von Françoise Kloepfer-Chomard. Morio Verlag, Heidelberg 2016. 119 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Gebunden, 14,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kaum ein Fremder auf Deutschland-Tour, gleich ob Amerikaner oder Chinese, Franzose oder Russe, lässt Heidelberg aus, und jeder von ihnen nimmt die Erinnerung daran mit als Inbegriff des "romantic Germany". Aber hat er Heidelberg auch kennengelernt und etwas mehr gesehen als eine Schlossruine und ein paar Gassen mit Butzenscheiben-Dekor und Gartenzwerg-Feeling? Am 6. Oktober 1840 kam der Franzose Victor Hugo, noch nicht einmal vierzig Jahre alt, aber schon reichlich mit Dichter-Lorbeer bekränzt, in diese Stadt, ein Mann, der sich durch seine Reisen in Europa Weitblick erworben hatte und die Träume von einer schöneren, politisch einigen Welt mit sich trug. Hugo blieb acht Tage in Heidelberg und seiner Umgebung und vergeudete, wie er selbst sagte, "keine Minute". Er stieg zu Burgen hinauf, erkundete Täler, spazierte durch Dörfer und sog begierig jederlei Legenden auf. Was er sah, ist nicht immer mit bloßem Auge zu erkennen, sondern bedarf zusätzlich einer empfindsamen Seele, und was er erlebte, braucht einen Schuss Übertreibung, wenn es die Situation treffen soll. Wie sonst hätte er den Studenten der Heidelberger Universität so und nicht anders begegnen können: "Edlen und ernsten jungen Männern, deren Gesicht bereits das Denken verrät." Aller Überschwang, der in dem Satz gipfelt, "Man müsste hier leben", hindert Hugo allerdings nicht daran, die Konturen Heidelbergs scharfsinnig und immer in historischem Zusammenhang zu sehen. Entstanden ist dadurch ein zauberhaftes, wortgewaltiges Porträt dieser Stadt und ihres Umlands, hier wiederbelebt in einem sorgfältig gestalteten Buch. Es ist geschmückt mit Zeichnungen Hugos, der, darin Goethe nicht unähnlich, gerne mit Feder und Pinsel seine Reiseeindrücke festhielt, und etlicher Zeitgenossen, etwa Ernst Fries, Peter Wagner oder Christian Philipp Koester. Hervorzuheben sind vor allem die Lithographien aus dem 1836 entstandenen "Führer für Reisende durch die Ruinen des Heidelberger Schlosses" von Charles de Graimberg. Die Anmerkungen Victor Hugos und die editorischen Zugaben runden eine Publikation ab, die es verdiente, an der Stadtgrenze jedem Fremden überreicht zu werden - mit der Pflicht, nachzuweisen, dass sie gelesen wurde. Und ganz sicher täte es den Einwohnern Heidelbergs gut, sich Victor Hugos Sicht der Dinge zu Gemüte zu führen.
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"Heidelberg" von Victor Hugo. Herausgegeben von Françoise Kloepfer-Chomard. Morio Verlag, Heidelberg 2016. 119 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Gebunden, 14,95 Euro.
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