Ein halbes Jahrhundert ist seit Kriegsende vergangen, und György Konrád (geboren 1933). erinnert sich eines Stücks Kindheit, der Zeit, als er elf Jahre alt war. Da verließen der Junge und seine Schwester Eva zusammen mit der Tante das Haus in Budapest, über dessen Toreinfahrt der Judenstern nun verschwunden war. Sie machten sich auf den Weg zu dem entfernten Ort, wo sie zu Hause waren, ins Haus der Eltern. Die Reise "dauerte eine Woche lang, ich reiste nicht, ich fuhr nach Hause, das war nicht mehr die Flucht. das war die Heimkehr. Die Suche nach dem verlorenen Paradies."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.1996Gelber Stern im Schnee
György Konráds Bericht aus den vorletzten Tagen der Menschheit
Allzu leicht könnte man das Bändchen übersehen, zählt es doch gerade einmal siebzig Seiten. Auch die Stimme des Autors buhlt nicht um Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, sie ist leise an der Grenze zum Lautlosen. Dabei hat György Konrád mancherlei zu erzählen: all das Vergangene, den Schrecken von einst, ein Ende und einen Anfang. "Heimkehr" nennt sich sein Bericht über den Winter 1944/45 aus der Sicht des Elfjährigen. Der in der ungarischen Provinz aufgewachsene Sohn jüdischer Eltern überlebte die Schlußphase der mörderischen Judenverfolgung in Budapest - in einem Haus, das unter dem Schutz der Schweiz stand. Für György Konrád sind die sowjetischen Truppen buchstäblich Retter gewesen, selbst wenn sie sich nicht immer als solche aufführten. Erstmals seit langer Zeit treten die Eingeschlossenen wieder frei von Todesangst vor die Türe. Der vordem oberhalb der Toreinfahrt angebrachte gelbe Stern liegt nun im Schnee.
Noch wird in der Hauptstadt, jenseits der Donau drüben in Buda, geschossen. Hungernd streunt eine Gruppe Jugendlicher auf der Jagd nach Eßbarem durch Straßen und Keller. Unter einem toten deutschen Soldaten finden sie in einer Kiste schimmlige Würste. Zu fünft quartieren sie sich bei Tante Zsófi ein, aber deren Wohnung hat inzwischen ein regimetreues Paar besetzt, das der rechtmäßigen Mieterin gnadenhalber einen Teil der Räume überläßt. Nach wenigen Wochen beschließt der kleine Junge, gemeinsam mit seiner zwei Jahre älteren Schwester aus der unwirtlichen Metropole ins Heimatstädtchen zu reisen. Die Fahrt mit dem Zug - eine Strecke von nicht mehr als 220 Kilometern - dauert sieben Tage: zusammengepfercht in Viehabteilen, auf offenen Kohlewaggons, manchmal bei minus zwanzig Grad. Ein "Pfeilkreuzler" nimmt sich der unmündigen Heimkehrer an.
Die jüdische Gemeinde von Berettyóújfalu ist auf ein Zwölftel geschrumpft, sie besteht fast nur aus Männern im besten, arbeitsfähigen Alter. Frauen, Kinder und Greise wurden vergast. Was aus Györgys Vater und Mutter geworden ist, weiß niemand. Im Frühling tauchen sie plötzlich aus einem Lager in der ehemaligen "Ostmark" auf. Und alsbald fordert der Alltag sein - im Krieg aufgehobenes - Recht. Mit dem Eintritt in ein Gymnasium in Debrecen endet der Rückblick.
"Heimkehr" ist eine denkbar unsentimentale Reise in die Vergangenheit. In der Leidensgeschichte wurde sorgsam alles Pathos ausgespart. Darum bewährt sich György Konrád als Meister des verstörenden Pianissimo: "Mein Vaterland, so glaube ich, wollte mich töten." Um so eindringlicher wirken die winzigen Beobachtungen, lauter Szenen aus den vorletzten Tagen der Menschheit. Der sie aufzeichnete, hat die Gabe, Erinnerungssplitter zum Mosaik einer Epoche zu fügen. ULRICH WEINZIERL
György Konrád: "Heimkehr". Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 70 S., br., 19,80 DM.
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György Konráds Bericht aus den vorletzten Tagen der Menschheit
Allzu leicht könnte man das Bändchen übersehen, zählt es doch gerade einmal siebzig Seiten. Auch die Stimme des Autors buhlt nicht um Aufmerksamkeit. Im Gegenteil, sie ist leise an der Grenze zum Lautlosen. Dabei hat György Konrád mancherlei zu erzählen: all das Vergangene, den Schrecken von einst, ein Ende und einen Anfang. "Heimkehr" nennt sich sein Bericht über den Winter 1944/45 aus der Sicht des Elfjährigen. Der in der ungarischen Provinz aufgewachsene Sohn jüdischer Eltern überlebte die Schlußphase der mörderischen Judenverfolgung in Budapest - in einem Haus, das unter dem Schutz der Schweiz stand. Für György Konrád sind die sowjetischen Truppen buchstäblich Retter gewesen, selbst wenn sie sich nicht immer als solche aufführten. Erstmals seit langer Zeit treten die Eingeschlossenen wieder frei von Todesangst vor die Türe. Der vordem oberhalb der Toreinfahrt angebrachte gelbe Stern liegt nun im Schnee.
Noch wird in der Hauptstadt, jenseits der Donau drüben in Buda, geschossen. Hungernd streunt eine Gruppe Jugendlicher auf der Jagd nach Eßbarem durch Straßen und Keller. Unter einem toten deutschen Soldaten finden sie in einer Kiste schimmlige Würste. Zu fünft quartieren sie sich bei Tante Zsófi ein, aber deren Wohnung hat inzwischen ein regimetreues Paar besetzt, das der rechtmäßigen Mieterin gnadenhalber einen Teil der Räume überläßt. Nach wenigen Wochen beschließt der kleine Junge, gemeinsam mit seiner zwei Jahre älteren Schwester aus der unwirtlichen Metropole ins Heimatstädtchen zu reisen. Die Fahrt mit dem Zug - eine Strecke von nicht mehr als 220 Kilometern - dauert sieben Tage: zusammengepfercht in Viehabteilen, auf offenen Kohlewaggons, manchmal bei minus zwanzig Grad. Ein "Pfeilkreuzler" nimmt sich der unmündigen Heimkehrer an.
Die jüdische Gemeinde von Berettyóújfalu ist auf ein Zwölftel geschrumpft, sie besteht fast nur aus Männern im besten, arbeitsfähigen Alter. Frauen, Kinder und Greise wurden vergast. Was aus Györgys Vater und Mutter geworden ist, weiß niemand. Im Frühling tauchen sie plötzlich aus einem Lager in der ehemaligen "Ostmark" auf. Und alsbald fordert der Alltag sein - im Krieg aufgehobenes - Recht. Mit dem Eintritt in ein Gymnasium in Debrecen endet der Rückblick.
"Heimkehr" ist eine denkbar unsentimentale Reise in die Vergangenheit. In der Leidensgeschichte wurde sorgsam alles Pathos ausgespart. Darum bewährt sich György Konrád als Meister des verstörenden Pianissimo: "Mein Vaterland, so glaube ich, wollte mich töten." Um so eindringlicher wirken die winzigen Beobachtungen, lauter Szenen aus den vorletzten Tagen der Menschheit. Der sie aufzeichnete, hat die Gabe, Erinnerungssplitter zum Mosaik einer Epoche zu fügen. ULRICH WEINZIERL
György Konrád: "Heimkehr". Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans-Henning Paetzke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 70 S., br., 19,80 DM.
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