In ortloser Höhe thront eine gläserne Klinik über den Angelegenheiten der Normalsterblichen. Dr. Franz von Stern, der als Arzt selbstverständlich mit einer zusätzlichen Hirnrindenschicht und einem Mediator zwischen den Rippen ausgestattet ist, versagt als Referent in eigener Sache: Unfähig, den geforderten Eigenbericht für seine Klinikleitung zu verfassen, erzählt er sich zurück in seine Vergangenheit. Eine »Ambulante« erscheint ihm als Wiedergängerin seiner Frau, und im vermeintlichen Wahngerede seiner Patienten sucht er nach dem Echo der eigenen Geschichte. Irrealer als die Gegenwart, dieses taghelle Delirium, kann das Erinnerte nicht sein, und so macht von Stern sich auf, seine verglaste Welt zu verlassen.
Angelika Meiers Roman spielt in einer Welt, in der »mangelnde Gesundheitseinsicht« ein tödlicher Befund ist: eine fröhlich-düstere Elegie auf uns fast vergangene Gegenwartsmenschen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Angelika Meiers Roman "Heimlich, heimlich mich vergiss" hat Margarete Stokowski sichtlich beeindruckt. Sie liest diese Science-Fiction-Erzählung um einen mit einer zweiten Hirnrinde und einem Mediator ausgestatteten Arzt in einer futuristischen Klinik, der unfähig ist, den von der Klinikleitung geforderten Eigenbericht abzuliefern, als "postmoderne Version von Thomas Manns 'Zauberberg'". Neben Elementen von Huxleys "Schöner neuen Welt" und Dürrenmatts "Physiker" findet sie zahlreiche Anspielungen auf unsere Gegenwart: Yoga- und Wellneswahn, Burn-out, Depression, Technikbegeisterung, Selbstoptimierung, Entgrenzung der Arbeit usw. Dabei unterstreicht sie, dass diese Anspielungen nicht um ihrer selbst willen vorkommen, sondern in die Geschichte eingewoben sind und sie tragen. Meier gelingt es in ihren Augen überzeugend, die Balance zwischen Satire und Utopie zu halten. Deutlich wird in diesem höchst intelligenten Werk für sie jedenfalls, dass die menschlichen Probleme mit fortschrittlicher Technik nicht wirklich weniger, sondern nur anders werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.06.2012Wer im Glashaus sitzt, sollte mit Steinen werfen
Kriegserklärung an die eigene Unterwürfigkeit: Angelika Meiers postpostpostmoderner Roman treibt seine Späße mit dem Therapiewahn. Ein Volltreffer!
Eine der letzten Verheißungen der Geistesgeschichte war der Gegendiskurs, von intellektuellen Partisanen eingeschmuggelt in die postmodernen Dionysien der Relativität, ein letztes Aufbäumen des Politischen im Zeitalter des Fatalismus. Wer sich Michel Foucaults Diskursanalyse anschloss, der konnte Wahrheit für Wahrheit auf hegemoniale Diskurse und herrschende Epistemen zurückführen, durchschaute alle Riten und Meinungen als verinnerlichte Befehle einer Macht, die sich über die Bewusstseinsebene den Zugriff auf die Körper sicherte. Damit lag einem die ideologiepanzerbrechende Waffe schon in der Hand, die große Gegenrede im Namen des Verworfenen. Nicht ganz zufällig fand Foucault das Modell für die Inversionsfigur Diskurs - Gegendiskurs im Ausgrenzungs- und Rekodierungskomplex Irrenanstalt respektive seiner Fortsetzung in der Klinik: "Wahnsinn und Gesellschaft" lief auf die Entlarvung des Psychologen als Nachfahre des homo mente captus hinaus. Das war ebenso sehr Literatur und Manifest wie Geschichtsschreibung und Philosophie - und deshalb so fesselnd.
Angelika Meier hat nun von der Gegenseite her den Roman zur Antipsychiatrie verfasst, der so gut ist, weil man ihn ebenso als Philosophie und Zeitgeschichtsschreibung lesen kann. Neu ist das Inversionsmotiv psychiatrische Anstalt - der Rollentausch von Insassen und Angestellten - freilich nicht, im Gegenteil: In der Literatur ließe sich gar von einem eigenen Genre sprechen. Den Kern macht allerdings häufig die genieästhetische Aufwertung dessen aus, was Plato abwertend meinte: die Scheinverwandtschaft von Kunst und Wahnsinn.
Diese Dimension interessiert Meier nicht weiter. Sie hat wirklich die Anstalt im Blick, und sie liebt das Spiel mit der großen Verunsicherung, mit dem Traum vom Erwachen in einem Albtraum, was vom "Kabinett des Dr. Caligari" bis zu "Matrix" eher filmische Vorbilder hat. Sucht man den Anschluss ans Literarische, dann ist eher schon an den medizinischen Alfred Döblin zu denken, der sich in seiner Doktorarbeit stark für jene Konfabulationen interessierte, mit denen bei der Korsakoffschen Psychose Gedächtnislücken überbrückt werden.
Das Zentralthema Meiers ist die Neuformatierung des psychischen Systems, wodurch auch Vergangenheit und Zukunft, nichts als diskursive Konstrukte, neu aufgesetzt werden. Ob sich die verschiedenen Bewusstseinsebenen, welche dem Leser präsentiert werden, in erkenntnistheoretischer Hinsicht hierarchisieren lassen, ob also ein Zustand der Wahrheit entspricht oder ob es gar kein Außen gibt, bleibt selbstredend offen: Es könnte durchaus sein, dass wir uns im Innern einer Psychose, in einem Traum oder doch im Jenseits befinden. Legen wir die einfachste Lesart zugrunde, erwacht hier ein Funktionär des Systems aus einem zwanzigjährigen Schlaf der Vernunft.
Der Ort der Handlung ist eine - pardon - kafkaeske Klinik, gläsern, jedoch nur mit Blick auf sich selbst. Diese totale Anstalt hat keinen Ausgang und thront auf einem gewaltigen Berg hoch oben über der Normalwelt. Die Vergangenheit hat hier keinen Platz, ragt nur als Krankheit in die antiseptische Gegenwart. Wer hartnäckig an ihr festhält, also an "mangelnder Gesundheitseinsicht" leidet, hat nur den Ausweg: die eigene Einschläferung zu verlangen. Normalerweise aber werden die Patienten mittels Drogen sowie gymnastischer und esoterischer Techniken (Atemübungen, Stimmenhören, Massagen) ruhiggestellt - allein für diesen fälligen Frontalangriff auf den Ayurveda- und Fitness-Terror möchte man sich vor der Autorin verneigen.
Den Reiz dieser Dystopie einer restlos durchtherapierten Gesellschaft macht es aus, dass sie mit viel Phantasie und pseudomedizinischer Akribie ausgemalt wird, und zwar von ihrer Infragestellung aus. Dr. Franz von Stern, einer der behandelnden Ärzte, muss seinen "Eigenbericht" verfassen, wie das von der so gefürchteten wie opaken Machtinstanz "Klinikleitung" erwartet wird. Dabei gerät er ins Stocken: "Was für die Kamera in der Zimmerecke links über uns aussieht wie eine tadellose Übung in Stoa, ist das genaue Gegenteil, nämlich ein Totalausfall irgendeines Areals in meinem Stortex, orbitofrontal höchstwahrscheinlich. Denn auf einmal hasse ich Patienten." Als auch noch eine neue, ambulante Patientin (ein Unding, eben weil die Klinik nur einen Eingang, aber keinen Ausgang hat) auftaucht, in der er seine frühere Frau wiederzuerkennen meint, wird aus dem Stocken ein Zweifeln. Die unterdrückte Erinnerung an die Vergangenheit kehrt mit Macht zurück: eine schöne Liebesgeschichte zwischen dem angehenden, systemgläubigen Arzt und der immer schon aufmüpfigen Studentin Esther, die mit einer gewaltsamen, blutigen Trennung endete.
Von Stern gerät aus der Bahn, das übliche Stabilisierungsprogramm wie Durchleuchtung im Schlaflabor (eigentlich wird hier nicht geschlafen) führt zu nichts: "Was, wenn diese Sache hier nicht einfach leerdreht oder leer dreht, sondern doch noch in dir einrastet?" Sollte der neunzehn Jahre alte Patient Evelyn, der ihn immer schon "Papa" nennt, gar nicht so verrückt sein? Die Kollegen jedenfalls distanzieren sich von dem Abtrünnigen: "Er muss halt seine Erinnerungen als Konfabulationen erkennen."
Ein geschickter Schachzug, der sich auch poetologisch auswirkt, ist das Umschmieden der Schizophrenie zum Machtinstrument: Sie wird nicht diagnostiziert, sondern installiert. Die Aufspaltung des Klinikpersonals in "Arzt" und "Referent" nämlich ist Programm. Letzterer stellt eine ins Bewusstsein eingepflanzte Instanz des Systems dar, auch "Mediator" genannt beziehungsweise in medizinischer Diktion "Stortex": Von hier gehen die Einflüsterungen aus.
Erzählt wird aus der doppelten Perspektive der Hauptfigur, weshalb sich permanent zwei Erzählstile überlagern: der referentennahe Protokollton des Eigenberichts ("Patient schreit unablässig") und der sich allmählich befreiende persönliche Ton der Apostrophe an die Geliebte. Der Zweifel schlägt schließlich um in Aktion: Es steht die Flucht an, und bei dieser geht es so surreal zu, wie das bei Fluchten aus Parallel-, Unter- oder Oberwelten eben der Fall ist. Mit Hinweisen auf den christlichen Subtext wird nicht gespart: ein letztes, ausfallendes "Abendmahl", die Vorliebe Evelyns für das biblische Idiom, einen "ausgestorbenen hysterischen Dialekt". Doch griffe es zu kurz, "Heimlich, heimlich mich vergiss" als Kritik hermetischer religiöser Denkgebäude aufzufassen: Vielmehr wird hier die eine Universalideologie als Brecheisen verwendet, um die andere, modernere aufzustemmen: Frömmigkeit und Gouvernementalität als untergründig verwandte Denkverweigerungen.
Dieser Roman ist selbst nichts weniger als subversiver Gegendiskurs, der im Herzen unserer Überwachungs- und Wohlfühlgesellschaft ansetzt, dabei sprachlich anspruchsvoll, spannend, kurios, rasant und witzig, kurz: ein Volltreffer! So philosophisch der Roman daherkommt, so wenig verstaubt und akademisch wirkt er. Verzweiflung und Lakonie, realistische Detailfreude und Surrealismus halten sich die Waage. Bis in die kleinsten Nebenhandlungen hinein ist das Buch ein hintergründiger Kommentar zu unserer Selbstentmündigung, deren Folgen und Nebenwirkungen wir wegmassieren lassen oder mit Psychopharmaka unterdrücken. Angelika Meier, die über Derrida und Wittgenstein promoviert hat, genauer: über "die Aporie in Philosophie, Literatur und Lebenspraxis", und in ihrem Debüt "England" (2010) den Wissenschaftsroman samt der Wissenschaft ad absurdum führte, muss spätestens mit diesem zweiten Roman als eine der neuen großen Hoffnungen im deutschen Literaturbetrieb gelten.
OLIVER JUNGEN
Angelika Meier: "Heimlich, heimlich mich vergiss". Roman.
Diaphanes Verlag, Zürich 2012. 331 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kriegserklärung an die eigene Unterwürfigkeit: Angelika Meiers postpostpostmoderner Roman treibt seine Späße mit dem Therapiewahn. Ein Volltreffer!
Eine der letzten Verheißungen der Geistesgeschichte war der Gegendiskurs, von intellektuellen Partisanen eingeschmuggelt in die postmodernen Dionysien der Relativität, ein letztes Aufbäumen des Politischen im Zeitalter des Fatalismus. Wer sich Michel Foucaults Diskursanalyse anschloss, der konnte Wahrheit für Wahrheit auf hegemoniale Diskurse und herrschende Epistemen zurückführen, durchschaute alle Riten und Meinungen als verinnerlichte Befehle einer Macht, die sich über die Bewusstseinsebene den Zugriff auf die Körper sicherte. Damit lag einem die ideologiepanzerbrechende Waffe schon in der Hand, die große Gegenrede im Namen des Verworfenen. Nicht ganz zufällig fand Foucault das Modell für die Inversionsfigur Diskurs - Gegendiskurs im Ausgrenzungs- und Rekodierungskomplex Irrenanstalt respektive seiner Fortsetzung in der Klinik: "Wahnsinn und Gesellschaft" lief auf die Entlarvung des Psychologen als Nachfahre des homo mente captus hinaus. Das war ebenso sehr Literatur und Manifest wie Geschichtsschreibung und Philosophie - und deshalb so fesselnd.
Angelika Meier hat nun von der Gegenseite her den Roman zur Antipsychiatrie verfasst, der so gut ist, weil man ihn ebenso als Philosophie und Zeitgeschichtsschreibung lesen kann. Neu ist das Inversionsmotiv psychiatrische Anstalt - der Rollentausch von Insassen und Angestellten - freilich nicht, im Gegenteil: In der Literatur ließe sich gar von einem eigenen Genre sprechen. Den Kern macht allerdings häufig die genieästhetische Aufwertung dessen aus, was Plato abwertend meinte: die Scheinverwandtschaft von Kunst und Wahnsinn.
Diese Dimension interessiert Meier nicht weiter. Sie hat wirklich die Anstalt im Blick, und sie liebt das Spiel mit der großen Verunsicherung, mit dem Traum vom Erwachen in einem Albtraum, was vom "Kabinett des Dr. Caligari" bis zu "Matrix" eher filmische Vorbilder hat. Sucht man den Anschluss ans Literarische, dann ist eher schon an den medizinischen Alfred Döblin zu denken, der sich in seiner Doktorarbeit stark für jene Konfabulationen interessierte, mit denen bei der Korsakoffschen Psychose Gedächtnislücken überbrückt werden.
Das Zentralthema Meiers ist die Neuformatierung des psychischen Systems, wodurch auch Vergangenheit und Zukunft, nichts als diskursive Konstrukte, neu aufgesetzt werden. Ob sich die verschiedenen Bewusstseinsebenen, welche dem Leser präsentiert werden, in erkenntnistheoretischer Hinsicht hierarchisieren lassen, ob also ein Zustand der Wahrheit entspricht oder ob es gar kein Außen gibt, bleibt selbstredend offen: Es könnte durchaus sein, dass wir uns im Innern einer Psychose, in einem Traum oder doch im Jenseits befinden. Legen wir die einfachste Lesart zugrunde, erwacht hier ein Funktionär des Systems aus einem zwanzigjährigen Schlaf der Vernunft.
Der Ort der Handlung ist eine - pardon - kafkaeske Klinik, gläsern, jedoch nur mit Blick auf sich selbst. Diese totale Anstalt hat keinen Ausgang und thront auf einem gewaltigen Berg hoch oben über der Normalwelt. Die Vergangenheit hat hier keinen Platz, ragt nur als Krankheit in die antiseptische Gegenwart. Wer hartnäckig an ihr festhält, also an "mangelnder Gesundheitseinsicht" leidet, hat nur den Ausweg: die eigene Einschläferung zu verlangen. Normalerweise aber werden die Patienten mittels Drogen sowie gymnastischer und esoterischer Techniken (Atemübungen, Stimmenhören, Massagen) ruhiggestellt - allein für diesen fälligen Frontalangriff auf den Ayurveda- und Fitness-Terror möchte man sich vor der Autorin verneigen.
Den Reiz dieser Dystopie einer restlos durchtherapierten Gesellschaft macht es aus, dass sie mit viel Phantasie und pseudomedizinischer Akribie ausgemalt wird, und zwar von ihrer Infragestellung aus. Dr. Franz von Stern, einer der behandelnden Ärzte, muss seinen "Eigenbericht" verfassen, wie das von der so gefürchteten wie opaken Machtinstanz "Klinikleitung" erwartet wird. Dabei gerät er ins Stocken: "Was für die Kamera in der Zimmerecke links über uns aussieht wie eine tadellose Übung in Stoa, ist das genaue Gegenteil, nämlich ein Totalausfall irgendeines Areals in meinem Stortex, orbitofrontal höchstwahrscheinlich. Denn auf einmal hasse ich Patienten." Als auch noch eine neue, ambulante Patientin (ein Unding, eben weil die Klinik nur einen Eingang, aber keinen Ausgang hat) auftaucht, in der er seine frühere Frau wiederzuerkennen meint, wird aus dem Stocken ein Zweifeln. Die unterdrückte Erinnerung an die Vergangenheit kehrt mit Macht zurück: eine schöne Liebesgeschichte zwischen dem angehenden, systemgläubigen Arzt und der immer schon aufmüpfigen Studentin Esther, die mit einer gewaltsamen, blutigen Trennung endete.
Von Stern gerät aus der Bahn, das übliche Stabilisierungsprogramm wie Durchleuchtung im Schlaflabor (eigentlich wird hier nicht geschlafen) führt zu nichts: "Was, wenn diese Sache hier nicht einfach leerdreht oder leer dreht, sondern doch noch in dir einrastet?" Sollte der neunzehn Jahre alte Patient Evelyn, der ihn immer schon "Papa" nennt, gar nicht so verrückt sein? Die Kollegen jedenfalls distanzieren sich von dem Abtrünnigen: "Er muss halt seine Erinnerungen als Konfabulationen erkennen."
Ein geschickter Schachzug, der sich auch poetologisch auswirkt, ist das Umschmieden der Schizophrenie zum Machtinstrument: Sie wird nicht diagnostiziert, sondern installiert. Die Aufspaltung des Klinikpersonals in "Arzt" und "Referent" nämlich ist Programm. Letzterer stellt eine ins Bewusstsein eingepflanzte Instanz des Systems dar, auch "Mediator" genannt beziehungsweise in medizinischer Diktion "Stortex": Von hier gehen die Einflüsterungen aus.
Erzählt wird aus der doppelten Perspektive der Hauptfigur, weshalb sich permanent zwei Erzählstile überlagern: der referentennahe Protokollton des Eigenberichts ("Patient schreit unablässig") und der sich allmählich befreiende persönliche Ton der Apostrophe an die Geliebte. Der Zweifel schlägt schließlich um in Aktion: Es steht die Flucht an, und bei dieser geht es so surreal zu, wie das bei Fluchten aus Parallel-, Unter- oder Oberwelten eben der Fall ist. Mit Hinweisen auf den christlichen Subtext wird nicht gespart: ein letztes, ausfallendes "Abendmahl", die Vorliebe Evelyns für das biblische Idiom, einen "ausgestorbenen hysterischen Dialekt". Doch griffe es zu kurz, "Heimlich, heimlich mich vergiss" als Kritik hermetischer religiöser Denkgebäude aufzufassen: Vielmehr wird hier die eine Universalideologie als Brecheisen verwendet, um die andere, modernere aufzustemmen: Frömmigkeit und Gouvernementalität als untergründig verwandte Denkverweigerungen.
Dieser Roman ist selbst nichts weniger als subversiver Gegendiskurs, der im Herzen unserer Überwachungs- und Wohlfühlgesellschaft ansetzt, dabei sprachlich anspruchsvoll, spannend, kurios, rasant und witzig, kurz: ein Volltreffer! So philosophisch der Roman daherkommt, so wenig verstaubt und akademisch wirkt er. Verzweiflung und Lakonie, realistische Detailfreude und Surrealismus halten sich die Waage. Bis in die kleinsten Nebenhandlungen hinein ist das Buch ein hintergründiger Kommentar zu unserer Selbstentmündigung, deren Folgen und Nebenwirkungen wir wegmassieren lassen oder mit Psychopharmaka unterdrücken. Angelika Meier, die über Derrida und Wittgenstein promoviert hat, genauer: über "die Aporie in Philosophie, Literatur und Lebenspraxis", und in ihrem Debüt "England" (2010) den Wissenschaftsroman samt der Wissenschaft ad absurdum führte, muss spätestens mit diesem zweiten Roman als eine der neuen großen Hoffnungen im deutschen Literaturbetrieb gelten.
OLIVER JUNGEN
Angelika Meier: "Heimlich, heimlich mich vergiss". Roman.
Diaphanes Verlag, Zürich 2012. 331 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Man möchte diesen Roman jedem unter die Nase reiben, in den Mund legen und aufs Auge drücken.« Katrin Schuster, Der Freitag