Dämonische Verführung oder göttliche Erwählung? Warum wird bis heute in der Kirche eine Frau als Heilige verehrt, die seinerzeit als Hexe auf dem Scheiterhaufen endete? Warum zeigen Mystikerinnen teilweise die selben Verhaltensmerkmale wie die als Ketzerinnen verschrienen Frauen? Peter Dinzelbachers Buch, das mit reichem Quellenmaterial aus Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien arbeitet, zeigt, wie zufällig die Bestimmung als "Hexe" oder "Heilige" zustande kommen konnte, und führt vor, wie Vorurteile und Stereotypen über einzelne Bevölkerungsgruppen entstehen. Dass die Eine dieses, die Andere jenes Schicksal ereilte, erscheint oft nur wie ein roter Faden der Willkür männlicher Macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.1995Frauen am Rande der Ekstase
Teufelsbuhlschaft und knapp verfehlte Heiligkeit: Die neuere Forschung weiß, was Hexen wünschen
Nicht nur auf dem Umweg über den "magischen Realismus" der lateinamerikanischen Literatur hält die Lust am Irrationalen Einzug in die europäische Kulturindustrie, sondern aus dem Bauch derselben hexelt es gewaltig. Hexensymphonien und Hexenmusicals kommen zur Aufführung, Patrick Süskind bedient sich der alteuropäischen Dämonologie ebenso wie Umberto Eco, der in seiner belletristisch getarnten Abhandlung über den Universalienstreit in der mittelalterlichen Philosophie ("Der Name der Rose") nicht ohne eine Hexenverbrennung auszukommen glaubt, obwohl er damit scharf am Anachronismus vorbeischrammt: denn der historische Bernardo Gui (etwa 1261 bis 1331) hat zwar in seiner "Practica Inquisitionis" in diese Richtung gedacht, der für Europa typische elaborierte Hexenbegriff mit seinen fünf Elementen Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Hexenflug, Hexensabbat und Schadenzauber war aber zu seiner Zeit noch nicht entwickelt.
Egal, mag mancher denken, wer merkt das schon. Indessen muß das Wissen um die Künste der Magie und die Hintergründe der Hexenverfolgungen ungeahnte Ausmaße annehmen, hat doch bald jeder anständige Verlag sein wissenschaftliches Hexenbuch im Programm und ein paar weniger wissenschaftliche noch dazu. Wozu also immer neue Werke über diese Thematik?
Das Buch von Brian Levack wurde 1988 in der "Historischen Zeitschrift" als die seit langem erste akzeptable historische Zusammenfassung apostrophiert, weil darin Ausmaß, Verbreitung und Hintergründe der europäischen Hexenverfolgung sachlich nach dem Stand der Forschung dargestellt wurden. Systematisch aufgebaut, informierte es (und informiert auch in der deutschen Übersetzung) über die geistigen und rechtlichen Grundlagen der Verfolgung, den Einfluß der Reformation, das gesellschaftliche Umfeld der als Hexen verfolgten Personen, die charakteristische und sprichwörtlich gewordene Eigendynamik der Hexenjagd sowie die Chronologie der Hexenverfolgung: ihr allmähliches Anwachsen seit dem 15. Jahrhundert, ihr Höhepunkt in den Jahrzehnten um 1600, ihr allmähliches Zurückgehen und das Ende im Zeitalter der Aufklärung, das Nachleben von Zauberfurcht auf dem Lande bis heute. Ihren Schwerpunkt hatten die Hexenprozesse im Heiligen Römischen Reich.
Bei einem so "deutschen" Thema hätte man natürlich erwarten können, daß der Autor dieser Sprache mächtig ist, denn ein Großteil der Literatur zu diesem Thema erscheint seit etwa fünfhundert Jahren in deutscher Sprache. In der Bibliographie der Übersetzung taucht sie wohl nicht zuletzt dank eines aufmerksamen Verlagslektors auf, denn von einer eigentlichen Verarbeitung kann man nach wie vor nicht sprechen. Gleichwohl bleibt das Buch eine der besten Einführungen in dieses Thema.
Nicht auf den Rahmen, sondern ins Zentrum der Problematik zielt die Publikation des Historikers Peter Dinzelbacher. Während sich die Neuzeithistoriker seit einigen Jahren unter dem Einfluß der angelsächsischen Ethnologie vor allem mit den sozialen Mechanismen der Ausgrenzung im Vorfeld von Hexenprozessen beschäftigt haben, rückt der Salzburger Mediävist die Psyche der ausgegrenzten Individuen in den Mittelpunkt. Dabei zeigt sich, daß die sprichwörtliche Nähe von Hexen und Heiligen nicht nur unter geschlechtsspezifischem Aspekt besonders interessant ist, sondern ganz allgemein im Hinblick auf den Umgang mit psychischer Andersartigkeit und psychosozialer Unangepaßtheit. Es war wohl eine der besonderen Integrationsleistungen der christlichen Kirche, daß sie bestimmte Formen ekstatischen Charismas nicht nur zu integrieren, sondern in ihrem Sinne zu nutzen wußte.
Dinzelbacher arbeitet mit seiner profunden Kenntnis der mittelalterlichen Heiligenviten heraus, wie nahe sich Heilige und Hexen in der Praxis waren: Enthusiasmus und Besessenheit, Christusminne und Teufelsbuhlschaft, Gottesverlöbnis und Teufelspakt, göttliche Stigmata und Teufelsmal werden an sonst in der Literatur unbekannten Fallbeispielen parallel analysiert. Bei einem mit vielen Klischees beladenen Thema, wo Sensationshascherei und die Demonstration weltanschaulicher Korrektheit oft Hand in Hand gehen, kann man hier auf zwei Bücher verweisen, die nicht nur differenziert argumentieren, sondern auch noch gut geschrieben sind. Selbst die Frage, welches von den beiden Büchern man lesen sollte, ist einfach zu beantworten: beide. WOLFGANG BEHRINGER
Brian P. Levack: "Hexenjagd". Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa. Aus dem Englischen von Ursula Scholz. Verlag C. H. Beck, München 1995. 295 S., Abb., geb., 49,80 DM.
Peter Dinzelbacher: "Heilige oder Hexen?" Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit. Artemis & Winkler Verlag, Zürich 1995. 350 S., Abb., geb., 78,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Teufelsbuhlschaft und knapp verfehlte Heiligkeit: Die neuere Forschung weiß, was Hexen wünschen
Nicht nur auf dem Umweg über den "magischen Realismus" der lateinamerikanischen Literatur hält die Lust am Irrationalen Einzug in die europäische Kulturindustrie, sondern aus dem Bauch derselben hexelt es gewaltig. Hexensymphonien und Hexenmusicals kommen zur Aufführung, Patrick Süskind bedient sich der alteuropäischen Dämonologie ebenso wie Umberto Eco, der in seiner belletristisch getarnten Abhandlung über den Universalienstreit in der mittelalterlichen Philosophie ("Der Name der Rose") nicht ohne eine Hexenverbrennung auszukommen glaubt, obwohl er damit scharf am Anachronismus vorbeischrammt: denn der historische Bernardo Gui (etwa 1261 bis 1331) hat zwar in seiner "Practica Inquisitionis" in diese Richtung gedacht, der für Europa typische elaborierte Hexenbegriff mit seinen fünf Elementen Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Hexenflug, Hexensabbat und Schadenzauber war aber zu seiner Zeit noch nicht entwickelt.
Egal, mag mancher denken, wer merkt das schon. Indessen muß das Wissen um die Künste der Magie und die Hintergründe der Hexenverfolgungen ungeahnte Ausmaße annehmen, hat doch bald jeder anständige Verlag sein wissenschaftliches Hexenbuch im Programm und ein paar weniger wissenschaftliche noch dazu. Wozu also immer neue Werke über diese Thematik?
Das Buch von Brian Levack wurde 1988 in der "Historischen Zeitschrift" als die seit langem erste akzeptable historische Zusammenfassung apostrophiert, weil darin Ausmaß, Verbreitung und Hintergründe der europäischen Hexenverfolgung sachlich nach dem Stand der Forschung dargestellt wurden. Systematisch aufgebaut, informierte es (und informiert auch in der deutschen Übersetzung) über die geistigen und rechtlichen Grundlagen der Verfolgung, den Einfluß der Reformation, das gesellschaftliche Umfeld der als Hexen verfolgten Personen, die charakteristische und sprichwörtlich gewordene Eigendynamik der Hexenjagd sowie die Chronologie der Hexenverfolgung: ihr allmähliches Anwachsen seit dem 15. Jahrhundert, ihr Höhepunkt in den Jahrzehnten um 1600, ihr allmähliches Zurückgehen und das Ende im Zeitalter der Aufklärung, das Nachleben von Zauberfurcht auf dem Lande bis heute. Ihren Schwerpunkt hatten die Hexenprozesse im Heiligen Römischen Reich.
Bei einem so "deutschen" Thema hätte man natürlich erwarten können, daß der Autor dieser Sprache mächtig ist, denn ein Großteil der Literatur zu diesem Thema erscheint seit etwa fünfhundert Jahren in deutscher Sprache. In der Bibliographie der Übersetzung taucht sie wohl nicht zuletzt dank eines aufmerksamen Verlagslektors auf, denn von einer eigentlichen Verarbeitung kann man nach wie vor nicht sprechen. Gleichwohl bleibt das Buch eine der besten Einführungen in dieses Thema.
Nicht auf den Rahmen, sondern ins Zentrum der Problematik zielt die Publikation des Historikers Peter Dinzelbacher. Während sich die Neuzeithistoriker seit einigen Jahren unter dem Einfluß der angelsächsischen Ethnologie vor allem mit den sozialen Mechanismen der Ausgrenzung im Vorfeld von Hexenprozessen beschäftigt haben, rückt der Salzburger Mediävist die Psyche der ausgegrenzten Individuen in den Mittelpunkt. Dabei zeigt sich, daß die sprichwörtliche Nähe von Hexen und Heiligen nicht nur unter geschlechtsspezifischem Aspekt besonders interessant ist, sondern ganz allgemein im Hinblick auf den Umgang mit psychischer Andersartigkeit und psychosozialer Unangepaßtheit. Es war wohl eine der besonderen Integrationsleistungen der christlichen Kirche, daß sie bestimmte Formen ekstatischen Charismas nicht nur zu integrieren, sondern in ihrem Sinne zu nutzen wußte.
Dinzelbacher arbeitet mit seiner profunden Kenntnis der mittelalterlichen Heiligenviten heraus, wie nahe sich Heilige und Hexen in der Praxis waren: Enthusiasmus und Besessenheit, Christusminne und Teufelsbuhlschaft, Gottesverlöbnis und Teufelspakt, göttliche Stigmata und Teufelsmal werden an sonst in der Literatur unbekannten Fallbeispielen parallel analysiert. Bei einem mit vielen Klischees beladenen Thema, wo Sensationshascherei und die Demonstration weltanschaulicher Korrektheit oft Hand in Hand gehen, kann man hier auf zwei Bücher verweisen, die nicht nur differenziert argumentieren, sondern auch noch gut geschrieben sind. Selbst die Frage, welches von den beiden Büchern man lesen sollte, ist einfach zu beantworten: beide. WOLFGANG BEHRINGER
Brian P. Levack: "Hexenjagd". Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa. Aus dem Englischen von Ursula Scholz. Verlag C. H. Beck, München 1995. 295 S., Abb., geb., 49,80 DM.
Peter Dinzelbacher: "Heilige oder Hexen?" Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit. Artemis & Winkler Verlag, Zürich 1995. 350 S., Abb., geb., 78,- DM.
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