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Wie kann man ein besserer Vater als der eigene werden?
Michael Lentz erinnert sich in »Heimwärts« an die unheimlichen Jahre der alten Bundesrepublik. Zwischen Apfelkuchen und Zorn, zwischen Matchboxautos und Metaphysik spielt sich in seinem neuen Roman eine westdeutsche Kleinstadt-Kindheit ab. Regelmäßig rutscht dem Vater die Hand aus, oder man begegnet sich wortlos im Haus. Es gibt viel zu essen, und die Mutter sorgt für Ordnung und schlechtes Gewissen. Unterbrochen werden die Erinnerungen von der Stimme eines Kindes, das die alte Bundesrepublik nur noch vom Hörensagen kennt und mit all…mehr

Produktbeschreibung
Wie kann man ein besserer Vater als der eigene werden?

Michael Lentz erinnert sich in »Heimwärts« an die unheimlichen Jahre der alten Bundesrepublik. Zwischen Apfelkuchen und Zorn, zwischen Matchboxautos und Metaphysik spielt sich in seinem neuen Roman eine westdeutsche Kleinstadt-Kindheit ab. Regelmäßig rutscht dem Vater die Hand aus, oder man begegnet sich wortlos im Haus. Es gibt viel zu essen, und die Mutter sorgt für Ordnung und schlechtes Gewissen. Unterbrochen werden die Erinnerungen von der Stimme eines Kindes, das die alte Bundesrepublik nur noch vom Hörensagen kennt und mit all dem alten Kram heute nicht mehr viel anfangen kann.
Seit »Muttersterben« erzählt Michael Lentz virtuos von Herkunft und Familie, von Kindheit, Liebe und Tod. »Heimwärts« geht einen entscheidenden Schritt weiter: Aus dem Sohn ist nun selbst ein Vater geworden. Die vergangene Kindheit ist zwar weiterhin mächtig und präsent. In der Gegenwart aber geht es um die Stimme der nächsten Generation.

Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: der Roman 'Schattenfroh. Ein Requiem' (2018), der Kommentar 'Innehaben. Schattenfroh und die Bilder' (2020), der Gedichtband 'Chora' (2023), der Roman 'Heimwärts' (2024) sowie 'Grönemeyer' (2024), alle bei S. FISCHER. Michael Lentz wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis. Für 'Chora' und sein Gesamtwerk erhielt Michael Lentz den Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024.   Literaturpreise: Literaturförderpreis des Freistaates Bayern 1999 Aufenthaltstipendium Villa Aurora in Santa Monica, Kalifornien/USA 2001 Ingeborg-Bachmann-Preis 2001 Preis der Literaturhäuser 2005 Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012 Bettina-Brentano-Preis für Gegenwartslyrik 2024
Rezensionen
Rezensentin Meike Feßmann gibt zu, dass nicht alles fraglos aufgeht im neuen Roman von Michael Lentz, in dem der Autor seine Kindheit und das Elternhaus nach dem "Matrjoschka-Prinzip" sehr detailreich "als Sehnsuchtsort" auferstehen lässt. Allerdings bietet der Text laut Feßmann genug Momente, da Lentz Bilder glücken, die in ihrer Verbindung aus Geist und Gefühl an Rilke erinnern, etwa wenn Lentz die Perspektive seines Erzählers und die von dessen Kind miteinander verschränkt. Eine spiegelreiche "Identitätskonstruktion" voller poetischer Träume, schwärmt Feßmann.

© Perlentaucher Medien GmbH

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Katharina Teutsch liest den neuen Roman von Michael Lentz in der Tradition literarischer Texte männlicher deutscher Schriftsteller, die sich mit ihrer Familiengeschichte beschäftigen, zuletzt etwa Wolf Haas oder Frank Witzel. Im Zentrum des Romans steht die Auseinandersetzung mit einem dominanten Vater und einer  passiven Mutter. Davon ausgehend begibt sich Lentz Teutsch zufolge in eine familiäre Vergangenheit, die von Projektionen und Unausgesprochenem bestimmt war. Ein zorniges Kind war der Erzähler und darin dem Vater ähnlich. Und auch heute ist der Erzähler noch voller Wut, erkennt die Rezensentin, die bald eine zweite Erzählstimme wahrnimmt: Jene des Kindes des erwachsenen Erzählers. Einmal mehr vermisst Lentz das eigene Leben in all seiner Ambivalenz - und zwar mit "universalpoetischem Eifer", wie Teutsch schließt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2024

Deine Kindheit soll schöner werden
In Michael Lentz’ Roman „Heimwärts“ baut der Erzähler sein Elternhaus neu auf – als Sehnsuchtsort.
Die Kiste auf den Kopf gedreht, schon rauscht und knallt es. Wenn das Kind spielt, ist das deutlich zu hören: eine „Schussfahrt der Dinge“, die aus der Box sausen, in der sie notdürftig verstaut waren. Es spielt sich leichter, wenn die Spielsachen nicht geordnet sind, meint das Kind. So komme es immer wieder zu neuen Kombinationen. Es liegt eine gewisse Heiterkeit, eine Nonchalance und Offenheit in seinem Sprechen, obwohl es durch den Filter des väterlichen Bewusstseins hindurchmuss. Der Erzähler ist ganz anders veranlagt, grüblerischer, pedantischer, immer auf der Hut. Er kontrolliert sich ständig selbst, befragt sich, befragt das Kind, will wissen, wie es sich fühlt, ob alles okay ist, ob es nicht vielleicht doch ein bisschen mehr Ausdauer entwickeln könnte, zum Beispiel mit dem Zauberkasten, statt ständig etwas Neues anzufangen.
„Du mit deiner Ordnung“, sagt das Kind einmal zum Vater. Der kennt den Spruch. Vor Jahrzehnten hat er ihn selbst zu seiner Mutter gesagt. Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, also Angehöriger des geburtenstärksten Jahrgangs der westdeutschen Boomer-Generation, hat seine Kindheit und Jugend schon auf verschiedene Weise literarisch bearbeitet. Zerhackt und zerhäckselt, in einem nach Thomas Bernhard klingenden Suada-Sound, aber auch nüchtern registrierend oder zart wie von Tschechow. Der Prosaband „muttersterben“, für dessen Titelgeschichte der Autor und Musiker 2001 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, enthält die ein oder andere Prosa-Skizze, die sich in verwandelter Form in Lentz’ neuem Buch „Heimwärts“ wiederfindet. Nach „Schattenfroh“, dem monumentalen Roman über den Vater und das väterliche Prinzip in allen denkbaren, auch religionsphilosophischen und machttheoretischen Schattierungen, greift er nun zu einer eher eingängigen Form. Auf den großen Gestus der elegischen Dekonstruktion im Geist des „Requiems“, wie der Untertitel des Monumentalromans lautete, folgt der Wiederaufbau im Zeichen eines rückwärtsgewandten Neubeginns.
„Heimwärts“ ist der Versuch, die eigene Kindheit als bewohnbare Welt zu rekonstruieren, als einen Ort, an den man sich zurückziehen kann, wo man aufgehoben ist, Ruhe und Geborgenheit findet. Der Autor nimmt in gewisser Weise eine Retusche vor oder eine Reparatur im Sinne des japanischen Kintsugi, das in der Reparatur die Wertschätzung der Dinge erhöht. Natürlich wird aus einer von väterlicher Gewalt und mütterlichem Jammer geprägten Kindheit, wie sie der Autor bisher und auch hier immer wieder beschreibt, nicht gleich ein Idyll. Aber er kennt die Tricks, wie man imaginär bewohnbare Welten nach dem Matrjoschka-Prinzip konstruiert. „Heimwärts“ feiert das Elternhaus des Erzählers als Sehnsuchtsort schlechthin.
Die Eltern waren nach dem Auszug der Kinder in ein anderes Haus gezogen, später in eine Wohnung. Nun wird der Wunsch, in dieses erste Haus zurückzukehren, zu einer beinahe übermächtigen Fantasie. Erzählend rekonstruiert er jeden Winkel, die Zimmer, die Treppen, das Fischgrätparkett, den Dachboden, den Keller mit dem Hobbyraum und den Vorratsräumen voller Einweckgläser. Zu Beginn des Romans sitzt sein jugendliches Alter Ego vor einer „Truhe“, die bald als „Kommode“ spezifiziert wird, und es entdeckt Schachtel für Schachtel, Kistchen für Kistchen Dinge, die jemandem in der Familie wichtig waren.
Dass die oft auf Dachböden entdeckte Truhe ein Stereotyp ist, das schon viele Familienromane in Gang gebracht hat, dürfte dem Autor klar sein. Er konstruiert die Behältnisse eher im Sinne von Gaston Bachelards „Poetik des Raumes“, als Gefäße für poetische Träumereien. In der Tat geht es weniger um die Inhalte der Schachteln, Püppchen, Uhren, Figuren, auch wenn sie ausführlich beschrieben werden. Es geht vor allem um die Art, wie sie aufbewahrt wurden: nicht als austauschbare Konsumgegenstände, sondern sorgsam verpackt und beschriftet. „Puppen sind Familienerbstücke“, steht da in der schönen Handschrift der Oma, „Matrosenanzügelchen kann ausgezogen und kalt gewaschen werden“.
Das Kind des Erzählers, der spät Vater geworden ist, hat seine Großeltern väterlicherseits nie kennengelernt. Es ist dieser Bruch zwischen den Generationen, der die Krise auslöst, deren Bewältigung der Ursprung des Romans sein könnte. Auch wenn man Erzähler und Autor nicht in eins setzen will, gibt Michael Lentz eine Vielzahl autobiografischer Winke, bis hin zu einer Puppe, die der jugendliche Erzähler seiner Schwester abspenstig macht, um sie von nun an „Michael“ zu nennen und sich selbst „Peter“.
Der ganze Roman steckt voller Doppelgänger und Doppelbelichtungen, voller Spiegel, die bei der Identitätskonstruktion helfen oder die zerschmettert werden, um Dämonen zu vertreiben. In vielem erkennt man das zeithistorisch Typische: vom Kampf des jungen Mannes gegen die Erziehungsmethoden der im Nationalsozialismus sozialisierten Eltern, über den Konflikt mit dem Vater, der auch zu Hause in der Familie den „Amtsrock“ nicht auszog (der Vater des Schriftstellers war Oberstadtdirektor in Düren), bis hin zum Rauchen als „gemeinsamem Hobby“ der fünfköpfigen Familie. Bereits der Großvater mütterlicherseits, ein Landarzt, war an Lungenkrebs gestorben. Der Krebstod der Mutter und des Bruders, der den schwer kranken Vater bei sich aufgenommen hatte, sind der traurige Hintergrund des Versuchs, sich in eine glücklichere Kindheit hineinzuträumen. Manchmal erscheint es, als wolle der Erzähler mit seinem Kind auf Augenhöhe kommen, um dessen heitere Kindheit angemessen begleiten zu können.
Michael Lentz blendet die Perspektiven seines Alter Egos und des Kindes immer wieder ineinander. Erkennbar ist das nur an minimalen Textsignalen, etwa wenn das erzählende „Ich“ plötzlich nicht von „Vater“ und „Mutter“ spricht, sondern von „Mama“ und „Papa“, wenn Wörter auftauchen wie „Kita“ oder „Übernachtungspartys“. Der Effekt ist tatsächlich frappierend: Denn diese Passagen wirken, als fiele ein helles Licht in den Text. Aber die Überblendung geschieht nicht oft. Die erzählerische Sehnsucht richtet sich auf den Glanz eines „immerwährenden Jetzt“, und doch weiß der Autor, dass die Gegenwart mit Kriegen in der Ukraine, Israel und Gaza nicht einfach wegerzählt werden kann. Bei all den Komposita mit „Heim-“, von „Heimwärts“ über „Heimweh“ bis „Heimlichkeit“, geht es auch um ein Umkreisen dessen, was Bloch als Utopie in die Zukunft verlegt hat: „Heimat“, deren Vorschein, wenn es gut geht, in der Kindheit gefunden werden kann.
In einer Szene besucht der Erzähler mit seinem Kind und dessen Mutter einen alten Bauernhof, in dem die verstorbene Haushälterin der Großeltern lebte. Nur im Gespräch mit ihr, so erinnert er sich, erweckte die stets ihrer Herkunft hinterhertrauernde Mutter den Eindruck, glücklich zu sein. Nun macht er durchs Fenster Fotos von den Innenräumen und berauscht sich an der Beschreibung, das Foto der Küche, in der er als Kind gesessen sei, zeige ein „Bild der inneren Sehnsucht“.
Als er das Foto auf dem Smartphone größer zieht, erkennt er eine „kleine gelbe Blume“ in einer wasserlosen Vase. Eine gelbe Blume warf der Erzähler von „muttersterben“ seiner Mutter ins Grab. Nicht alles geht auf in diesem Roman. Doch dort, wo der Autor seine Intelligenz ins Schweben bringt, glücken ihm Bilder, in denen Intellekt und Gefühl eine Verbindung eingehen, wie sie der Lyriker an Rilke bewundert.
MEIKE FESSMANN
Nicht alles
geht auf
in diesem Roman
„Du mit deiner Ordnung“, sagt das Kind in Michael Lentz’ Roman zum Vater. Das setzt die Erinnerung in Gang.
Foto: Thomas Trutschel / imago/photothek
Michael Lentz:
Heimwärts. Roman.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2024,
304 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024

Irrenhaus und Paradies

Schlagende Hand, schreibende Hand: Im Roman "Heimwärts" erinnert sich Michael Lentz an seine Familie und das Elternhaus.

Von Katharina Teutsch

Mutter, Vater, Schrift: Kurz, aber profund ist das Glossar des Romanciers Michael Lentz. 1964 wurde er im nordrhein-westfälischen Düren geboren als Sohn des dortigen Oberstadtdirektors, dessen Patriarchensterben Lentz vor sechs Jahren unter dem Titel "Schattenfroh" zu einem mehr als tausend Seiten umfassenden Requiem inspiriert hatte. Dem Vatersterben war 2001 das "Muttersterben" vorausgegangen - zum Vaterbuch ein schmaler Gegenentwurf, der Lentz den literarischen Durchbruch brachte.

Nun geht der Neunundfünfzigjährige in Mittelstreckenromanlänge "Heimwärts". So heißt das Familienbuch, in dem Lentz den Abstand zwischen Vater, Mutter und Sohn noch einmal vermisst. Denkt man an die Werke von Kollegen wie Wolf Haas ("Eigentum", 2023), Frank Witzel ("Inniger Schiffbruch", 2021), David Wagner ("Der vergessliche Riese", 2019) oder Arno Geiger ("Der alte König in seinem Exil", 2011), verbindet ihn das mit vielen männlichen Autoren seiner Generation. Auch Lentz unternimmt den Versuch einer sich selbst verortenden Männlichkeit angesichts patriarchalisch einschüchternder Vaterfiguren und enigmatisch einsamer, kontrollierender Mütter. Die lentzsche "verkörperte die von Generation zu Generation weitergereichte psychische Stillstellung von Frauen, deren von den Eltern gegängelter Lebenslauf leerlief und in eine Ehe mündete, die den Stillstand zur repräsentativen Lebensform festschrieb". Das habe sie, so der Erzähler, den Kindern zum Vorwurf gemacht.

Beide elterlichen Temperamente waren zwanghaft und hatten eine "Familienpolitik der Unmündigkeit" ergeben, die Unfreiheit als Grundgefühl auslöste. Zwischen Reihenhäusern, Tante-Emma-Läden, Wäscherei, Amtsgericht und Turnhalle befand sich das Elternhaus als "eine Mischung aus Gefängnis, Irrenanstalt und Paradies". Geblieben sind Erinnerungen an dieses Haus von innen, geblieben sind Gefühle, Projektionen, Heimlichkeiten, die sich wie unsichtbare Leitmotive durch den Text ziehen.

Ein herzkranker Bruder taucht auf im schon bekannten Familienbild und Großeltern, die man teils nur vom Hörensagen kannte. Hinzugekommen ist neben der Stimme des sich erinnernden Ich-Erzählers die Stimme eines Kindes. Dieses Kind sagt nicht "Mutter" oder "Vater", sondern "Papa" und "Mama". Es geht nicht in den "Kindergarten", sondern in die "Kita" und markiert so die Gegenwart. So sind es also zwei Ich-Erzähler, die in "Heimwärts" übereinandergeblendet werden. Redet das Kind des älteren Kindes, so lässt es ein anderes Bild des Vaters entstehen als dieser selbst.

Dieser muss ein zorniges Kind gewesen sein, ein Kind, das den eigenen Insektenzoo in einer wilden Raserei in ein Massengrab verwandeln konnte. Und "Spielzeug war dazu da, zerstört zu werden" - einfach so. Weil es guttat oder interessant war und weil man der Wut vielleicht nicht anders gewachsen war - so wie auch dem Vater die Hand ausrutschte, weil er einer urwüchsigen Wut nicht gewachsen war. Geredet wurde nicht. Wenn das junge Kind seinem Papa komplizierte Fragen über den Tod und das Nichts stellt, erinnert sich das alte Kind, dass solch infames Gefrage in der eigenen Kindheit zur erhobenen Hand des "Impulsprüglers" geführt hätte.

Das cholerische Temperament ist aber ein auf vielfältige Weise vererbliches Ding, und so berichtet auch das Kind des Kindes von einem jähzornigen Papa, der schon mal vor Wut auf das eigene Kind Apfelsaftflaschen auf den Küchenboden schmeißt. Impulse spielen eine große Rolle auch im Leben des alten Kindes. "Meine Mutter war eine liebende Frau", heißt es einmal im Text. "Ich habe sie nie verstanden. Ich verstand nicht, was sie sagte, ich verstand nicht, was sie wollte. Meinen Vater habe ich verstanden."

Sich selbst dabei zu verstehen ist dem Erzähler gerade in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Kind das Allerschwerste. Denn nichts ist zählebiger als ambivalente Gefühle. "Niemand erkennt sich selbst" war die Losung, die Lentz im Vaterroman durch seinen Erzähler "Niemand" ausgegeben hatte. Die Schrift war bei diesem Unterfangen die heimliche Hauptfigur gewesen. Sie kam im Roman in allen erdenklichen Formen vor: als Handschrift, als verblassende Typographie, als Geheimzeichen, als Nichtschrift (in Form von weißen oder schwarzen Seiten), als Schriften, die im Buch übereinander gedruckt und damit unleserlich gemacht waren. Und nicht zu vergessen als Heilige Schrift, die dem erzkatholischen Vater als Urschrift gilt.

Schon hier hatte die Literatur die Oberhand über das Leben gewonnen. Jetzt kommt Lentz auf seinen dritten Fixstern poetischer Reflexion zurück. Des Vaters "schlagende Hand", heißt es in "Heimwärts", ist auch eine mit Begeisterung "schreibende Hand". Und sie schreibt immer zugleich sich selbst: "Neben der Mutterschrift gab es die Vaterschrift. Ging die Mutterschrift leichtfüßig über das Papier, war grazil und schmal in der Führung und neigte nach rechts, so war Vaters Schrift eine Triumphschrift, die breiten Fußes das Feld bestellte und sich doch immer behaupten musste, denn stets schien ihr ein starker Sturm entgegenzublasen, sie kippte nach links, fiel aber nicht um, als lehnte sie sich an die Vergangenheit und wollte das Kommode, das ihr vor die Füße fiel, die jedesmalige Gegenwart, wie ein Hobel spanend abrichten. Ich brauche dich, ich sehe dich nicht, schien die Vaterschrift mit jedem Hobelschritt zu sagen."

Gezähmter als in "Schattenfroh" erzählt Michael Lentz sein Leben als eine Abfolge von Wiederholung und Varianz. "Wo gehen wir denn hin?", heißt es bei Novalis. "Immer nachhause" - natürlich. Das behaupten auch alle lentzschen Texte mit universalpoetischem Eifer.

Michael Lentz: "Heimwärts". Roman.

Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 304 S., geb., 24,- Euro.

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[...] viele überragende Sätze. Berrit Dießelkämper Die Zeit 20240411