Eine Kindheit wie aus dem Bilderbuch. Ein Junge wächst in den fünfziger Jahren im idyllischen Städtchen Gunzenhausen in Mittelfranken auf, als Arztsohn in einer vom Krieg scheinbar unberührten, ins Wirtschaftswunder aufbrechenden Welt. Erst Jahrzehnte später - schon als junger Mann hatte er der Provinz den Rücken gekehrt - stößt er auf ein furchtbares Kapitel der Stadtgeschichte: Am Palmsonntag 1934 fand hier das erste große Pogrom Nazi-Deutschlands statt; die SA hetzte unter Beteiligung eines erheblichen Teils der erwachsenen Bevölkerung gegen die jüdischen Bürger, zwei Männer kamen ums Leben. Und unversehens macht er noch eine weitere Entdeckung: Der von ihm bewunderte amerikanische Autor J.D. Salinger war, von den Erlebnissen an der Front schwer traumatisiert, nach dem Krieg als Soldat im Ort stationiert. Thomas Medicus wagt eine literarische Spurensuche in die eigene Vergangenheit. Aus Erinnerungen, Gesprächen und Dokumenten zeichnet er das sehr persönliche Porträt seiner Familie, er geht dem mörderischen Verbrechen auf den Grund und rekonstruiert Salingers Welt. Geschichte wie unter dem Brennglas - von den Anfängen der Nazizeit über Krieg und Stunde Null bis weit in die junge Bundesrepublik hinein - und eine ebenso aufrichtige wie poetische Annäherung an das, was man Heimat nennt.
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Gottverdammtes Gunzenhausen!
Wo J. D. Salinger nach 1945 Geheimdienstoffizier war: Thomas Medicus kehrt zurück in die fränkische Provinz seiner Jugend und stößt auf lange Verschwiegenes
Lange Zeit glaubte Thomas Medicus, es habe nur ein Geheimnis in seiner Familie gegeben, nämlich den Tod seines Großvaters mütterlicherseits, der als Generalmajor der Wehrmacht in Italien von Partisanen erschossen wurde. Den Spuren dieses Todes, der einer planmäßigen Hinrichtung glich, war er in seinem ersten Buch akribisch nachgegangen und stellte damals fest: "Eine der wenigen Gewissheiten, die ich dabei hatte mitnehmen können, war die, dass sich Ereignisse nachträglich konstituierten und es mir überlassen blieb, ob ich die Deutungen sortieren oder durch neue, eigene ersetzen wollte." Ein scheinbar kühler Satz - der ein Jahrzehnt später, in seinem neuen Buch "Heimat", ein heftiges Eigenleben zu führen beginnt. Denn das zweite Familiengeheimnis, das er jetzt entdeckt, stellt alle seine Kindheitserinnerungen auf den Kopf.
Schon in den ersten Sätzen dieser autobiographischen Erzählung werden die starken Emotionen spürbar, die mit diesem Ort verbunden sind. "Goddam, Gunzenhausen" flucht der Erzähler (wie sein Lieblingsheld Holden Caulfield), aber da steckt er schon so tief im jahrelang Verschwiegenen, dass es kein Zurück mehr gibt. Angefangen hatte alles mit einem widerwilligen Besuch in dem idyllischen, im fränkischen Altmühltal gelegenen Städtchen; dem Sohn zuliebe, der das Grab des anderen Großvaters sehen wollte.
Der Geruch der Felder, das Licht, der einheimische Sprachklang schmerzen den Autor plötzlich, alte Wunden, die er längst verheilt glaubte. Kurz darauf stößt er in einer Erzählung von W. G. Sebald auf eine verstörende Schilderung: In Gunzenhausen, wo er in den fünfziger Jahren als Arztsohn behütet aufgewachsen war, hatte am Palmsonntag 1934 das erste antijüdische Pogrom Deutschlands stattgefunden. Es sorgte für einen weltweiten Skandal, sogar die "New York Times" berichtete darüber.
Mit neunzehn Jahren war Medicus aus dem Kaff geflohen, langweilig, verstockt und eng fand er es damals. Und die Rückkehr in das Labyrinth seiner Erinnerung fällt ihm schwer - das düstere, unüberschaubare Gassengewirr hinter dem geliebten "Blastürmle" verfolgt ihn noch zu Beginn seiner Recherche im Traum. Erst die Geschichte des hier stationierten Jerome David Salinger beendet seine wütende Heimatflucht und lockt ihn für Wochen hierher zurück, wo er im Stadtarchiv und in vielen Gesprächen Unglaubliches zutage fördert.
Man liest Salingers frühe Erzählungen, vor allem die berührende Geschichte "Für Esmé, mit Liebe und Unrat" anders, wenn man weiß, dass der Autor unter einem schweren Kriegstrauma litt und unmittelbar nach Kriegsende in einer Nürnberger Klinik behandelt wurde. Nur halb geheilt, wurde der Sohn einer gebildeten, jüdischen Familie als Geheimdienstoffizier nach Gunzenhausen abkommandiert, um Kriegsverbrecher ausfindig zu machen. Während seines elfmonatigen Kriegseinsatzes und der genauso langen Zeit in Mittelfranken arbeitete er, wann immer es möglich war, am "Fänger im Roggen".
Medicus las das Buch erst Jahrzehnte später, aber einen empfindsamen Beschützer wie Holden Caulfield, der alles Verlogene, Aufgesetzte hasst, hätte er sich als provinzverstörter Gymnasiast gewünscht: "Es ist verrückt sich vorzustellen, dass dieser amerikanische Schriftsteller das wusste, was seine möglichen Leser in G. nicht wissen wollten oder vielleicht gern gewusst hätten, und dass das alles irgendwie in den Roman, den er teilweise in G. geschrieben haben soll, eingeflossen ist."
Wie erzählt man von einer jahrzehntelang verdrängten Schuld? "Der Firnis der Zivilisation war in G. offenbar dünner als anderswo im weithin völkischen Mittelfranken", stellt der Autor fest und erinnert sich an die kummervolle "Bauchrednerei" seiner Großmutter, die ständig von der "Synagoche" sprach. Nichts war unschuldig an diesen scheinbar so freundlichen fünfziger Jahren: Nicht nur zwei Morde, sondern auch unzählige zerstörte Schicksale wurden verschwiegen. Sein Großvater, der stellvertretende Amtsarzt, hatte die beiden Toten obduziert und zweimal "Selbstmord" bescheinigt. Kurz darauf, auch das verstörend für den Enkel, trat die Großmutter in die Reichs-Frauenschaft ein, mit einem horrenden monatlichen Mitgliedsbeitrag
Ein so vielschichtiger Stoff und eine Recherche, die auch ein schmerzhafter Erkenntnisprozess ist, lassen sich nicht chronologisch erzählen. Medicus bewegt sich durch seine Geschichte wie durch ein Ausgrabungsfeld, findet unerwartete Koinzidenzen und überraschende Einschlüsse im historisch Versteinerten. In seinen Sätzen schwingt eine feine Ironie mit, und als glänzender Stilist schildert er seine Entdeckungsreise als überfällige, "empfindsame Reise": Sie reicht vom Hürtgenwald bei Aachen (wo die verlustreichsten Grabenkämpfe des ganzen Krieges stattfanden) bis nach New Hampshire, in jene Einöde, in der Salinger sich vor der Welt versteckte - zwischen Hügeln, die verblüffend an das Altmühltal erinnern. Und in New York, bei den Nachfahren einer vertriebenen Familie, verbringt der Reisende einen verstörenden Heimatabend - nur ein Sohn aus der großen Familie hatte überlebt, auf dem Foto sieht man sein empfindsames, innerlich abgewandtes Gesicht.
Die Bilder spielen eine erstaunliche Rolle in dieser Erzählung. Sie sind wie Widerhaken in den Text eingelassen und zeigen oft leere Räume, von denen eine eigenartige Spannung ausgeht, "als ob bald etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden sei". Auch die auf grausame Weise erhellende Porträtsammlung im Stadtarchiv, die Anfang der dreißiger Jahre als "Rassensammlung" angelegt wurde und später, unter amerikanischer Regie, die Phase der Entnazifizierung dokumentiert, zeigt leere und verstörte Gesichter.
Es sind in ihrer ungeschönten Drastik lauter exemplarische Geschichten, die Medicus hier erzählt, aber er erzählt sie nicht als Albträume, sondern als Allegorien. Sein Buch erinnert uns, wie die Romane von W. G. Sebald oder die von Alexander Kluge angehäuften Lebensläufe daran, dass es vor allem die einzelnen, disparaten Ereignisse sind, die etwas vom Wesen einer Zeit oder eines Ortes verraten. Und besonders ergiebig wird dieses Verfahren, wenn der Autor sich, wie Medicus das tut, sehr privat miterzählt.
NICOLE HENNEBERG
Thomas Medicus: "Heimat". Eine Suche. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo J. D. Salinger nach 1945 Geheimdienstoffizier war: Thomas Medicus kehrt zurück in die fränkische Provinz seiner Jugend und stößt auf lange Verschwiegenes
Lange Zeit glaubte Thomas Medicus, es habe nur ein Geheimnis in seiner Familie gegeben, nämlich den Tod seines Großvaters mütterlicherseits, der als Generalmajor der Wehrmacht in Italien von Partisanen erschossen wurde. Den Spuren dieses Todes, der einer planmäßigen Hinrichtung glich, war er in seinem ersten Buch akribisch nachgegangen und stellte damals fest: "Eine der wenigen Gewissheiten, die ich dabei hatte mitnehmen können, war die, dass sich Ereignisse nachträglich konstituierten und es mir überlassen blieb, ob ich die Deutungen sortieren oder durch neue, eigene ersetzen wollte." Ein scheinbar kühler Satz - der ein Jahrzehnt später, in seinem neuen Buch "Heimat", ein heftiges Eigenleben zu führen beginnt. Denn das zweite Familiengeheimnis, das er jetzt entdeckt, stellt alle seine Kindheitserinnerungen auf den Kopf.
Schon in den ersten Sätzen dieser autobiographischen Erzählung werden die starken Emotionen spürbar, die mit diesem Ort verbunden sind. "Goddam, Gunzenhausen" flucht der Erzähler (wie sein Lieblingsheld Holden Caulfield), aber da steckt er schon so tief im jahrelang Verschwiegenen, dass es kein Zurück mehr gibt. Angefangen hatte alles mit einem widerwilligen Besuch in dem idyllischen, im fränkischen Altmühltal gelegenen Städtchen; dem Sohn zuliebe, der das Grab des anderen Großvaters sehen wollte.
Der Geruch der Felder, das Licht, der einheimische Sprachklang schmerzen den Autor plötzlich, alte Wunden, die er längst verheilt glaubte. Kurz darauf stößt er in einer Erzählung von W. G. Sebald auf eine verstörende Schilderung: In Gunzenhausen, wo er in den fünfziger Jahren als Arztsohn behütet aufgewachsen war, hatte am Palmsonntag 1934 das erste antijüdische Pogrom Deutschlands stattgefunden. Es sorgte für einen weltweiten Skandal, sogar die "New York Times" berichtete darüber.
Mit neunzehn Jahren war Medicus aus dem Kaff geflohen, langweilig, verstockt und eng fand er es damals. Und die Rückkehr in das Labyrinth seiner Erinnerung fällt ihm schwer - das düstere, unüberschaubare Gassengewirr hinter dem geliebten "Blastürmle" verfolgt ihn noch zu Beginn seiner Recherche im Traum. Erst die Geschichte des hier stationierten Jerome David Salinger beendet seine wütende Heimatflucht und lockt ihn für Wochen hierher zurück, wo er im Stadtarchiv und in vielen Gesprächen Unglaubliches zutage fördert.
Man liest Salingers frühe Erzählungen, vor allem die berührende Geschichte "Für Esmé, mit Liebe und Unrat" anders, wenn man weiß, dass der Autor unter einem schweren Kriegstrauma litt und unmittelbar nach Kriegsende in einer Nürnberger Klinik behandelt wurde. Nur halb geheilt, wurde der Sohn einer gebildeten, jüdischen Familie als Geheimdienstoffizier nach Gunzenhausen abkommandiert, um Kriegsverbrecher ausfindig zu machen. Während seines elfmonatigen Kriegseinsatzes und der genauso langen Zeit in Mittelfranken arbeitete er, wann immer es möglich war, am "Fänger im Roggen".
Medicus las das Buch erst Jahrzehnte später, aber einen empfindsamen Beschützer wie Holden Caulfield, der alles Verlogene, Aufgesetzte hasst, hätte er sich als provinzverstörter Gymnasiast gewünscht: "Es ist verrückt sich vorzustellen, dass dieser amerikanische Schriftsteller das wusste, was seine möglichen Leser in G. nicht wissen wollten oder vielleicht gern gewusst hätten, und dass das alles irgendwie in den Roman, den er teilweise in G. geschrieben haben soll, eingeflossen ist."
Wie erzählt man von einer jahrzehntelang verdrängten Schuld? "Der Firnis der Zivilisation war in G. offenbar dünner als anderswo im weithin völkischen Mittelfranken", stellt der Autor fest und erinnert sich an die kummervolle "Bauchrednerei" seiner Großmutter, die ständig von der "Synagoche" sprach. Nichts war unschuldig an diesen scheinbar so freundlichen fünfziger Jahren: Nicht nur zwei Morde, sondern auch unzählige zerstörte Schicksale wurden verschwiegen. Sein Großvater, der stellvertretende Amtsarzt, hatte die beiden Toten obduziert und zweimal "Selbstmord" bescheinigt. Kurz darauf, auch das verstörend für den Enkel, trat die Großmutter in die Reichs-Frauenschaft ein, mit einem horrenden monatlichen Mitgliedsbeitrag
Ein so vielschichtiger Stoff und eine Recherche, die auch ein schmerzhafter Erkenntnisprozess ist, lassen sich nicht chronologisch erzählen. Medicus bewegt sich durch seine Geschichte wie durch ein Ausgrabungsfeld, findet unerwartete Koinzidenzen und überraschende Einschlüsse im historisch Versteinerten. In seinen Sätzen schwingt eine feine Ironie mit, und als glänzender Stilist schildert er seine Entdeckungsreise als überfällige, "empfindsame Reise": Sie reicht vom Hürtgenwald bei Aachen (wo die verlustreichsten Grabenkämpfe des ganzen Krieges stattfanden) bis nach New Hampshire, in jene Einöde, in der Salinger sich vor der Welt versteckte - zwischen Hügeln, die verblüffend an das Altmühltal erinnern. Und in New York, bei den Nachfahren einer vertriebenen Familie, verbringt der Reisende einen verstörenden Heimatabend - nur ein Sohn aus der großen Familie hatte überlebt, auf dem Foto sieht man sein empfindsames, innerlich abgewandtes Gesicht.
Die Bilder spielen eine erstaunliche Rolle in dieser Erzählung. Sie sind wie Widerhaken in den Text eingelassen und zeigen oft leere Räume, von denen eine eigenartige Spannung ausgeht, "als ob bald etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden sei". Auch die auf grausame Weise erhellende Porträtsammlung im Stadtarchiv, die Anfang der dreißiger Jahre als "Rassensammlung" angelegt wurde und später, unter amerikanischer Regie, die Phase der Entnazifizierung dokumentiert, zeigt leere und verstörte Gesichter.
Es sind in ihrer ungeschönten Drastik lauter exemplarische Geschichten, die Medicus hier erzählt, aber er erzählt sie nicht als Albträume, sondern als Allegorien. Sein Buch erinnert uns, wie die Romane von W. G. Sebald oder die von Alexander Kluge angehäuften Lebensläufe daran, dass es vor allem die einzelnen, disparaten Ereignisse sind, die etwas vom Wesen einer Zeit oder eines Ortes verraten. Und besonders ergiebig wird dieses Verfahren, wenn der Autor sich, wie Medicus das tut, sehr privat miterzählt.
NICOLE HENNEBERG
Thomas Medicus: "Heimat". Eine Suche. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
J.D. Salinger kämpfte den gesamten Feldzug der amerikanischen Armee von der Landung in der Normandie bis zur Befreiung der bayrischen Konzentrationslager mit und verhörte anschließend als Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes die gefassten Nazigrößen. Über seine Zeit im fränkischen Ort Gunzenhausen verfasst er eine Kurzerzählung. Thomas Medicus geht auf 300 Seiten in seinem Heimatort auf Spurensuche. Hier fand 1934 das erste Pogrom an jüdischen Bürgern statt, sein Großvater war Arzt und obduzierte die Opfer. Stephan Wackwitz bespricht sehr wohlwollend dieses Buch, das ihn zum Nachdenken über die Frage veranlasst, wie Kinder historische Atmosphären erspüren und verarbeiten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2014Gottverdammtes Gunzenhausen!
Wo J. D. Salinger nach 1945 Geheimdienstoffizier war: Thomas Medicus kehrt zurück in die fränkische Provinz seiner Jugend und stößt auf lange Verschwiegenes
Lange Zeit glaubte Thomas Medicus, es habe nur ein Geheimnis in seiner Familie gegeben, nämlich den Tod seines Großvaters mütterlicherseits, der als Generalmajor der Wehrmacht in Italien von Partisanen erschossen wurde. Den Spuren dieses Todes, der einer planmäßigen Hinrichtung glich, war er in seinem ersten Buch akribisch nachgegangen und stellte damals fest: "Eine der wenigen Gewissheiten, die ich dabei hatte mitnehmen können, war die, dass sich Ereignisse nachträglich konstituierten und es mir überlassen blieb, ob ich die Deutungen sortieren oder durch neue, eigene ersetzen wollte." Ein scheinbar kühler Satz - der ein Jahrzehnt später, in seinem neuen Buch "Heimat", ein heftiges Eigenleben zu führen beginnt. Denn das zweite Familiengeheimnis, das er jetzt entdeckt, stellt alle seine Kindheitserinnerungen auf den Kopf.
Schon in den ersten Sätzen dieser autobiographischen Erzählung werden die starken Emotionen spürbar, die mit diesem Ort verbunden sind. "Goddam, Gunzenhausen" flucht der Erzähler (wie sein Lieblingsheld Holden Caulfield), aber da steckt er schon so tief im jahrelang Verschwiegenen, dass es kein Zurück mehr gibt. Angefangen hatte alles mit einem widerwilligen Besuch in dem idyllischen, im fränkischen Altmühltal gelegenen Städtchen; dem Sohn zuliebe, der das Grab des anderen Großvaters sehen wollte.
Der Geruch der Felder, das Licht, der einheimische Sprachklang schmerzen den Autor plötzlich, alte Wunden, die er längst verheilt glaubte. Kurz darauf stößt er in einer Erzählung von W. G. Sebald auf eine verstörende Schilderung: In Gunzenhausen, wo er in den fünfziger Jahren als Arztsohn behütet aufgewachsen war, hatte am Palmsonntag 1934 das erste antijüdische Pogrom Deutschlands stattgefunden. Es sorgte für einen weltweiten Skandal, sogar die "New York Times" berichtete darüber.
Mit neunzehn Jahren war Medicus aus dem Kaff geflohen, langweilig, verstockt und eng fand er es damals. Und die Rückkehr in das Labyrinth seiner Erinnerung fällt ihm schwer - das düstere, unüberschaubare Gassengewirr hinter dem geliebten "Blastürmle" verfolgt ihn noch zu Beginn seiner Recherche im Traum. Erst die Geschichte des hier stationierten Jerome David Salinger beendet seine wütende Heimatflucht und lockt ihn für Wochen hierher zurück, wo er im Stadtarchiv und in vielen Gesprächen Unglaubliches zutage fördert.
Man liest Salingers frühe Erzählungen, vor allem die berührende Geschichte "Für Esmé, mit Liebe und Unrat" anders, wenn man weiß, dass der Autor unter einem schweren Kriegstrauma litt und unmittelbar nach Kriegsende in einer Nürnberger Klinik behandelt wurde. Nur halb geheilt, wurde der Sohn einer gebildeten, jüdischen Familie als Geheimdienstoffizier nach Gunzenhausen abkommandiert, um Kriegsverbrecher ausfindig zu machen. Während seines elfmonatigen Kriegseinsatzes und der genauso langen Zeit in Mittelfranken arbeitete er, wann immer es möglich war, am "Fänger im Roggen".
Medicus las das Buch erst Jahrzehnte später, aber einen empfindsamen Beschützer wie Holden Caulfield, der alles Verlogene, Aufgesetzte hasst, hätte er sich als provinzverstörter Gymnasiast gewünscht: "Es ist verrückt sich vorzustellen, dass dieser amerikanische Schriftsteller das wusste, was seine möglichen Leser in G. nicht wissen wollten oder vielleicht gern gewusst hätten, und dass das alles irgendwie in den Roman, den er teilweise in G. geschrieben haben soll, eingeflossen ist."
Wie erzählt man von einer jahrzehntelang verdrängten Schuld? "Der Firnis der Zivilisation war in G. offenbar dünner als anderswo im weithin völkischen Mittelfranken", stellt der Autor fest und erinnert sich an die kummervolle "Bauchrednerei" seiner Großmutter, die ständig von der "Synagoche" sprach. Nichts war unschuldig an diesen scheinbar so freundlichen fünfziger Jahren: Nicht nur zwei Morde, sondern auch unzählige zerstörte Schicksale wurden verschwiegen. Sein Großvater, der stellvertretende Amtsarzt, hatte die beiden Toten obduziert und zweimal "Selbstmord" bescheinigt. Kurz darauf, auch das verstörend für den Enkel, trat die Großmutter in die Reichs-Frauenschaft ein, mit einem horrenden monatlichen Mitgliedsbeitrag
Ein so vielschichtiger Stoff und eine Recherche, die auch ein schmerzhafter Erkenntnisprozess ist, lassen sich nicht chronologisch erzählen. Medicus bewegt sich durch seine Geschichte wie durch ein Ausgrabungsfeld, findet unerwartete Koinzidenzen und überraschende Einschlüsse im historisch Versteinerten. In seinen Sätzen schwingt eine feine Ironie mit, und als glänzender Stilist schildert er seine Entdeckungsreise als überfällige, "empfindsame Reise": Sie reicht vom Hürtgenwald bei Aachen (wo die verlustreichsten Grabenkämpfe des ganzen Krieges stattfanden) bis nach New Hampshire, in jene Einöde, in der Salinger sich vor der Welt versteckte - zwischen Hügeln, die verblüffend an das Altmühltal erinnern. Und in New York, bei den Nachfahren einer vertriebenen Familie, verbringt der Reisende einen verstörenden Heimatabend - nur ein Sohn aus der großen Familie hatte überlebt, auf dem Foto sieht man sein empfindsames, innerlich abgewandtes Gesicht.
Die Bilder spielen eine erstaunliche Rolle in dieser Erzählung. Sie sind wie Widerhaken in den Text eingelassen und zeigen oft leere Räume, von denen eine eigenartige Spannung ausgeht, "als ob bald etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden sei". Auch die auf grausame Weise erhellende Porträtsammlung im Stadtarchiv, die Anfang der dreißiger Jahre als "Rassensammlung" angelegt wurde und später, unter amerikanischer Regie, die Phase der Entnazifizierung dokumentiert, zeigt leere und verstörte Gesichter.
Es sind in ihrer ungeschönten Drastik lauter exemplarische Geschichten, die Medicus hier erzählt, aber er erzählt sie nicht als Albträume, sondern als Allegorien. Sein Buch erinnert uns, wie die Romane von W. G. Sebald oder die von Alexander Kluge angehäuften Lebensläufe daran, dass es vor allem die einzelnen, disparaten Ereignisse sind, die etwas vom Wesen einer Zeit oder eines Ortes verraten. Und besonders ergiebig wird dieses Verfahren, wenn der Autor sich, wie Medicus das tut, sehr privat miterzählt.
NICOLE HENNEBERG
Thomas Medicus: "Heimat". Eine Suche. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
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Wo J. D. Salinger nach 1945 Geheimdienstoffizier war: Thomas Medicus kehrt zurück in die fränkische Provinz seiner Jugend und stößt auf lange Verschwiegenes
Lange Zeit glaubte Thomas Medicus, es habe nur ein Geheimnis in seiner Familie gegeben, nämlich den Tod seines Großvaters mütterlicherseits, der als Generalmajor der Wehrmacht in Italien von Partisanen erschossen wurde. Den Spuren dieses Todes, der einer planmäßigen Hinrichtung glich, war er in seinem ersten Buch akribisch nachgegangen und stellte damals fest: "Eine der wenigen Gewissheiten, die ich dabei hatte mitnehmen können, war die, dass sich Ereignisse nachträglich konstituierten und es mir überlassen blieb, ob ich die Deutungen sortieren oder durch neue, eigene ersetzen wollte." Ein scheinbar kühler Satz - der ein Jahrzehnt später, in seinem neuen Buch "Heimat", ein heftiges Eigenleben zu führen beginnt. Denn das zweite Familiengeheimnis, das er jetzt entdeckt, stellt alle seine Kindheitserinnerungen auf den Kopf.
Schon in den ersten Sätzen dieser autobiographischen Erzählung werden die starken Emotionen spürbar, die mit diesem Ort verbunden sind. "Goddam, Gunzenhausen" flucht der Erzähler (wie sein Lieblingsheld Holden Caulfield), aber da steckt er schon so tief im jahrelang Verschwiegenen, dass es kein Zurück mehr gibt. Angefangen hatte alles mit einem widerwilligen Besuch in dem idyllischen, im fränkischen Altmühltal gelegenen Städtchen; dem Sohn zuliebe, der das Grab des anderen Großvaters sehen wollte.
Der Geruch der Felder, das Licht, der einheimische Sprachklang schmerzen den Autor plötzlich, alte Wunden, die er längst verheilt glaubte. Kurz darauf stößt er in einer Erzählung von W. G. Sebald auf eine verstörende Schilderung: In Gunzenhausen, wo er in den fünfziger Jahren als Arztsohn behütet aufgewachsen war, hatte am Palmsonntag 1934 das erste antijüdische Pogrom Deutschlands stattgefunden. Es sorgte für einen weltweiten Skandal, sogar die "New York Times" berichtete darüber.
Mit neunzehn Jahren war Medicus aus dem Kaff geflohen, langweilig, verstockt und eng fand er es damals. Und die Rückkehr in das Labyrinth seiner Erinnerung fällt ihm schwer - das düstere, unüberschaubare Gassengewirr hinter dem geliebten "Blastürmle" verfolgt ihn noch zu Beginn seiner Recherche im Traum. Erst die Geschichte des hier stationierten Jerome David Salinger beendet seine wütende Heimatflucht und lockt ihn für Wochen hierher zurück, wo er im Stadtarchiv und in vielen Gesprächen Unglaubliches zutage fördert.
Man liest Salingers frühe Erzählungen, vor allem die berührende Geschichte "Für Esmé, mit Liebe und Unrat" anders, wenn man weiß, dass der Autor unter einem schweren Kriegstrauma litt und unmittelbar nach Kriegsende in einer Nürnberger Klinik behandelt wurde. Nur halb geheilt, wurde der Sohn einer gebildeten, jüdischen Familie als Geheimdienstoffizier nach Gunzenhausen abkommandiert, um Kriegsverbrecher ausfindig zu machen. Während seines elfmonatigen Kriegseinsatzes und der genauso langen Zeit in Mittelfranken arbeitete er, wann immer es möglich war, am "Fänger im Roggen".
Medicus las das Buch erst Jahrzehnte später, aber einen empfindsamen Beschützer wie Holden Caulfield, der alles Verlogene, Aufgesetzte hasst, hätte er sich als provinzverstörter Gymnasiast gewünscht: "Es ist verrückt sich vorzustellen, dass dieser amerikanische Schriftsteller das wusste, was seine möglichen Leser in G. nicht wissen wollten oder vielleicht gern gewusst hätten, und dass das alles irgendwie in den Roman, den er teilweise in G. geschrieben haben soll, eingeflossen ist."
Wie erzählt man von einer jahrzehntelang verdrängten Schuld? "Der Firnis der Zivilisation war in G. offenbar dünner als anderswo im weithin völkischen Mittelfranken", stellt der Autor fest und erinnert sich an die kummervolle "Bauchrednerei" seiner Großmutter, die ständig von der "Synagoche" sprach. Nichts war unschuldig an diesen scheinbar so freundlichen fünfziger Jahren: Nicht nur zwei Morde, sondern auch unzählige zerstörte Schicksale wurden verschwiegen. Sein Großvater, der stellvertretende Amtsarzt, hatte die beiden Toten obduziert und zweimal "Selbstmord" bescheinigt. Kurz darauf, auch das verstörend für den Enkel, trat die Großmutter in die Reichs-Frauenschaft ein, mit einem horrenden monatlichen Mitgliedsbeitrag
Ein so vielschichtiger Stoff und eine Recherche, die auch ein schmerzhafter Erkenntnisprozess ist, lassen sich nicht chronologisch erzählen. Medicus bewegt sich durch seine Geschichte wie durch ein Ausgrabungsfeld, findet unerwartete Koinzidenzen und überraschende Einschlüsse im historisch Versteinerten. In seinen Sätzen schwingt eine feine Ironie mit, und als glänzender Stilist schildert er seine Entdeckungsreise als überfällige, "empfindsame Reise": Sie reicht vom Hürtgenwald bei Aachen (wo die verlustreichsten Grabenkämpfe des ganzen Krieges stattfanden) bis nach New Hampshire, in jene Einöde, in der Salinger sich vor der Welt versteckte - zwischen Hügeln, die verblüffend an das Altmühltal erinnern. Und in New York, bei den Nachfahren einer vertriebenen Familie, verbringt der Reisende einen verstörenden Heimatabend - nur ein Sohn aus der großen Familie hatte überlebt, auf dem Foto sieht man sein empfindsames, innerlich abgewandtes Gesicht.
Die Bilder spielen eine erstaunliche Rolle in dieser Erzählung. Sie sind wie Widerhaken in den Text eingelassen und zeigen oft leere Räume, von denen eine eigenartige Spannung ausgeht, "als ob bald etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden sei". Auch die auf grausame Weise erhellende Porträtsammlung im Stadtarchiv, die Anfang der dreißiger Jahre als "Rassensammlung" angelegt wurde und später, unter amerikanischer Regie, die Phase der Entnazifizierung dokumentiert, zeigt leere und verstörte Gesichter.
Es sind in ihrer ungeschönten Drastik lauter exemplarische Geschichten, die Medicus hier erzählt, aber er erzählt sie nicht als Albträume, sondern als Allegorien. Sein Buch erinnert uns, wie die Romane von W. G. Sebald oder die von Alexander Kluge angehäuften Lebensläufe daran, dass es vor allem die einzelnen, disparaten Ereignisse sind, die etwas vom Wesen einer Zeit oder eines Ortes verraten. Und besonders ergiebig wird dieses Verfahren, wenn der Autor sich, wie Medicus das tut, sehr privat miterzählt.
NICOLE HENNEBERG
Thomas Medicus: "Heimat". Eine Suche. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 288 S., geb., 19,95 [Euro].
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