»Im Kopf werfe ich eine Münze: Falls mich eine Einladung nach Europa führt, werde ich die Reise auf eigene Faust gen Osten ausdehnen.« Die Einladung kam, und die in New York lebende Chilenin Lina Meruane fuhr erstmals in die Heimat ihrer palästinensischen Großeltern, ins heutige Israel. Der Bericht über ihre Reisen in die eigene Vergangenheit ist ein gedankensprühender Kommentar zu einem zunehmend weltbewegenden Problem: Warum wird es immer komplizierter, die Fragen »Wo kommst du her? Wer bist du?« eindeutig zu beantworten? Ausgerechnet in Israel, so hat es Lina Meruane am eigenen Leib erfahren, haben mehr als anderswo rassische, genetische, physiognomische Zuschreibungen Einzug gehalten in den Alltag der Menschen. Ein Buch darüber, wer man zu sein glaubt, und welche politisch wirksamen Täuschungen damit verbunden sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2020Eine Politik des langsamen Erstickens
Die chilenische Autorin Lina Meruane bereist Palästina, das Land ihrer Vorfahren, und entdeckt dabei die Palästinenserin in sich
„Zweifellos“, schreibt Lina Meruane, „bin ich in den Stunden bei den Sicherheitskräften palästinensischer gewesen als in den vergangenen vierzig Jahren meiner Existenz.“ Die Situation, in der ihr das bewusst wird, spielt auf dem Londoner Flughafen Heathrow, wo jene Sicherheitskräfte sie in einen Raum führen, der wie geschaffen wirkt für Terrorverdächtige. Wo sie sie filzen und erst dann an Bord gehen lassen. Im Flugzeug läuft auf dem Monitor ein Werbespot: „El Al. Das ist nicht nur eine Fluglinie. Das ist Israel.“
Die vergangenen vierzig Jahre hat Meruane in Chile und New York verbracht sowie da und dort auf dem Globus. In Chile, wo die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt zu Hause ist, wurde sie 1970 geboren, in der Hauptstadt Santiago. Ihre Großeltern flohen einst mit osmanischen Pässen aus Palästina und schlugen sich in den Anden als Kaufleute durch. Hier galten sie als Türken. In der Provinzstadt, in der sie lebten, findet sich heute eine Straße, die nach dem Großvater benannt ist. Umgekehrt gibt es in Beit Jala, dem Herkunftsort im Westjordanland, eine Chile-Schule und einen Chile-Platz zum Dank für finanzielle Hilfen. Nie wollten Meruanes Eltern das Land ihrer Vorfahren kennenlernen. Erst in ihr reifte der Entschluss, nach Palästina zurückzukehren, wobei sie das Wort Rückkehr gleich wieder einkassiert, da es nicht zutrifft auf ein Land, in dem sie nie gewesen ist, und von dem sie wenig Ahnung hat. Weder spricht sie Arabisch noch gar Hebräisch.
Schon seit dem Jahr 2000 lebt Lina Meruane in New York und unterrichtet an der New York University Literatur und kreatives Schreiben. 2018 erschien ihr Roman „Rot vor Augen“ auf Deutsch. Wiederholt ist sie als Stipendiatin in Berlin gewesen, wo sie 2019 auch den zweiten Teil ihres literarischen Reisebuches geschrieben hat, „Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina“. Nicht der zweite Teil aber, sondern der erste, bereits 2013 entstanden und später in Ausschnitten publiziert, erweist sich als starkes, noch dazu notwendiges Stück Literatur.
Erzählt wird von ihrem ersten Aufenthalt in Palästina, zu Gast bei Ankar, einem lateinamerikanischen Schriftsteller in Jaffa mit jüdischen Wurzeln. Vor der Hochzeit mit einer Palästinenserin trat er zum Islam über. Dieser Ankar ist ein herrlicher Freigeist, der an Israel über kurz oder lang irre werden könnte. In einer E-Mail teilt er Meruane mit: „Am Schreiben hindert mich, dass es in den letzten Jahren immer weniger Platz gibt für eine Meinung zwischen dem Wahnsinn der Hamas und dem Wahnsinn der israelischen Ultrarechten (wer sich vermittelnd äußert, wird unweigerlich in die eine extreme Ecke geschoben und aus der anderen angegriffen).“ Frühmorgens steht Ankars Frau Zima zum Beten auf, um sich dann, denn auch sie ist Schriftstellerin, in den allgemeinen Schutzraum zu verziehen, den so gut wie jedes Gebäude in Israel besitzt. Zwar ohne Fenster, aber ruhig und abgeschirmt, gut geeignet zum Schreiben.
Einmal besucht Meruane eine Schule in Jerusalem, in der arabische und jüdische Kinder zweisprachig und möglichst ohne Scheuklappen erzogen werden. Untereinander aber reden die Kinder Hebräisch, weil den arabischen das Hebräische näher liegt als den jüdischen das Arabische. Unterstützt wird die Schule von einem gewissen Schlag von Eltern – „linke Israelis, Politiker, Journalisten von Haaretz, Intellektuelle“. Überhaupt scheinen in diesen Schilderungen über Israel alle, die auf Verständigung aus sind, als links und verdächtig zu gelten, obwohl sie nur das Selbstverständlichste der Welt verlangen. Offenbar ist das Selbstverständlichste immer weniger zu haben. Vor nicht allzu langer Zeit hat sich Israel als „ausschließlich“ jüdischer Staat erklärt – bei zwanzig Prozent arabischen Bürgern.
Natürlich fährt Meruane auch nach Beit Jala, wobei sie es aus unerfindlichen Gründen nicht fertigbringt, das Haus ihres Großvaters aufzusuchen. Stattdessen sitzt sie bei ihrer Tante, die eigentlich eine entfernte Cousine ist, hört zu und wundert sich. Nicht nach und nach, sondern von vornherein nimmt sie die Perspektive einer Palästinenserin ein. Darin liegt die Notwendigkeit ihres Berichts. Denn zwar kennen und lesen wir unzählige israelische Autoren und bewundern sie für ihre Umsicht und Ausgewogenheit, aber all diese Werke können die palästinensische Perspektive nicht ersetzen.
Immerhin gibt es Ghassan Kanafani, dessen Geschichten man immer wieder lesen muss. In „Das Land der traurigen Orangen“ erzählt er von der Vertreibung im Jahr 1948, kurz vor der Staatsgründung Israels. Der erste Satz wirkt unübertrefflich: „Als wir Jaffa in Richtung Akka verließen, war das an sich nichts Schlimmes.“ Ein Familienvater versucht sich, kaum dass er Libanon erreicht hat, das Leben zu nehmen. Es misslingt. Worauf ihm dämmert, dass er sich Palästina aus dem Kopf schlagen muss. Aber Kanafani ist schon lange tot; er starb 1972 in Beirut, getötet durch eine am Auto angebrachte Bombe.
Meruane erzählt vom drangsalierten Alltag, von Enteignungen, von geteilten Städten wie Hebron oder Jerusalem; sie erzählt von der allgegenwärtigen Überwachung mit modernsten Technologien; Gesichtserkennung ist keine Frage des Datenschutzes. Wer sich je näher mit Gaza befasst hat, wird Meruanes Rede von einer „Politik langsamen Erstickens“ nicht für übertrieben halten. Trotzdem ist der erste Teil ihres Reisebuches nicht einfach, wie sie im zweiten Teil glauben macht, „dieses Buch gegen die Politik Israels“. Da ist ihr Text viel klüger und komplexer, man könnte auch sagen, literarischer als die Einschätzung seiner Autorin. Leider hält der zweite Teil damit nicht Schritt.
Weil dort das Schriftstellerpaar Ankar und Zima fehlen, außerdem die familiären Verknüpfungen, verliert dieser Teil an Dichte und Substanz. Er ist eher ein Tagebuch, versehen mit Einsprengseln über JFK in Berlin oder Edward Snowden. Erst in der abschließenden Passage, die in Kairo spielt, kehrt die Kraft des ersten Teils ihres Buches wieder zurück. Ehe Lina Meruane ihre erste Reise antrat, schrieb ihr Ankar eine schöne, vielleicht auch vorsorglich beruhigende E-Mail: „Es gibt Musik, Essen, Sex, es gibt Ehen, Kinder, Scheidungen und alles Übrige auch. Das heißt, wir leben sehr gut.“
RALPH HAMMERTHALER
Lina Meruane: Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Berenberg Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, 24 Euro.
Es nicht einfach ein Buch gegen
Israel, der Text ist
klüger und komplexer
Seit zwanzig Jahren lebt die chilenische Autorin Lina Meruane in New York.
Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die chilenische Autorin Lina Meruane bereist Palästina, das Land ihrer Vorfahren, und entdeckt dabei die Palästinenserin in sich
„Zweifellos“, schreibt Lina Meruane, „bin ich in den Stunden bei den Sicherheitskräften palästinensischer gewesen als in den vergangenen vierzig Jahren meiner Existenz.“ Die Situation, in der ihr das bewusst wird, spielt auf dem Londoner Flughafen Heathrow, wo jene Sicherheitskräfte sie in einen Raum führen, der wie geschaffen wirkt für Terrorverdächtige. Wo sie sie filzen und erst dann an Bord gehen lassen. Im Flugzeug läuft auf dem Monitor ein Werbespot: „El Al. Das ist nicht nur eine Fluglinie. Das ist Israel.“
Die vergangenen vierzig Jahre hat Meruane in Chile und New York verbracht sowie da und dort auf dem Globus. In Chile, wo die größte palästinensische Gemeinde außerhalb der arabischen Welt zu Hause ist, wurde sie 1970 geboren, in der Hauptstadt Santiago. Ihre Großeltern flohen einst mit osmanischen Pässen aus Palästina und schlugen sich in den Anden als Kaufleute durch. Hier galten sie als Türken. In der Provinzstadt, in der sie lebten, findet sich heute eine Straße, die nach dem Großvater benannt ist. Umgekehrt gibt es in Beit Jala, dem Herkunftsort im Westjordanland, eine Chile-Schule und einen Chile-Platz zum Dank für finanzielle Hilfen. Nie wollten Meruanes Eltern das Land ihrer Vorfahren kennenlernen. Erst in ihr reifte der Entschluss, nach Palästina zurückzukehren, wobei sie das Wort Rückkehr gleich wieder einkassiert, da es nicht zutrifft auf ein Land, in dem sie nie gewesen ist, und von dem sie wenig Ahnung hat. Weder spricht sie Arabisch noch gar Hebräisch.
Schon seit dem Jahr 2000 lebt Lina Meruane in New York und unterrichtet an der New York University Literatur und kreatives Schreiben. 2018 erschien ihr Roman „Rot vor Augen“ auf Deutsch. Wiederholt ist sie als Stipendiatin in Berlin gewesen, wo sie 2019 auch den zweiten Teil ihres literarischen Reisebuches geschrieben hat, „Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina“. Nicht der zweite Teil aber, sondern der erste, bereits 2013 entstanden und später in Ausschnitten publiziert, erweist sich als starkes, noch dazu notwendiges Stück Literatur.
Erzählt wird von ihrem ersten Aufenthalt in Palästina, zu Gast bei Ankar, einem lateinamerikanischen Schriftsteller in Jaffa mit jüdischen Wurzeln. Vor der Hochzeit mit einer Palästinenserin trat er zum Islam über. Dieser Ankar ist ein herrlicher Freigeist, der an Israel über kurz oder lang irre werden könnte. In einer E-Mail teilt er Meruane mit: „Am Schreiben hindert mich, dass es in den letzten Jahren immer weniger Platz gibt für eine Meinung zwischen dem Wahnsinn der Hamas und dem Wahnsinn der israelischen Ultrarechten (wer sich vermittelnd äußert, wird unweigerlich in die eine extreme Ecke geschoben und aus der anderen angegriffen).“ Frühmorgens steht Ankars Frau Zima zum Beten auf, um sich dann, denn auch sie ist Schriftstellerin, in den allgemeinen Schutzraum zu verziehen, den so gut wie jedes Gebäude in Israel besitzt. Zwar ohne Fenster, aber ruhig und abgeschirmt, gut geeignet zum Schreiben.
Einmal besucht Meruane eine Schule in Jerusalem, in der arabische und jüdische Kinder zweisprachig und möglichst ohne Scheuklappen erzogen werden. Untereinander aber reden die Kinder Hebräisch, weil den arabischen das Hebräische näher liegt als den jüdischen das Arabische. Unterstützt wird die Schule von einem gewissen Schlag von Eltern – „linke Israelis, Politiker, Journalisten von Haaretz, Intellektuelle“. Überhaupt scheinen in diesen Schilderungen über Israel alle, die auf Verständigung aus sind, als links und verdächtig zu gelten, obwohl sie nur das Selbstverständlichste der Welt verlangen. Offenbar ist das Selbstverständlichste immer weniger zu haben. Vor nicht allzu langer Zeit hat sich Israel als „ausschließlich“ jüdischer Staat erklärt – bei zwanzig Prozent arabischen Bürgern.
Natürlich fährt Meruane auch nach Beit Jala, wobei sie es aus unerfindlichen Gründen nicht fertigbringt, das Haus ihres Großvaters aufzusuchen. Stattdessen sitzt sie bei ihrer Tante, die eigentlich eine entfernte Cousine ist, hört zu und wundert sich. Nicht nach und nach, sondern von vornherein nimmt sie die Perspektive einer Palästinenserin ein. Darin liegt die Notwendigkeit ihres Berichts. Denn zwar kennen und lesen wir unzählige israelische Autoren und bewundern sie für ihre Umsicht und Ausgewogenheit, aber all diese Werke können die palästinensische Perspektive nicht ersetzen.
Immerhin gibt es Ghassan Kanafani, dessen Geschichten man immer wieder lesen muss. In „Das Land der traurigen Orangen“ erzählt er von der Vertreibung im Jahr 1948, kurz vor der Staatsgründung Israels. Der erste Satz wirkt unübertrefflich: „Als wir Jaffa in Richtung Akka verließen, war das an sich nichts Schlimmes.“ Ein Familienvater versucht sich, kaum dass er Libanon erreicht hat, das Leben zu nehmen. Es misslingt. Worauf ihm dämmert, dass er sich Palästina aus dem Kopf schlagen muss. Aber Kanafani ist schon lange tot; er starb 1972 in Beirut, getötet durch eine am Auto angebrachte Bombe.
Meruane erzählt vom drangsalierten Alltag, von Enteignungen, von geteilten Städten wie Hebron oder Jerusalem; sie erzählt von der allgegenwärtigen Überwachung mit modernsten Technologien; Gesichtserkennung ist keine Frage des Datenschutzes. Wer sich je näher mit Gaza befasst hat, wird Meruanes Rede von einer „Politik langsamen Erstickens“ nicht für übertrieben halten. Trotzdem ist der erste Teil ihres Reisebuches nicht einfach, wie sie im zweiten Teil glauben macht, „dieses Buch gegen die Politik Israels“. Da ist ihr Text viel klüger und komplexer, man könnte auch sagen, literarischer als die Einschätzung seiner Autorin. Leider hält der zweite Teil damit nicht Schritt.
Weil dort das Schriftstellerpaar Ankar und Zima fehlen, außerdem die familiären Verknüpfungen, verliert dieser Teil an Dichte und Substanz. Er ist eher ein Tagebuch, versehen mit Einsprengseln über JFK in Berlin oder Edward Snowden. Erst in der abschließenden Passage, die in Kairo spielt, kehrt die Kraft des ersten Teils ihres Buches wieder zurück. Ehe Lina Meruane ihre erste Reise antrat, schrieb ihr Ankar eine schöne, vielleicht auch vorsorglich beruhigende E-Mail: „Es gibt Musik, Essen, Sex, es gibt Ehen, Kinder, Scheidungen und alles Übrige auch. Das heißt, wir leben sehr gut.“
RALPH HAMMERTHALER
Lina Meruane: Heimkehr ins Unbekannte. Unterwegs nach Palästina. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Berenberg Verlag, Berlin 2020. 208 Seiten, 24 Euro.
Es nicht einfach ein Buch gegen
Israel, der Text ist
klüger und komplexer
Seit zwanzig Jahren lebt die chilenische Autorin Lina Meruane in New York.
Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jakob Hessing hat dieses Buch mit einer gewissen Trauer gelesen: weil die Autorin Lina Meruane seiner Ansicht nach ihre "schriftstellerischen Möglichkeiten", die er hoch schätzt, bei der Zeichnung der Israelis nicht mehr einsetzt und zur Geltung bringt. Sie lässt das Feindbild regieren, so Hessing, der selbst Israeli ist, wie er schreibt, und voller Trauer über die Unterdrückung der Palästinenser. Doch dieser Teil der israelischen Bevölkerung, zu dem er gehört, bleibt bei der Beschreibung einer Reise der Autorin außen vor, bedauert er. Der Kritiker schätzt MeruanesText am meisten dort, wo die Zerrissenheit der Familiengeschichte deutlich wird - auch die der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.10.2020Zersplitternde Spiegel in Palästina
Literarisch geglückt, menschlich gescheitert: Lina Meruanes Herkunftssuche
Lina Meruane, 1970 in Santiago geboren, ist eine chilenische Schriftstellerin, die seit mittlerweile zwanzig Jahren in New York lebt. Väterlicherseits stammen ihre Großeltern aus dem osmanischen Palästina, die Familie der Mutter kommt aus Italien, und an der New Yorker Universität unterrichtet sie Global Cultures. Schreiben aber tut sie auf Spanisch.
In ihrem von Susanne Lange vorzüglich übersetzten Buch "Heimkehr ins Unbekannte" versucht Meruane die palästinensischen Wurzeln ihrer Familie aufzuspüren, und zu den Stärken ihres Textes gehören die Ambivalenzen, denen sie sich dabei aussetzt. Das zeigt schon die doppelte Widmung des Buchs: "Für meinen Vater, der sich weigert zurückzukehren. Für meine Freunde A und Z, die sich weigern wegzugehen." Ihr Vater, schon in Chile geboren, spendet zwar Geld für das bei Bethlehem gelegene palästinensische Städtchen Beit Jala, aus dem Linas Großeltern stammen, aber gegen das Drängen seiner Tochter, dort doch auch einmal hinzufahren, sträubt er sich.
Deren Freunde Ankar und Zima sind ein palästinensisches Ehepaar aus Jaffa und beide Schriftsteller, die für die Rechte ihres Volkes eintreten. Zima ist eine gläubige Muslima, Ankar teils jüdischer Herkunft, was ihm als Autor der palästinensischen Linken seinen sonst schweren Stand in Israel ein wenig erleichtert. Trotzdem hat er beschlossen, nie wegzugehen, weil Zima nur in Palästina leben kann.
Zwischen diesen Polen sucht Lina Meruane einen eigenen Weg. Ihr Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste endet 2013 in New York und erzählt zunächst die Geschichte der Großeltern väterlicherseits. Beide waren christliche Araber unter osmanischer Herrschaft und verließen Palästina als junge Menschen, erst in Chile lernten sie sich kennen. Meruane versucht zu rekonstruieren, wie die beiden zu Chilenen geworden sind, doch es gelingt nicht. Die frühen Spuren der Großeltern sind verwischt, die Suche nach deren verschütteten Ursprüngen führt die Autorin erstmals nach Beit Jala.
Dieser erste Teil des Buchs trägt den Titel "Palästina in Fetzen". In Beit Jala findet Meruane immerhin noch zwei alte Tanten, aber diese Begegnung gibt keinen Einblick in die Familiengeschichte und scheint auch keine Folgen gehabt zu haben. Als sie etwa fünf Jahre später noch einmal zurückkommt, ist eine der Tanten gestorben, und Meruane hat es gar nicht gewusst.
Dieses kleine Detail ist aufschlussreich, vielleicht sogar verräterisch. Das Ziel, das Meruane sich gesetzt zu haben scheint - die Geschichte einer über die Kontinente verstreuten Familie wie ein Puzzle zusammenzusetzen -, erweist sich als Fassade. Denn nicht nur Palästina, sondern auch die Identitäten, die hier zusammenfinden müssten, sind in Fetzen, und die Motive der Zerrissenheit sind das eigentliche Thema ihres Buchs.
Am besten schreibt Lina Meruane, wenn sie sich selbst beobachtet. Der zweite Teil des Buchs endet 2019 in Berlin. Er trägt den Titel "Gesichter in meinem Gesicht" und schildert ihre zweite Palästina-Reise. In Berlin erhält sie ein Stipendium, von dort bricht sie mit Deutschen, Griechen, Senegalesen auf - einer internationalen Gruppe, die die besetzten Gebiete besucht - und beschreibt das Elend der unterdrückten Palästinenser.
Oft kontrollieren israelische Soldaten den Bus der Gruppe, und nachts kommt Lina Meruane nicht zur Ruhe: "Ich ziehe die Stunden des Schlafens hinaus, um so wenig Raum wie möglich für die dröhnende Frage des blutjungen Soldaten zu lassen, der mich wecken will mit seinem where are you from. Auch wenn nicht er mich weckt, sondern die Tatsache, dass ich im Traum nicht herausfinde, ob er die Antwort im Pass oder in den Genen sucht."
Das ist eine von vielen Stellen, an denen Meruane der Qual ihrer inneren Zerrissenheit Ausdruck gibt, und dies ist die ursprüngliche Szene, die ihr später den Schlaf raubt: "Immer sind es blutjunge Soldaten, sie wirken wie Studenten einer brotlosen Laufbahn oder wie unerfahrene Schauspieler. Die Tür öffnet sich wie ein Vorhang, und einer von ihnen steigt ein und schlägt mit seinen klobigen Stiefeln gegen die Stufe, protzt mit seinem Gewehr und ruft etwas auf Hebräisch. Niemand versteht. Niemand antwortet. Der Fahrer verrät dem Soldaten, dass wir Ausländer sind, deshalb räuspert sich der Halbstarke, bereitet seine Stimmbänder vor und brüllt Where are you from? Er wendet sich an uns alle, aber jeder unserer Pässe enthält eine andere Antwort."
Zunächst scheint Lina Meruane auch dem israelischen Soldaten die Ambivalenz zu gewähren, die über ihrem Buch liegt - wie ein "unerfahrener Schauspieler" erscheint er ihr -, aber dann lässt sie ihn nur noch brüllen, nimmt ihm sein menschliches Gesicht. "Heimkehr ins Unbekannte" heißt das Buch, doch eines weiß seine Autorin mit Sicherheit: Die Israelis sind schuld. Nirgends nimmt sie sie als Menschen wahr, überall tragen sie die Maske des Feindbildes, das Lina Meruane sich von ihnen gemacht hat.
Für mich ist das bedauerlich. Denn ich - das muss hier gesagt werden - bin Israeli, und der Sechstagekrieg von 1967, der die Besetzung von Westjordanland und Gazastreifen nach sich zog, hat, so glaubte ich damals, uns vor der Vernichtung gerettet. Erst später begriff ich, dass dieser Krieg für alle Beteiligten eine Katastrophe gewesen ist und nicht nur Palästina, sondern auch Israel in Fetzen gerissen hat. Die Unterdrückung der Palästinenser, die Lina Meruane beschreibt, erfüllt auch mich mit Wut, und dazu gesellt sich die Scham, dass dies im Namen meines Landes geschieht.
Menschen wie mich gibt es viele in Israel, doch in Meruanes Buch erfahren wir davon nichts. Das ist schade, weil sie sich damit ihrer beachtlichen schriftstellerischen Möglichkeiten beraubt. Sie geht wie blind durch das Land, und vieles bleibt unsichtbar: die Palästinenser in ihrer Vielschichtigkeit, die Zerrissenheit als das Thema ihres Buchs, das sich auch für Israel zeigen ließe, und nicht zuletzt Lina Meruanes palästinensische Familie, die sie doch hatte kennenlernen wollen. Dass sie bei ihrem zweiten Besuch in Beit Jala nicht weiß, dass ihre Tante gestorben ist, ist nur ein Symptom dieser Blindheit.
Man wird der palästinensischen Tragödie nicht gerecht, wenn man ihre Geschichte außer Acht lässt, wie Lina Meruane es tut. Ihre christlichen Großeltern sind nicht vor den Juden geflohen, sondern vor den osmanischen Türken, und im muslimischen Palästina leben heute kaum noch Christen. In diesem unglücklichen Land hat es viele Vertreibungen gegeben. Am Ende hören wir von einem Vortrag, den Lina Meruane in Kairo über ihre erträumte Heimkehr hält. Gastgeberin ist eine Professorin aus der Familie von Gamal Abdel Nasser, dem früheren ägyptischen Staatschef, der bis 1970 regierte, und vielleicht hat Meruane sie gefragt, ob ihr mythenverklärter Vorfahre jemals bedauert hat, im Jahr 1967 den Sechstagekrieg angezettelt zu haben. Aber das erzählt sie uns nicht.
JAKOB HESSING
Lina Meruane: "Heimkehr ins Unbekannte". Unterwegs nach Palästina.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Berenberg Verlag, Berlin 2020. 208 S., br., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Literarisch geglückt, menschlich gescheitert: Lina Meruanes Herkunftssuche
Lina Meruane, 1970 in Santiago geboren, ist eine chilenische Schriftstellerin, die seit mittlerweile zwanzig Jahren in New York lebt. Väterlicherseits stammen ihre Großeltern aus dem osmanischen Palästina, die Familie der Mutter kommt aus Italien, und an der New Yorker Universität unterrichtet sie Global Cultures. Schreiben aber tut sie auf Spanisch.
In ihrem von Susanne Lange vorzüglich übersetzten Buch "Heimkehr ins Unbekannte" versucht Meruane die palästinensischen Wurzeln ihrer Familie aufzuspüren, und zu den Stärken ihres Textes gehören die Ambivalenzen, denen sie sich dabei aussetzt. Das zeigt schon die doppelte Widmung des Buchs: "Für meinen Vater, der sich weigert zurückzukehren. Für meine Freunde A und Z, die sich weigern wegzugehen." Ihr Vater, schon in Chile geboren, spendet zwar Geld für das bei Bethlehem gelegene palästinensische Städtchen Beit Jala, aus dem Linas Großeltern stammen, aber gegen das Drängen seiner Tochter, dort doch auch einmal hinzufahren, sträubt er sich.
Deren Freunde Ankar und Zima sind ein palästinensisches Ehepaar aus Jaffa und beide Schriftsteller, die für die Rechte ihres Volkes eintreten. Zima ist eine gläubige Muslima, Ankar teils jüdischer Herkunft, was ihm als Autor der palästinensischen Linken seinen sonst schweren Stand in Israel ein wenig erleichtert. Trotzdem hat er beschlossen, nie wegzugehen, weil Zima nur in Palästina leben kann.
Zwischen diesen Polen sucht Lina Meruane einen eigenen Weg. Ihr Buch besteht aus zwei Teilen. Der erste endet 2013 in New York und erzählt zunächst die Geschichte der Großeltern väterlicherseits. Beide waren christliche Araber unter osmanischer Herrschaft und verließen Palästina als junge Menschen, erst in Chile lernten sie sich kennen. Meruane versucht zu rekonstruieren, wie die beiden zu Chilenen geworden sind, doch es gelingt nicht. Die frühen Spuren der Großeltern sind verwischt, die Suche nach deren verschütteten Ursprüngen führt die Autorin erstmals nach Beit Jala.
Dieser erste Teil des Buchs trägt den Titel "Palästina in Fetzen". In Beit Jala findet Meruane immerhin noch zwei alte Tanten, aber diese Begegnung gibt keinen Einblick in die Familiengeschichte und scheint auch keine Folgen gehabt zu haben. Als sie etwa fünf Jahre später noch einmal zurückkommt, ist eine der Tanten gestorben, und Meruane hat es gar nicht gewusst.
Dieses kleine Detail ist aufschlussreich, vielleicht sogar verräterisch. Das Ziel, das Meruane sich gesetzt zu haben scheint - die Geschichte einer über die Kontinente verstreuten Familie wie ein Puzzle zusammenzusetzen -, erweist sich als Fassade. Denn nicht nur Palästina, sondern auch die Identitäten, die hier zusammenfinden müssten, sind in Fetzen, und die Motive der Zerrissenheit sind das eigentliche Thema ihres Buchs.
Am besten schreibt Lina Meruane, wenn sie sich selbst beobachtet. Der zweite Teil des Buchs endet 2019 in Berlin. Er trägt den Titel "Gesichter in meinem Gesicht" und schildert ihre zweite Palästina-Reise. In Berlin erhält sie ein Stipendium, von dort bricht sie mit Deutschen, Griechen, Senegalesen auf - einer internationalen Gruppe, die die besetzten Gebiete besucht - und beschreibt das Elend der unterdrückten Palästinenser.
Oft kontrollieren israelische Soldaten den Bus der Gruppe, und nachts kommt Lina Meruane nicht zur Ruhe: "Ich ziehe die Stunden des Schlafens hinaus, um so wenig Raum wie möglich für die dröhnende Frage des blutjungen Soldaten zu lassen, der mich wecken will mit seinem where are you from. Auch wenn nicht er mich weckt, sondern die Tatsache, dass ich im Traum nicht herausfinde, ob er die Antwort im Pass oder in den Genen sucht."
Das ist eine von vielen Stellen, an denen Meruane der Qual ihrer inneren Zerrissenheit Ausdruck gibt, und dies ist die ursprüngliche Szene, die ihr später den Schlaf raubt: "Immer sind es blutjunge Soldaten, sie wirken wie Studenten einer brotlosen Laufbahn oder wie unerfahrene Schauspieler. Die Tür öffnet sich wie ein Vorhang, und einer von ihnen steigt ein und schlägt mit seinen klobigen Stiefeln gegen die Stufe, protzt mit seinem Gewehr und ruft etwas auf Hebräisch. Niemand versteht. Niemand antwortet. Der Fahrer verrät dem Soldaten, dass wir Ausländer sind, deshalb räuspert sich der Halbstarke, bereitet seine Stimmbänder vor und brüllt Where are you from? Er wendet sich an uns alle, aber jeder unserer Pässe enthält eine andere Antwort."
Zunächst scheint Lina Meruane auch dem israelischen Soldaten die Ambivalenz zu gewähren, die über ihrem Buch liegt - wie ein "unerfahrener Schauspieler" erscheint er ihr -, aber dann lässt sie ihn nur noch brüllen, nimmt ihm sein menschliches Gesicht. "Heimkehr ins Unbekannte" heißt das Buch, doch eines weiß seine Autorin mit Sicherheit: Die Israelis sind schuld. Nirgends nimmt sie sie als Menschen wahr, überall tragen sie die Maske des Feindbildes, das Lina Meruane sich von ihnen gemacht hat.
Für mich ist das bedauerlich. Denn ich - das muss hier gesagt werden - bin Israeli, und der Sechstagekrieg von 1967, der die Besetzung von Westjordanland und Gazastreifen nach sich zog, hat, so glaubte ich damals, uns vor der Vernichtung gerettet. Erst später begriff ich, dass dieser Krieg für alle Beteiligten eine Katastrophe gewesen ist und nicht nur Palästina, sondern auch Israel in Fetzen gerissen hat. Die Unterdrückung der Palästinenser, die Lina Meruane beschreibt, erfüllt auch mich mit Wut, und dazu gesellt sich die Scham, dass dies im Namen meines Landes geschieht.
Menschen wie mich gibt es viele in Israel, doch in Meruanes Buch erfahren wir davon nichts. Das ist schade, weil sie sich damit ihrer beachtlichen schriftstellerischen Möglichkeiten beraubt. Sie geht wie blind durch das Land, und vieles bleibt unsichtbar: die Palästinenser in ihrer Vielschichtigkeit, die Zerrissenheit als das Thema ihres Buchs, das sich auch für Israel zeigen ließe, und nicht zuletzt Lina Meruanes palästinensische Familie, die sie doch hatte kennenlernen wollen. Dass sie bei ihrem zweiten Besuch in Beit Jala nicht weiß, dass ihre Tante gestorben ist, ist nur ein Symptom dieser Blindheit.
Man wird der palästinensischen Tragödie nicht gerecht, wenn man ihre Geschichte außer Acht lässt, wie Lina Meruane es tut. Ihre christlichen Großeltern sind nicht vor den Juden geflohen, sondern vor den osmanischen Türken, und im muslimischen Palästina leben heute kaum noch Christen. In diesem unglücklichen Land hat es viele Vertreibungen gegeben. Am Ende hören wir von einem Vortrag, den Lina Meruane in Kairo über ihre erträumte Heimkehr hält. Gastgeberin ist eine Professorin aus der Familie von Gamal Abdel Nasser, dem früheren ägyptischen Staatschef, der bis 1970 regierte, und vielleicht hat Meruane sie gefragt, ob ihr mythenverklärter Vorfahre jemals bedauert hat, im Jahr 1967 den Sechstagekrieg angezettelt zu haben. Aber das erzählt sie uns nicht.
JAKOB HESSING
Lina Meruane: "Heimkehr ins Unbekannte". Unterwegs nach Palästina.
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Berenberg Verlag, Berlin 2020. 208 S., br., 24,- [Euro].
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