Johanna Spyris "Heidi" ist das weltweit erfolgreichste Kinderbuch aller Zeiten. Jetzt erzählen einer der berühmtesten Schweizer Schriftsteller und der bekannteste Schweizer Illustrator die Geschichte neu. Gemeinsam schaffen sie eine künstlerisch gelungene und originelle Fassung vom helvetischen Wunderkind - ein Buchjuwel, das jedes kleine Mädchen, jeden Öhi und jede Geiß entzücken wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2008Im dritten Genus liegt Heidis ganzes Wesen
Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm hat mit dem Illustrator Hannes Binder "Heidi" nacherzählt. Das Mädchen aus den Bergen ist hier endlich wieder eine schwarzhaarige Rebellin.
Ein Glück, dass Peter Stamm in seiner "Heidi"-Adaption am Namensartikel festhält: "Das Heidi" heißt es bei Johanna Spyri, und "das Heidi" ist natürlich etwas anderes als "die Heidi". "Das Heidi" ist keine liebliche, blondgelockte Alpenmaid, wie die Figur uns in den vergangenen Jahrzehnten oft präsentiert wurde. In Wahrheit ist Heidi ein schwarzhaariger puckhafter Anarchist mit feurigen Augen, die aufblitzen, wenn es wütend ist. Heidi ist sächlich. Die Form entspricht dem schwyzerdütschen Klein-Kind-Diminutiv, so wie es auch das Bubi heißt und das Meitli. Im dritten Genus liegt Heidis ganzes Wesen. Es ist neutral - deshalb kann es vermitteln. Und so bringt der literarische Charakter zusammen, was sonst nicht zueinander kommt: Stadt und Land, Alt und Jung, Arm und Reich.
Vielleicht deshalb, weil "das Heidi" so undefiniert bleibt, flexibel und wandelbar, konnte sich seine Geschichte, die 1879 erstmals erschien, rund fünfzig Millionen Mal verkaufen, es Filmstar werden, Comic- und Musical-Figur. Doch von den vielen Adaptionen hebt sich Peter Stamms Nacherzählung wohltuend ab. Sein Buch für Leser und Zuhörer von vier Jahren an hat, wie das Original, eine klare, schnörkellose Sprache, die Erwachsene auch bei langem Vorlesen nicht langweilt. Behutsam bündelt Stamm die zentralen Motive der Story um das fünfjährige Waisenmädchen, das bei seinem Großvater Öhi auf der Alp lebt, bis es ins Frankfurter Exil verschickt wird, zu einem neuen Ganzen zusammen. Auch Hannes Binders Illustrationen nehmen der Geschichte jede Süße. Mit eigenwilliger Schraffur verherrlicht er weder die alpenländische Natur, die bei Spyri bisweilen doch arg klischeehaft gezeichnet ist - Binders abgeschlossener Bergwelt wohnt da eher etwas Unheimliches inne. Aber auch Frankfurt wird nicht zum Unort großstädtischer Kälte erklärt, wobei wir natürlich das charmant verwinkelte Vorkriegs-Frankfurt zu sehen bekommen. Einzig bei Fräulein Rottenmeier, der strengen Gouvernante im Hause Sesemann, die kein Verständnis aufbringt für Heidis Kulturschock und das Kind schikaniert, fällt Binders Strich unfreundlich aus.
Dem Schweizer Literaten Stamm, der schon in Romanen wie "Agnes" (1998) oder "An einem Tag wie diesem" (2006) seinen Frauenfiguren stets ganz nahe kam, fesselt an Heidi offenbar das Moment der Versöhnung: Sein Heidi ist keine edle Wilde, die an der unmenschlichen Zivilisation erkrankt. Heidi ist psychisch labil und wird depressiv, als es von zu Hause weggeschickt wird. Die Diagnose ist klar, ein typisches Kinderleiden: Heimweh.
Von diesem erstmals in der Schweiz erkannten Gemütszustand, auch "maladie suisse" genannt, ist das Mädchen nach seiner Heimkehr rasch genesen. Was es in der großen Stadt gelernt hat - schreiben, lesen und rechnen -, will es fortan aber nicht mehr missen. So setzt es sich auf der Alm hin und bringt dem trägen Geißenpeter sein Wissen bei. Dieses Detail wiegt hier mindestens so schwer wie Klaras wundersame Heilung, die in den Bergen wieder laufen lernt.
SANDRA KEGEL
Peter Stamm, Hannes Binder: "Heidi". Nach Johanna Spyri. Mit farbigen Illustrationen. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2008. 40 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm hat mit dem Illustrator Hannes Binder "Heidi" nacherzählt. Das Mädchen aus den Bergen ist hier endlich wieder eine schwarzhaarige Rebellin.
Ein Glück, dass Peter Stamm in seiner "Heidi"-Adaption am Namensartikel festhält: "Das Heidi" heißt es bei Johanna Spyri, und "das Heidi" ist natürlich etwas anderes als "die Heidi". "Das Heidi" ist keine liebliche, blondgelockte Alpenmaid, wie die Figur uns in den vergangenen Jahrzehnten oft präsentiert wurde. In Wahrheit ist Heidi ein schwarzhaariger puckhafter Anarchist mit feurigen Augen, die aufblitzen, wenn es wütend ist. Heidi ist sächlich. Die Form entspricht dem schwyzerdütschen Klein-Kind-Diminutiv, so wie es auch das Bubi heißt und das Meitli. Im dritten Genus liegt Heidis ganzes Wesen. Es ist neutral - deshalb kann es vermitteln. Und so bringt der literarische Charakter zusammen, was sonst nicht zueinander kommt: Stadt und Land, Alt und Jung, Arm und Reich.
Vielleicht deshalb, weil "das Heidi" so undefiniert bleibt, flexibel und wandelbar, konnte sich seine Geschichte, die 1879 erstmals erschien, rund fünfzig Millionen Mal verkaufen, es Filmstar werden, Comic- und Musical-Figur. Doch von den vielen Adaptionen hebt sich Peter Stamms Nacherzählung wohltuend ab. Sein Buch für Leser und Zuhörer von vier Jahren an hat, wie das Original, eine klare, schnörkellose Sprache, die Erwachsene auch bei langem Vorlesen nicht langweilt. Behutsam bündelt Stamm die zentralen Motive der Story um das fünfjährige Waisenmädchen, das bei seinem Großvater Öhi auf der Alp lebt, bis es ins Frankfurter Exil verschickt wird, zu einem neuen Ganzen zusammen. Auch Hannes Binders Illustrationen nehmen der Geschichte jede Süße. Mit eigenwilliger Schraffur verherrlicht er weder die alpenländische Natur, die bei Spyri bisweilen doch arg klischeehaft gezeichnet ist - Binders abgeschlossener Bergwelt wohnt da eher etwas Unheimliches inne. Aber auch Frankfurt wird nicht zum Unort großstädtischer Kälte erklärt, wobei wir natürlich das charmant verwinkelte Vorkriegs-Frankfurt zu sehen bekommen. Einzig bei Fräulein Rottenmeier, der strengen Gouvernante im Hause Sesemann, die kein Verständnis aufbringt für Heidis Kulturschock und das Kind schikaniert, fällt Binders Strich unfreundlich aus.
Dem Schweizer Literaten Stamm, der schon in Romanen wie "Agnes" (1998) oder "An einem Tag wie diesem" (2006) seinen Frauenfiguren stets ganz nahe kam, fesselt an Heidi offenbar das Moment der Versöhnung: Sein Heidi ist keine edle Wilde, die an der unmenschlichen Zivilisation erkrankt. Heidi ist psychisch labil und wird depressiv, als es von zu Hause weggeschickt wird. Die Diagnose ist klar, ein typisches Kinderleiden: Heimweh.
Von diesem erstmals in der Schweiz erkannten Gemütszustand, auch "maladie suisse" genannt, ist das Mädchen nach seiner Heimkehr rasch genesen. Was es in der großen Stadt gelernt hat - schreiben, lesen und rechnen -, will es fortan aber nicht mehr missen. So setzt es sich auf der Alm hin und bringt dem trägen Geißenpeter sein Wissen bei. Dieses Detail wiegt hier mindestens so schwer wie Klaras wundersame Heilung, die in den Bergen wieder laufen lernt.
SANDRA KEGEL
Peter Stamm, Hannes Binder: "Heidi". Nach Johanna Spyri. Mit farbigen Illustrationen. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2008. 40 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sandra Kegel ist hoch erfreut über die gelungene Adaption des Kinderbuchklassikers "Heidi" von Peter Stamm, illustriert von Hannes Binder. Nah an der Originalvorlage von Johanna Spyri wird von der 5jährigen Vollwaisen erzählt, die bei Ihrem Großvater, dem Alm-Öhi aufwächst und dann zur Familie Sesemann ins städtische Frankfurt gegeben wird, wo sie das Heimweh plagt. Kegel schätzt überaus, dass Stamm keine weitere "süßliche" Heidi-Figur erschaffen hat, sondern dass sie wieder als "schwarzhaariger puckhafter Anarchist" erscheint. Auch behält Stamm die sächliche Beschreibung "das Heidi" bei, die, so Kegel, ihre "vermittelnde" Eigenschaft am besten unterstreicht. Kegel gefällt die "eigenwillige Schraffur" Binders, der weder die Bergwelt zu einseitig idyllisch zeichne noch Frankfurt zu abweisend und kalt erscheinen lasse. Erzählung wie Illustration sind, so Kegel, erfreulich kitsch- und klischeefrei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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