Ob in der Frauenmedizin, Orthopädie oder Krebsvorsorge: Mythen sind in der Medizin weit verbreitet. Arzneimittel, Diagnosen und Therapien sind oft keine medizinischen Notwendigkeiten, sondern resultieren aus Irrtümern, Trugschlüssen - und finanziellen Interessen. Erschreckend deutlich wird dies, wenn Ärzte zu Patienten werden: Sie lassen sich viel seltener operieren als der Durchschnittsbürger. Viele Mediziner muten ihren Patienten Operationen zu, denen sie sich selbst nie unterziehen würden. Denn sie wissen am besten, welcher Eingriff wirklich notwendig ist, welche Behandlung ihren Patienten tatsächlich hilft. Und welche nur ihrem Geldbeutel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2006Selbstbewußte Patienten
Kritische Blicke auf Pharmaindustrie und Therapien
Über wenig wird in der Gesundheitspolitik so lautstark gestritten wie über die Macht und den Einfluß der Pharmaindustrie. Immerhin landet ein großer Teil der Gesundheitsausgaben in ihren Kassen - und dieser Anteil wächst. In Deutschland lag er im ersten Halbjahr allein bei den gesetzlichen Krankenkassen immerhin bei 20 Prozent. Unstrittig ist indes, daß der Branche in Wirtschaft und Gesellschaft eine wichtige und angesichts der Alterung auch noch wachsende Bedeutung zukommt. Schon sehen Forscher in ihr den Nukleus für den sechsten Kondratieff, einen neuen Zyklus weltwirtschaftlicher Entfaltung, angetrieben durch die Pharma-, Bio- und "Life Science"-Industrie.
Um so wichtiger ist es, das Geschäftsmodell der Branche zu verstehen und die Wirkungszusammenhänge nachzuvollziehen. Nun mag ein Buch mit dem Titel "Der Pharma-Bluff" nicht für eine aus- und abgewogene Betrachtung stehen. Das will Marcia Angell, langjährige Chefredakteurin des angesehenen "New England Journal of Medicine", auch nicht. Die in den Vereinigten Staaten als Pharmakritikerin bekannte Medizinerin und Harvard-Dozentin hat eine Anklageschrift verfaßt gegen eine Branche, die, "korrumpiert durch schnelle Profite und Habgier, das amerikanische Volk getäuscht und ausgebeutet hat". Der der AOK nahestehende KomPart-Verlag hat das 2004 zum Wahlkampf in Amerika erschienene Traktat nun auf deutsch herausgebracht. Daß das Buch die Situation der amerikanischen Pharmaindustrie beschreibt, macht es für den deutschen Leser nicht weniger spannend: Zum einen agieren die führenden Pharmakonzerne international, zum andern wird der amerikanische Markt hierzulande von der Branche gern als vorbildlich beschrieben.
Mit Furor durchpflügt Angell ihr Themengebiet. Da werden "Mythen offengelegt", es wird "entlarvt", vor allem die "Geldgier" der Pharmabosse. Für die auch hierzulande von der Branche behaupteten Entwicklungskosten von 800 Millionen Euro für ein neues Medikament findet sie keinen Beweis. Indes zeigt sie, wie aus staatlich finanzierter Forschung private Patente werden. Wirklich neue Wirkstoffe, mit denen Krankheiten erstmals behandelt werden könnten, seien unter den neu auf den Markt gebrachten "Innovationen" deutlich in der Minderzahl; die Ausgaben für den Vertrieb und Verkauf der Pillen seien dagegen erheblich höher als die für die Erforschung neuer Medikamente.
Mit energischen Strichen zeichnet Angell das Bild einer Industrie, deren Mehrwert vor allem darin bestehe, daß sie die staatlich finanzierten Forschungsergebnisse aufsauge und über einen eingespielten Marketing- und Vertriebsapparat an Ärzte und Patienten bringe - einer Branche, die die Regierung um den Finger wickelt sowie Forscher und Ärzte mit Unterstützung abhängig macht, damit diese ihre teuren, aber nicht immer wirksamen Produkte verschrieben. Daß* sie damit "ein Bild der wahren Pharmaindustrie" wiedergibt, darf bezweifelt werden. Und doch wirft Angell, unterstützt von Anmerkungen und Verweisen, bezeichnende Schlaglichter auf eine Boom-Branche, die nicht allesamt als Hirngespinste abgetan werden können.
Aufklärerischer Geist weht auch in dem Buch, das der "Spiegel"-Journalist Jörg Blech vorgelegt hat: "Heillose Medizin" heißt es, und es ist eine Art Fortsetzung seines 2003 erschienenen Verkaufsschlagers "Die Krankheitserfinder". Während es ihm damals darum ging, die These zu belegen, daß "Menschen systematisch zu Patienten gemacht werden", indem Konzerne Krankheiten und Behandlungsmethoden erfinden, hinterfragt er nun den Sinn vieler Therapien, die Ärzte ihren Patienten angedeihen lassen. Das tut er fundiert und kritisch, ohne Schaum vor dem Mund. Blech, von Haus aus Biologe und Wissenschaftsredakteur, geißelt die Medikamentengläubigkeit der Deutschen und warnt vor Vertrauensseligkeit gegenüber den Ärzten. An einer Stelle hält er bezeichnend fest, daß "mit Ausnahme der Blinddarmentnahme Menschen der Gesamtbevölkerung durchweg öfter unters Messer geraten (waren) als die Ärzte selbst". Blechs Bändchen sind 240 Seiten Anleitung dafür, wie aus dem hilflosen Kranken ein selbstbewußter Patient werden kann, der auch den Behandlungsvorschlägen des Arztes kritisch gegenübersteht. Gute Information schützt eben auch hier vor schlechter Behandlung.
ANDREAS MIHM.
Marcia Angell: Der Pharma-Bluff. Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist. KomPart Verlagsgesellschaft, Bonn/Bad Honnef 2005, 288 Seiten, 24,80 Euro.
Jörg Blech: Heillose Medizin. Fragwürdige Therapien und wie Sie sich davor schützen können. Verlag S. Fischer, Frankfurt 2005, 240 Seiten, 17,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kritische Blicke auf Pharmaindustrie und Therapien
Über wenig wird in der Gesundheitspolitik so lautstark gestritten wie über die Macht und den Einfluß der Pharmaindustrie. Immerhin landet ein großer Teil der Gesundheitsausgaben in ihren Kassen - und dieser Anteil wächst. In Deutschland lag er im ersten Halbjahr allein bei den gesetzlichen Krankenkassen immerhin bei 20 Prozent. Unstrittig ist indes, daß der Branche in Wirtschaft und Gesellschaft eine wichtige und angesichts der Alterung auch noch wachsende Bedeutung zukommt. Schon sehen Forscher in ihr den Nukleus für den sechsten Kondratieff, einen neuen Zyklus weltwirtschaftlicher Entfaltung, angetrieben durch die Pharma-, Bio- und "Life Science"-Industrie.
Um so wichtiger ist es, das Geschäftsmodell der Branche zu verstehen und die Wirkungszusammenhänge nachzuvollziehen. Nun mag ein Buch mit dem Titel "Der Pharma-Bluff" nicht für eine aus- und abgewogene Betrachtung stehen. Das will Marcia Angell, langjährige Chefredakteurin des angesehenen "New England Journal of Medicine", auch nicht. Die in den Vereinigten Staaten als Pharmakritikerin bekannte Medizinerin und Harvard-Dozentin hat eine Anklageschrift verfaßt gegen eine Branche, die, "korrumpiert durch schnelle Profite und Habgier, das amerikanische Volk getäuscht und ausgebeutet hat". Der der AOK nahestehende KomPart-Verlag hat das 2004 zum Wahlkampf in Amerika erschienene Traktat nun auf deutsch herausgebracht. Daß das Buch die Situation der amerikanischen Pharmaindustrie beschreibt, macht es für den deutschen Leser nicht weniger spannend: Zum einen agieren die führenden Pharmakonzerne international, zum andern wird der amerikanische Markt hierzulande von der Branche gern als vorbildlich beschrieben.
Mit Furor durchpflügt Angell ihr Themengebiet. Da werden "Mythen offengelegt", es wird "entlarvt", vor allem die "Geldgier" der Pharmabosse. Für die auch hierzulande von der Branche behaupteten Entwicklungskosten von 800 Millionen Euro für ein neues Medikament findet sie keinen Beweis. Indes zeigt sie, wie aus staatlich finanzierter Forschung private Patente werden. Wirklich neue Wirkstoffe, mit denen Krankheiten erstmals behandelt werden könnten, seien unter den neu auf den Markt gebrachten "Innovationen" deutlich in der Minderzahl; die Ausgaben für den Vertrieb und Verkauf der Pillen seien dagegen erheblich höher als die für die Erforschung neuer Medikamente.
Mit energischen Strichen zeichnet Angell das Bild einer Industrie, deren Mehrwert vor allem darin bestehe, daß sie die staatlich finanzierten Forschungsergebnisse aufsauge und über einen eingespielten Marketing- und Vertriebsapparat an Ärzte und Patienten bringe - einer Branche, die die Regierung um den Finger wickelt sowie Forscher und Ärzte mit Unterstützung abhängig macht, damit diese ihre teuren, aber nicht immer wirksamen Produkte verschrieben. Daß* sie damit "ein Bild der wahren Pharmaindustrie" wiedergibt, darf bezweifelt werden. Und doch wirft Angell, unterstützt von Anmerkungen und Verweisen, bezeichnende Schlaglichter auf eine Boom-Branche, die nicht allesamt als Hirngespinste abgetan werden können.
Aufklärerischer Geist weht auch in dem Buch, das der "Spiegel"-Journalist Jörg Blech vorgelegt hat: "Heillose Medizin" heißt es, und es ist eine Art Fortsetzung seines 2003 erschienenen Verkaufsschlagers "Die Krankheitserfinder". Während es ihm damals darum ging, die These zu belegen, daß "Menschen systematisch zu Patienten gemacht werden", indem Konzerne Krankheiten und Behandlungsmethoden erfinden, hinterfragt er nun den Sinn vieler Therapien, die Ärzte ihren Patienten angedeihen lassen. Das tut er fundiert und kritisch, ohne Schaum vor dem Mund. Blech, von Haus aus Biologe und Wissenschaftsredakteur, geißelt die Medikamentengläubigkeit der Deutschen und warnt vor Vertrauensseligkeit gegenüber den Ärzten. An einer Stelle hält er bezeichnend fest, daß "mit Ausnahme der Blinddarmentnahme Menschen der Gesamtbevölkerung durchweg öfter unters Messer geraten (waren) als die Ärzte selbst". Blechs Bändchen sind 240 Seiten Anleitung dafür, wie aus dem hilflosen Kranken ein selbstbewußter Patient werden kann, der auch den Behandlungsvorschlägen des Arztes kritisch gegenübersteht. Gute Information schützt eben auch hier vor schlechter Behandlung.
ANDREAS MIHM.
Marcia Angell: Der Pharma-Bluff. Wie innovativ die Pillenindustrie wirklich ist. KomPart Verlagsgesellschaft, Bonn/Bad Honnef 2005, 288 Seiten, 24,80 Euro.
Jörg Blech: Heillose Medizin. Fragwürdige Therapien und wie Sie sich davor schützen können. Verlag S. Fischer, Frankfurt 2005, 240 Seiten, 17,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nicht an Geld fehle es anscheinend dem Gesundheitswesen, resümiert Rezensent Andreas Hoffmann nach der Lektüre, sondern an Wissen. Der Autor habe bei seiner reichen Beispielsammlung für falsche und unnötige 'Behandlungen' zwar nicht immer neue Erkenntnisse zusammengetragen, aber doch "schlüssig" und "anschaulich" dargestellt. Blechs Meinung nach, referiert der Rezensent, seien je nach Fachrichtung zwischen 15 und 50 Prozent der operativen Eingriffe überflüssig. Der Rezensent hebt insbesondere hervor, dass der soziale Stand mitunter darüber entscheidet, ob man unters Messer oder ähnliches gerate. Einen wichtigen Fingerzeig sieht der Rezensent zudem in Blechs Aussage, dass viele Ärzte ihre Operationen niemals bei sich selbst durchführen lassen würden.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH