Auf einer Brücke über einen Schweizer See kracht Heinrich Übel mit seinem geliehenen amerikanischen Straßenkreuzer ins Geländer. Als er nach dem Unfall wieder zu sich kommt, findet er sich in einem altmodischen Hotel auf Sizilien wieder. Er weiß, wer er ist, aber er hat keine Ahnung, wie er da hingekommen ist. Auch behandeln ihn die Menschen in dem kleinen Küstenort ganz anders als die in seinem früheren Leben: Er, der früher eher ein Unglücksrabe war, ist plötzlich ein Held und Frauenschwarm. Aber hat sich die Welt um ihn herum verändert oder ist er selbst ein anderer geworden? Was ist wirklich geschehen bei seinem Unfall auf der Brücke über den See?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Lust und Verblendung
Thomas Hürlimanns Roman "Heimkehr" ist eine opulente Bildungs- und Schelmengeschichte.
So einen Roman hat man von Thomas Hürlimann, dem Meister der strengen Form und der klaren Sätze, noch nicht gelesen: lustvoll überbordend erzählt und voller phantastischer und grotesker Episoden. Eine wilde, existentielle und raffiniert gebaute Schelmengeschichte, die den Leser wie ein Strudel herumwirbelt, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Denn genau so geht es dem Helden dieser Abenteuergeschichte, einem modernen Odysseus und Romantiker, der eigentlich nur eines will: nach Hause.
"Ich erzähle eine einfache, uralte Geschichte vom verlorenen Sohn, der heimkehrt zum verlorenen Vater", schreibt Thomas Hürlimann über seinen Roman. Aber einfach ist in dieser Geschichte nichts. Denn wie in allen seinen Romanen, Theaterstücken und Erzählungen gehören die rational-klare und die abgründige, dämonische Erscheinungsweise der Welt stets zusammen, und schon der Ausgangspunkt seines Helden Heinrich Übel, die Schweiz, ist für ihn vermintes und schwankendes Gelände: Vom Vater als "Abfall" bezeichnet und aus dem Haus geworfen, die Mutter früh verschwunden. Am meisten leidet er aber an der unsicheren, inkonsistenten und feindseligen Welt, die ihn umgibt, eine Art Albtraumreich, in dem er sich schuldig und fremd fühlt. Was aus ihm in dieser Welt einmal werden soll, kann er sich nicht vorstellen.
Ein wunderbar vielschichtiger, phantasievoller und humorvoller Held ist dieser Heinrich, Sohn des Gummifabrikanten Heinrich Übel, und er heißt nicht zufällig so - denn seine mehrfachen Versuche, sich der Heimat zu nähern, erinnern an ebensolche Versuche des "Grünen Heinrich" und seines Autors Gottfried Keller. "Heimatträume" und "Weiterträumen" heißen zwei besonders schöne Kapitel aus dem "Grünen Heinrich", die von zwei tragisch gescheiterten Rückkehrversuchen erzählen. Und auch Heinrich Übel junior steckt ausweglos fest in seinen Träumen. Dass seine lange Abenteuerreise nach einem Unfall auf vereister Brücke beginnt, hängt mit deren zweifachem Sinn zusammen: Diese Brücke verbindet nicht nur das Übel-Reich des Vaters mit dem des Lebens und der Freiheit, sondern sie ist auch eine ausgerollte, horizontale Variante der Treppe, dem Ort schicksalhafter Erkenntnis schlechthin. Ihre Urform findet sich in Platons Höhle, sie gehört zu den zentralen Motiven in Hürlimanns Werk. Dass dem verletzten Heinrich-Odysseus vom anderen Ufer Circes Wohnwagen als Freiheitsversprechen entgegenleuchtet, deutet schon den doppelten Boden des Romans an.
Kein Stolpern und Straucheln des Helden mehr, wie in den früheren Erzählungen, jetzt geht es um Leben und Tod, Sein oder Nichtsein, und der Autor hat Heinrich nicht nur den Geburtstag - 21. Dezember 1950 - geliehen, sondern auch seine Nahtoderfahrung samt "Auferweckung", die er in einem Essay als höchst ambivalentes Lazarus-Erlebnis schildert. Heinrich findet sich als ihm selbst Unbekannter auf Sizilien wieder, ein schiffbrüchiger Robinson mit martialischer Narbe und fehlerhaftem Gedächtnis, den der örtliche Pate unter seine Fittiche nimmt. Hier beginnt das rasante Spiel der Verwandlungen und lustvollen Genrespiele. Ob in Afrika oder in Ost-Berlin: Überall wird Heinrich für einen anderen gehalten, als er ist, und er verschanzt sich hinter einem schweigsamen Mafia-Gestus, der sich so großartig anfühlt wie der Anzug, den der Pate ihm anmessen lässt. Dabei bringt Hürlimann das Kunststück fertig, seinen zutiefst schüchternen Heinrich zu einer idealen Projektionsfläche werden zu lassen, einem Niemand, der alle ihm Begegnenden herausfordert: Manche verehren ihn, andere wollen ihn erziehen, demütigen oder manipulieren und werden damit auf verstörende Weise kenntlich. Heinrich analysiert das mit lakonischem Witz, denn eines hat er von seinem einzigen Freund, dem Kater Dada, gelernt: Er ist nicht gemeint, die Menschen sprechen immer von sich selbst.
Der eigensinnige Held ist der Motor des Buches, seine Abenteuer dienen einer Erziehung der Gefühle. Und natürlich steht die Liebe dabei im Mittelpunkt. Wie sein Seelenverwandter bei Gottfried Keller ist er hin- und hergerissen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, und die verzweifelte Suche nach der halb geträumten Mo Montag, die vor seinen Augen als Venus nackt dem Meer entsteigt, sich aber schnell als ideologisch aufgerüstete FDJ-Aktivistin zu erkennen gibt, gehört zu den schönsten Episoden. Auf ihren Spuren dringt er in die DDR ein, als wäre diese Dornröschens Schloss, und als Gummi-Erbe werden ihm von hochdekorierten Funktionären sonderbare Geschäftsideen unterbreitet. Er scheint von Somnambulen umgeben, und nach viel Wodka findet er die Geliebte schließlich als Lokomotive verkleidet auf einer deutsch-russischen Propagandafeier - ein Feuerwerk an grotesken und tiefsinnigen Gags, das Monty Python alle Ehre gemacht hätte!
Lebensentscheidend wird der dritte Versuch der Heimkehr. In Zürich erkennt ihn niemand, und im unscheinbaren Alltag seines früheren Mietshauses öffnet sich, meisterhaft erzählt, eine surreale Falltür: Heinrich macht sich auf die Suche nach sich selbst, befragt die Nachbarn und findet auf dem Speicher Reste seines Manuskriptberges wieder, aus dem sein "Lebenskatalog" entstehen sollte. Da er beim Schreiben am besten nachdenken kann, gelingt von hier aus sogar der Heimweg. In der Gummifabrik wird er mit offenen Armen empfangen und als neuer Chef dringend gebraucht: Er hat die Probe bestanden. Doch da, eine letzte, glanzvolle Pointe, bei der E.T.A. Hoffmann im Hintergrund die Fäden zieht: Der Kater mischt sich ein. Mehr soll hier nicht verraten werden - überraschender und die Kapriolen des Lebens liebevoll preisender kann eine Bildungsreise nicht enden.
NICOLE HENNEBERG
Thomas Hürlimann:
"Heimkehr". Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2018.
522 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Hürlimanns Roman "Heimkehr" ist eine opulente Bildungs- und Schelmengeschichte.
So einen Roman hat man von Thomas Hürlimann, dem Meister der strengen Form und der klaren Sätze, noch nicht gelesen: lustvoll überbordend erzählt und voller phantastischer und grotesker Episoden. Eine wilde, existentielle und raffiniert gebaute Schelmengeschichte, die den Leser wie ein Strudel herumwirbelt, dass ihm Hören und Sehen vergeht. Denn genau so geht es dem Helden dieser Abenteuergeschichte, einem modernen Odysseus und Romantiker, der eigentlich nur eines will: nach Hause.
"Ich erzähle eine einfache, uralte Geschichte vom verlorenen Sohn, der heimkehrt zum verlorenen Vater", schreibt Thomas Hürlimann über seinen Roman. Aber einfach ist in dieser Geschichte nichts. Denn wie in allen seinen Romanen, Theaterstücken und Erzählungen gehören die rational-klare und die abgründige, dämonische Erscheinungsweise der Welt stets zusammen, und schon der Ausgangspunkt seines Helden Heinrich Übel, die Schweiz, ist für ihn vermintes und schwankendes Gelände: Vom Vater als "Abfall" bezeichnet und aus dem Haus geworfen, die Mutter früh verschwunden. Am meisten leidet er aber an der unsicheren, inkonsistenten und feindseligen Welt, die ihn umgibt, eine Art Albtraumreich, in dem er sich schuldig und fremd fühlt. Was aus ihm in dieser Welt einmal werden soll, kann er sich nicht vorstellen.
Ein wunderbar vielschichtiger, phantasievoller und humorvoller Held ist dieser Heinrich, Sohn des Gummifabrikanten Heinrich Übel, und er heißt nicht zufällig so - denn seine mehrfachen Versuche, sich der Heimat zu nähern, erinnern an ebensolche Versuche des "Grünen Heinrich" und seines Autors Gottfried Keller. "Heimatträume" und "Weiterträumen" heißen zwei besonders schöne Kapitel aus dem "Grünen Heinrich", die von zwei tragisch gescheiterten Rückkehrversuchen erzählen. Und auch Heinrich Übel junior steckt ausweglos fest in seinen Träumen. Dass seine lange Abenteuerreise nach einem Unfall auf vereister Brücke beginnt, hängt mit deren zweifachem Sinn zusammen: Diese Brücke verbindet nicht nur das Übel-Reich des Vaters mit dem des Lebens und der Freiheit, sondern sie ist auch eine ausgerollte, horizontale Variante der Treppe, dem Ort schicksalhafter Erkenntnis schlechthin. Ihre Urform findet sich in Platons Höhle, sie gehört zu den zentralen Motiven in Hürlimanns Werk. Dass dem verletzten Heinrich-Odysseus vom anderen Ufer Circes Wohnwagen als Freiheitsversprechen entgegenleuchtet, deutet schon den doppelten Boden des Romans an.
Kein Stolpern und Straucheln des Helden mehr, wie in den früheren Erzählungen, jetzt geht es um Leben und Tod, Sein oder Nichtsein, und der Autor hat Heinrich nicht nur den Geburtstag - 21. Dezember 1950 - geliehen, sondern auch seine Nahtoderfahrung samt "Auferweckung", die er in einem Essay als höchst ambivalentes Lazarus-Erlebnis schildert. Heinrich findet sich als ihm selbst Unbekannter auf Sizilien wieder, ein schiffbrüchiger Robinson mit martialischer Narbe und fehlerhaftem Gedächtnis, den der örtliche Pate unter seine Fittiche nimmt. Hier beginnt das rasante Spiel der Verwandlungen und lustvollen Genrespiele. Ob in Afrika oder in Ost-Berlin: Überall wird Heinrich für einen anderen gehalten, als er ist, und er verschanzt sich hinter einem schweigsamen Mafia-Gestus, der sich so großartig anfühlt wie der Anzug, den der Pate ihm anmessen lässt. Dabei bringt Hürlimann das Kunststück fertig, seinen zutiefst schüchternen Heinrich zu einer idealen Projektionsfläche werden zu lassen, einem Niemand, der alle ihm Begegnenden herausfordert: Manche verehren ihn, andere wollen ihn erziehen, demütigen oder manipulieren und werden damit auf verstörende Weise kenntlich. Heinrich analysiert das mit lakonischem Witz, denn eines hat er von seinem einzigen Freund, dem Kater Dada, gelernt: Er ist nicht gemeint, die Menschen sprechen immer von sich selbst.
Der eigensinnige Held ist der Motor des Buches, seine Abenteuer dienen einer Erziehung der Gefühle. Und natürlich steht die Liebe dabei im Mittelpunkt. Wie sein Seelenverwandter bei Gottfried Keller ist er hin- und hergerissen zwischen Phantasie und Wirklichkeit, und die verzweifelte Suche nach der halb geträumten Mo Montag, die vor seinen Augen als Venus nackt dem Meer entsteigt, sich aber schnell als ideologisch aufgerüstete FDJ-Aktivistin zu erkennen gibt, gehört zu den schönsten Episoden. Auf ihren Spuren dringt er in die DDR ein, als wäre diese Dornröschens Schloss, und als Gummi-Erbe werden ihm von hochdekorierten Funktionären sonderbare Geschäftsideen unterbreitet. Er scheint von Somnambulen umgeben, und nach viel Wodka findet er die Geliebte schließlich als Lokomotive verkleidet auf einer deutsch-russischen Propagandafeier - ein Feuerwerk an grotesken und tiefsinnigen Gags, das Monty Python alle Ehre gemacht hätte!
Lebensentscheidend wird der dritte Versuch der Heimkehr. In Zürich erkennt ihn niemand, und im unscheinbaren Alltag seines früheren Mietshauses öffnet sich, meisterhaft erzählt, eine surreale Falltür: Heinrich macht sich auf die Suche nach sich selbst, befragt die Nachbarn und findet auf dem Speicher Reste seines Manuskriptberges wieder, aus dem sein "Lebenskatalog" entstehen sollte. Da er beim Schreiben am besten nachdenken kann, gelingt von hier aus sogar der Heimweg. In der Gummifabrik wird er mit offenen Armen empfangen und als neuer Chef dringend gebraucht: Er hat die Probe bestanden. Doch da, eine letzte, glanzvolle Pointe, bei der E.T.A. Hoffmann im Hintergrund die Fäden zieht: Der Kater mischt sich ein. Mehr soll hier nicht verraten werden - überraschender und die Kapriolen des Lebens liebevoll preisender kann eine Bildungsreise nicht enden.
NICOLE HENNEBERG
Thomas Hürlimann:
"Heimkehr". Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2018.
522 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was er uns hinterlässt, füllt am Ende aber dennoch 520 Seiten, von denen man keine missen möchte. [...] Die Wiedergeburt [...] gelingt ihm auf großartige Weise auch literarisch. Charles Linsmayer NZZ am Sonntag 20180829
Lazarus mit Sesseltelefon
„Heimkehr“ heißt der neue Roman von Thomas Hürlimann, sein erster
seit zwölf Jahren. Er steckt voller Engel, Teufel und abtruser Einfälle
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Um den neuen Roman des Schweizers Thomas Hürlimann, den ersten seit zwölf Jahren, rankten sich Geschichten. „Heimkehr“, so der Titel des Romans, war bereits 2014 in erster Fassung so gut wie fertig, als Thomas Hürlimann die Krebsdiagnose erhielt und während der Operation eine Nahtoderfahrung hatte, die es ihm unmöglich machte, den Roman in der ursprünglichen, weitaus realistischer gehaltenen Form zu vollenden. Er setzte neu an und schrieb „Heimkehr“ noch einmal, mit dem Ergebnis, dass vor uns nun ein flirrendes Buch liegt, dessen Lektüre nicht immer einfach und dessen Handlung dezidiert nicht linear angelegt ist, das aber dafür mit Sprachkraft, skurrilen Einfällen und überraschenden Einsichten gesättigt ist.
Heinrich Übel junior heißt der Ich-Erzähler des Romans und ist, wie Thomas Hürlimann selbst, am 21. Dezember 1950 geboren. Dass man dieses Datum nicht vergisst, dafür sorgt die Erzählweise, die weniger dem Voranschreiten eines plausiblen Plots verpflichtet ist, als vielmehr in konzentrischen Kreisen eine Rekonstruktion dessen vornimmt, was überhaupt passiert sein könnte. Heinrich Übel ist der Spross einer Schweizer Fabrikantenfamilie. Die Firma produziert Gummiwaren, allen voran Kondome. Der Sohn war zunächst als Automatenauffüller im ganzen Land unterwegs und später für die (recht albernen) Texte der Werbebroschüren verantwortlich, bevor der Vater ihn, doch hier beginnen bereits die Ungewissheiten, 18 Jahre vor dem Zeitpunkt der eigentlichen Romanhandlung im Streit vor die Tür setzte.
Seitdem führte der abiturlose Sohn ein Leben als Gasthörer in sämtlichen Fakultäten an der Zürcher Universität – ein Universalprivatgelehrter in einem Mansardenzimmer, der Tausende Blätter vollschreibt in dem Bemühen, seinen Lebenslauf auf eine einzige Seite zu bringen und der sich von seiner Zimmerwirtin tyrannisieren lässt. Nach knapp zwei Jahrzehnten erreicht ihn ein Anruf aus dem heimatlichen Tal: Der Vater, so teilt man ihm mit, sei gestürzt und wünsche den Sohn zu sehen. Der macht sich in einem geliehenen Auto auf den Weg, verunglückt, wie man zunächst annehmen darf, kurz vor dem Ziel und findet sich, als er wieder aufwacht, nicht nur in einer, sondern in sehr vielen unterschiedlichen Welten wieder.
Was Thomas Hürlimann nun virtuos inszeniert, ist eine Reise durch Bilderfluten und Bewusstseinszustände; durch Projektionen einer Existenz, die dem Protagonisten in einem vorangegangenen Leben verbaut war. Ein Schelmenroman, in dem Hürlimann die Waage hält zwischen dem karnevalistischen Gewand, in das er ihn gekleidet hat, und der philosophischen Tiefe, die ihm zugrunde liegt.
Als Heinrich Übel nach dem Unfall zu sich kommt, befindet er sich nicht im Krankenhaus, sondern in einem Hotel auf Sizilien. Die Unfallnarbe an seinem Kopf interpretiert man in Süditalien als schlecht verheilte Schusswunde. Der gehemmte Lebensversager steigt zum umschwärmten Helden auf, verkehrt in halbseidenen Kreisen und in einem Ambiente, das Hürlimann aus den Versatzstücken untergegangener Pracht, Morbidität, Dekadenz und nicht zuletzt einer gehörigen Portion an Männerfantasien (all diese Zimmermädchen in kurzen Röcken!) erschafft. Dahinter steht stets die Frage: Wo befinden wir uns eigentlich? Welchen Gesetzen gehorcht das Universum, in das der Held geschleudert wurde?
Sicher ist: Rein historisch ist Heinrich Übel in eine Zeit vor dem November 1989 hineingeraten, denn er verliebt sich in eine ostdeutsche Schönheit, Mitglied einer DDR-Handelsorganisation, die sozialistische Parolen herunterbetet und vor allem eine bahnbrechende Erfindung zu vermarkten versucht: Einen Ohrensessel, der zugleich ein Mobiltelefon darstellt. Der Roman ist voll von derart abstrusen Einfällen, und Hürlimann schlägt immer wieder gewagte Gedankenverbindungen, in denen ein verfaulender Lachs schnell einmal zu einem christlichen Symbol umgedeutet werden kann oder ein Sophia-Loren-Double sich in einem Zürcher Mietshaus von ihrem Ehemann gängeln lässt. Und doch steckt hinter der komödiantischen Reise, die Heinrich Übel von Sizilien über Afrika und Ost-Berlin, wo er den Mauerfall erlebt, zurück in die Schweiz führt, eine spürbare existenzielle Dringlichkeit.
Das melancholische Grundgefühl, das hinter diesem Reigen an Abenteuern und erotischen Fantasien aufscheint, resultiert daraus, dass Hürlimann zu keinem Zeitpunkt vergisst, dass sein Protagonist sich im Raum zwischen Leben und Tod aufhält. So erklären sich sowohl die hin und wieder ein wenig zu dick aufgetragenen Verweise auf biblische und mythologische Heimkehrer-Geschichten, als auch die sich zunehmend rasend gestaltende Recherche Heinrich Übels in Bezug auf die tatsächlichen Geschehnisse in der Unfallnacht, vor allem aber in Bezug auf die vermeintlichen Gewissheiten seines alten Lebens. Garniert ist die Recherche mit satirisch überspitzten Seitenhieben auf die Zürcher Kulturszene, die sich allerdings gegen Ende des Romans als weniger willkürlich und rein dekorativ herausstellen, als man zunächst vermuten könnte.
Denn verknüpft mit der Wiedererfindung der eigenen Biografie ist Heinrich Übels Selbstaufklärung über das Verhältnis zu seiner Mutter, die, so hat er es sich bislang eingeredet, spurlos verschwand, als er sieben Jahre alt war und den Jungen im Stich ließ. Wo also ist all das hin? Die verschwundenen Menschen, die verlorene Zeit, das verfehlte Leben? „Heimkehr“ erforscht die Daseinsmöglichkeiten in einem todesnahen Raum – und landet schließlich beim Motiv des aus seinem Grab auferstandenen Lazarus. Der biblischen Figur hat Thomas Hürlimann nach seinem Krankenhausaufenthalt einen stilistisch überbordenden Essay gewidmet, der als theologische Interpretationsgrundlage des Romans dienen kann. „In der Leere dieser Gestalt“, so schreibt Hürlimann, „wird die Leere einer Zukunft sichtbar, die alle Grenzen verwischt, die Grenze zwischen Jugend und Alter, zwischen Leben und Tod.“
Tatsächlich rast Hürlimanns Alter Ego Heinrich Übel am Ende des Romans in eine ungewisse Zukunft. Am Steuer des Wagens sitzt der Kater Dada (bekifft und in Lederstiefeln), der Übel als Ratgeber und Glücksbringer durch seine Odyssee hindurch begleitet hat. Ein wundersamer Abschluss für einen beeindruckenden Roman voller Engel, Teufel und Mysterien. Das größte Wunder allerdings ist der Umstand, dass „Heimkehr“ überhaupt noch einmal so geschrieben werden konnte.
Welchen Gesetzen gehorcht
das Universum, in das
der Held geschleudert wurde?
Am Steuer des Wagens
sitzt am Ende der Kater Dada,
bekifft und in Lederstiefeln
Thomas Hürlimann:
Heimkehr. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 528 Seiten, 25 Euro.
Thomas Hürlimann in Luzern, den Vierwaldstättersee im Rücken.
Foto: picture alliance/KEYSTONE
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„Heimkehr“ heißt der neue Roman von Thomas Hürlimann, sein erster
seit zwölf Jahren. Er steckt voller Engel, Teufel und abtruser Einfälle
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Um den neuen Roman des Schweizers Thomas Hürlimann, den ersten seit zwölf Jahren, rankten sich Geschichten. „Heimkehr“, so der Titel des Romans, war bereits 2014 in erster Fassung so gut wie fertig, als Thomas Hürlimann die Krebsdiagnose erhielt und während der Operation eine Nahtoderfahrung hatte, die es ihm unmöglich machte, den Roman in der ursprünglichen, weitaus realistischer gehaltenen Form zu vollenden. Er setzte neu an und schrieb „Heimkehr“ noch einmal, mit dem Ergebnis, dass vor uns nun ein flirrendes Buch liegt, dessen Lektüre nicht immer einfach und dessen Handlung dezidiert nicht linear angelegt ist, das aber dafür mit Sprachkraft, skurrilen Einfällen und überraschenden Einsichten gesättigt ist.
Heinrich Übel junior heißt der Ich-Erzähler des Romans und ist, wie Thomas Hürlimann selbst, am 21. Dezember 1950 geboren. Dass man dieses Datum nicht vergisst, dafür sorgt die Erzählweise, die weniger dem Voranschreiten eines plausiblen Plots verpflichtet ist, als vielmehr in konzentrischen Kreisen eine Rekonstruktion dessen vornimmt, was überhaupt passiert sein könnte. Heinrich Übel ist der Spross einer Schweizer Fabrikantenfamilie. Die Firma produziert Gummiwaren, allen voran Kondome. Der Sohn war zunächst als Automatenauffüller im ganzen Land unterwegs und später für die (recht albernen) Texte der Werbebroschüren verantwortlich, bevor der Vater ihn, doch hier beginnen bereits die Ungewissheiten, 18 Jahre vor dem Zeitpunkt der eigentlichen Romanhandlung im Streit vor die Tür setzte.
Seitdem führte der abiturlose Sohn ein Leben als Gasthörer in sämtlichen Fakultäten an der Zürcher Universität – ein Universalprivatgelehrter in einem Mansardenzimmer, der Tausende Blätter vollschreibt in dem Bemühen, seinen Lebenslauf auf eine einzige Seite zu bringen und der sich von seiner Zimmerwirtin tyrannisieren lässt. Nach knapp zwei Jahrzehnten erreicht ihn ein Anruf aus dem heimatlichen Tal: Der Vater, so teilt man ihm mit, sei gestürzt und wünsche den Sohn zu sehen. Der macht sich in einem geliehenen Auto auf den Weg, verunglückt, wie man zunächst annehmen darf, kurz vor dem Ziel und findet sich, als er wieder aufwacht, nicht nur in einer, sondern in sehr vielen unterschiedlichen Welten wieder.
Was Thomas Hürlimann nun virtuos inszeniert, ist eine Reise durch Bilderfluten und Bewusstseinszustände; durch Projektionen einer Existenz, die dem Protagonisten in einem vorangegangenen Leben verbaut war. Ein Schelmenroman, in dem Hürlimann die Waage hält zwischen dem karnevalistischen Gewand, in das er ihn gekleidet hat, und der philosophischen Tiefe, die ihm zugrunde liegt.
Als Heinrich Übel nach dem Unfall zu sich kommt, befindet er sich nicht im Krankenhaus, sondern in einem Hotel auf Sizilien. Die Unfallnarbe an seinem Kopf interpretiert man in Süditalien als schlecht verheilte Schusswunde. Der gehemmte Lebensversager steigt zum umschwärmten Helden auf, verkehrt in halbseidenen Kreisen und in einem Ambiente, das Hürlimann aus den Versatzstücken untergegangener Pracht, Morbidität, Dekadenz und nicht zuletzt einer gehörigen Portion an Männerfantasien (all diese Zimmermädchen in kurzen Röcken!) erschafft. Dahinter steht stets die Frage: Wo befinden wir uns eigentlich? Welchen Gesetzen gehorcht das Universum, in das der Held geschleudert wurde?
Sicher ist: Rein historisch ist Heinrich Übel in eine Zeit vor dem November 1989 hineingeraten, denn er verliebt sich in eine ostdeutsche Schönheit, Mitglied einer DDR-Handelsorganisation, die sozialistische Parolen herunterbetet und vor allem eine bahnbrechende Erfindung zu vermarkten versucht: Einen Ohrensessel, der zugleich ein Mobiltelefon darstellt. Der Roman ist voll von derart abstrusen Einfällen, und Hürlimann schlägt immer wieder gewagte Gedankenverbindungen, in denen ein verfaulender Lachs schnell einmal zu einem christlichen Symbol umgedeutet werden kann oder ein Sophia-Loren-Double sich in einem Zürcher Mietshaus von ihrem Ehemann gängeln lässt. Und doch steckt hinter der komödiantischen Reise, die Heinrich Übel von Sizilien über Afrika und Ost-Berlin, wo er den Mauerfall erlebt, zurück in die Schweiz führt, eine spürbare existenzielle Dringlichkeit.
Das melancholische Grundgefühl, das hinter diesem Reigen an Abenteuern und erotischen Fantasien aufscheint, resultiert daraus, dass Hürlimann zu keinem Zeitpunkt vergisst, dass sein Protagonist sich im Raum zwischen Leben und Tod aufhält. So erklären sich sowohl die hin und wieder ein wenig zu dick aufgetragenen Verweise auf biblische und mythologische Heimkehrer-Geschichten, als auch die sich zunehmend rasend gestaltende Recherche Heinrich Übels in Bezug auf die tatsächlichen Geschehnisse in der Unfallnacht, vor allem aber in Bezug auf die vermeintlichen Gewissheiten seines alten Lebens. Garniert ist die Recherche mit satirisch überspitzten Seitenhieben auf die Zürcher Kulturszene, die sich allerdings gegen Ende des Romans als weniger willkürlich und rein dekorativ herausstellen, als man zunächst vermuten könnte.
Denn verknüpft mit der Wiedererfindung der eigenen Biografie ist Heinrich Übels Selbstaufklärung über das Verhältnis zu seiner Mutter, die, so hat er es sich bislang eingeredet, spurlos verschwand, als er sieben Jahre alt war und den Jungen im Stich ließ. Wo also ist all das hin? Die verschwundenen Menschen, die verlorene Zeit, das verfehlte Leben? „Heimkehr“ erforscht die Daseinsmöglichkeiten in einem todesnahen Raum – und landet schließlich beim Motiv des aus seinem Grab auferstandenen Lazarus. Der biblischen Figur hat Thomas Hürlimann nach seinem Krankenhausaufenthalt einen stilistisch überbordenden Essay gewidmet, der als theologische Interpretationsgrundlage des Romans dienen kann. „In der Leere dieser Gestalt“, so schreibt Hürlimann, „wird die Leere einer Zukunft sichtbar, die alle Grenzen verwischt, die Grenze zwischen Jugend und Alter, zwischen Leben und Tod.“
Tatsächlich rast Hürlimanns Alter Ego Heinrich Übel am Ende des Romans in eine ungewisse Zukunft. Am Steuer des Wagens sitzt der Kater Dada (bekifft und in Lederstiefeln), der Übel als Ratgeber und Glücksbringer durch seine Odyssee hindurch begleitet hat. Ein wundersamer Abschluss für einen beeindruckenden Roman voller Engel, Teufel und Mysterien. Das größte Wunder allerdings ist der Umstand, dass „Heimkehr“ überhaupt noch einmal so geschrieben werden konnte.
Welchen Gesetzen gehorcht
das Universum, in das
der Held geschleudert wurde?
Am Steuer des Wagens
sitzt am Ende der Kater Dada,
bekifft und in Lederstiefeln
Thomas Hürlimann:
Heimkehr. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 528 Seiten, 25 Euro.
Thomas Hürlimann in Luzern, den Vierwaldstättersee im Rücken.
Foto: picture alliance/KEYSTONE
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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