Dreißigjährig, nach Jahren erfolgloser Arbeit an seinem ersten Romanprojekt «Ich, der Henker», den Bekenntnissen eines Naziverbrechers, entschließt Imre Kertész sich zu einer «nüchternen Selbstprüfung». Daraus erwächst zwischen 1958 und 1962 sein erstes Tagebuch - 44 eng beschriebene Blätter. Und während er noch mit Musik-Komödien für die Budapester Bühnen seinen Lebensunterhalt verdient, hält er hier minutiös sein Denken, Lesen und Schreiben fest: vom Entschluss, statt der Henker-Bekenntnisse nun die Geschichte seiner Deportation zu schreiben - also «meine eigene Mythologie» -, bis hin zur Fertigstellung der ersten Kapitel. Dazu die unablässige Auseinandersetzung mit Dostojewski, Thomas Mann und Camus, mit deren Hilfe er die für diesen beispiellosen Entwicklungsroman benötigte Technik findet.
«Der Muselmann», so sollte der «Roman eines Schicksallosen» ursprünglich heißen. Zehn weitere Jahre würde Kertész noch zu seiner Vollendung brauchen, um anschließend zu erleben, wie das Buch, das dreißig Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden würde, im sozialistischen Ungarn zunächst abgelehnt wurde.
Vom Zustand des «Muselmanns», jener «zerstörend süßen Selbstaufgabe», die Imre Kertész in Buchenwald kurz vor der Befreiung selbst kennengelernt hatte, erzählen die eindrücklichsten Seiten dieses Arbeitstagebuchs: «Der Mensch kann nie so nahe bei sich selbst und bei Gott sein wie der Muselmann unmittelbar vor dem Tod.»
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
«Der Muselmann», so sollte der «Roman eines Schicksallosen» ursprünglich heißen. Zehn weitere Jahre würde Kertész noch zu seiner Vollendung brauchen, um anschließend zu erleben, wie das Buch, das dreißig Jahre später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet werden würde, im sozialistischen Ungarn zunächst abgelehnt wurde.
Vom Zustand des «Muselmanns», jener «zerstörend süßen Selbstaufgabe», die Imre Kertész in Buchenwald kurz vor der Befreiung selbst kennengelernt hatte, erzählen die eindrücklichsten Seiten dieses Arbeitstagebuchs: «Der Mensch kann nie so nahe bei sich selbst und bei Gott sein wie der Muselmann unmittelbar vor dem Tod.»
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Dass Imre Kertészs "Roman eines Schicksallosen" von 1975 eines der bedeutsamsten Werke über den Holocaust ist, steht für Rezensentin Iris Radisch außer Frage - hochinteressiert verfolgt sie daher die nun veröffentlichten Tagebucheinträge, die die Entstehungszeit dieses Romans zwischen 1958 und 1962 dokumentieren. Vor allem verdeutlichen sie, so Radisch, wie Kertész, der sich zuvor mit "seichten Komödien" über Wasser gehalten habe, jahrelang um den richtigen Tonfall rang, um von seiner Zeit im KZ zu erzählen. Inspiration schenkten ihm schließlich der Ton des "kindlichen Gleichmuts" in Camus' Der Fremde und die "süße Selbstaufgabe", eben das titelgebende "Heimweh nach dem Tod", die die Personen in Thomas Manns Zauberberg auszeichnen, lernt Radisch. Interessant und erschütternd findet die Kritikerin auch das Manifest über den "funktionalen Menschen" am Ende des Bands, in dem sie eine "noch unbekannte Zuspitzung" von Kertész Lesart des modernen Menschen als reines Funktions- und Fiktionsprodukt findet. Von der Bitterkeit, die sich in seinem späten Tagebuch finden, ist hier nichts zu spüren, erkennt die bewundernde Rezensentin, nur "illusionslose Klarheit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Julia Hubernagel erkennt im Arbeitstagebuch der Jahre 1958-1962 von Imre Kertesz, wie genau der Autor seinen großen Lagerroman schon früh konzipierte, wie er ihn mit Wahlverwandten wie Camus und Schopenhauer abglich und überhaupt zur Einsicht gelangte, dass das Schreiben über das Erlebte und Erlittene notwendig sei. Auch über die Zufälligkeit von Opfer- und Täterrolle denkt der Autor hier nach, erklärt Hubernagel, und er klagt über die Lohnschreiberei, die ihn von Wichtigerem abhalte.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2022Das Überleben
schreiben
Eines der eindrücklichsten literarischen Zeugnisse
aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern
war Imre Kertészs „Roman eines Schicksallosen“.
Sein Arbeitstagebuch zeigt, wie es entstand
VON RENATUS DECKERT
Was haben Prousts Madeleine und ein 1960 in Budapest gekauftes Lederarmband gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts, aber um den optischen Eindruck geht es auch nicht. „Und mit einem Mal war die Erinnerung da“, heißt es bei Proust, als im Geschmack einer Madeleine die Kindheitswelt des Erzählers wiederaufersteht. Der Satz passt auch zu der folgenden Beschreibung: „Ich hatte ein neues Band für meine Armbanduhr gekauft, weil das alte zerrissen war. Der Geruch des neuen Bandes dringt mir in die Nase und löst ein heftiges Erinnern aus, ich weiß aber nicht, woran. Schließlich komme ich darauf, dass der chemische Geruch des frisch präparierten Leders den scharfen Geschmack des chlorhaltigen Wassers im Lager von Auschwitz evoziert.“
Die Passage findet sich im jetzt veröffentlichten Tagebuch zur Arbeit am „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész. Es trägt den Titel „Heimweh nach dem Tod“. Mit dieser Formel, so Kertész im Juni 1960, ließen sich die Gefühle zusammenfassen, die ihn dazu bewegten, über Auschwitz zu schreiben.
Eine solche Sehnsucht löst auch die Szene mit dem Armband aus. Immer wieder führt der Tagebuchschreiber das Band an die Nase und fragt sich, warum „diese Zeit fürchterlichen Elends derartig vor mir verschönt und manchmal so sonderbar anziehend erscheint“. Das ist eine Irritation, die sich Jahre später auf den Leser des „Romans eines Schicksallosen“ übertragen wird. Die Überlegung, die hier in Gang kommt, weist schon voraus auf die verstörenden letzten Sätze des Buches, in denen vom „Glück der Konzentrationslager“ die Rede ist: „Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach den Übeln, den ‚Gräueln‘, obgleich für mich gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist.“
Imre Kertész war vierzehn, als er 1944 in Budapest verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Was er bis zu seiner Befreiung im KZ Buchenwald erlebte, wurde zum Stoff eines Romans, der aus der Perspektive eines staunenden jüdischen Jungen von der Welt der Lager erzählt.
Das Ungeheuerliche als selbstverständlich, ja als allgemein menschliche Erfahrung darzustellen, hatte noch keiner gewagt. Dreizehn Jahre arbeitete Kertész an diesem Buch, das bei seinem Erscheinen 1975 nur ein schwaches Echo fand. Um so größer war die Resonanz dann zwanzig Jahre später, als die deutsche Übersetzung von Christina Viragh erschien. Und das war nur die Vorstufe zum weltweiten Ruhm: 2002 erhielt Kertész als erster ungarischer Autor den Nobelpreis für Literatur.
Nimmt man den „Roman eines Schicksallosen“ ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung zur Hand, staunt man über die Frische: Der Erzählton geht sofort ins Ohr, Form und Stil erscheinen wie aus einem Guss. Von der Mühe, die der Autor daran wandte, ist nichts zu spüren.
In seinem autobiografischen Selbstgespräch „Dossier K.“ sagt Kertész 2006, dass er Auschwitz habe neu erfinden müssen, um darüber zu schreiben. Was das bedeutet, begreift man bei der Lektüre seines Arbeitsjournals. Es umfasst die Jahre 1958 bis 1962, die, obwohl im „Galeerentagebuch“ (1992) nur in fünf Sätzen abgehandelt, für den Schriftsteller Imre Kertész entscheidende Jahre waren. Entscheidend, weil in diese Zeit der Entschluss fällt, die Geschichte seiner Deportation zu Papier zu bringen.
Diesem Entschluss ging ein anderer voraus, der in seinen Augen einer „Verräterei“ gleichkam. Um Kopf und Schreibtisch freizubekommen, legte er das Manuskript beiseite, das ihn fünf Jahre lang beschäftigt hatte. „Ich, der Henker“ war der Versuch, sich in einen deutschen Nazitäter hineinzuversetzen und ihn als „funktionalen Menschen“ zu schildern: zu allem bereit, doch bar jeder existenziellen Erfahrung.
Das Scheitern wird kontrastiert durch einen Erfolg von unerwarteter Seite: Imre Kertész reüssiert als Komödienautor. Als er sich im März 1960 entschließt, seine „eigene Mythologie“ zu schreiben, hat er gerade die Arbeit an einem Lustspiel mit dem Titel „Die Liebe klopft an“ beendet. Fünf solcher Theaterstücke bringt er in diesen Jahren fertig „wie brave Mädchen ihre Hausaufgaben“. Eine Lohnschreiberei, die einhergeht mit Gereiztheit und Wutanfällen, allerdings auch mit dem Erstaunen darüber, „dass ich fähig bin, zügig zu arbeiten“.
Schon einer der ersten Einträge im Arbeitsjournal zeigt, wie sehr er sich anderswo nach dieser Fähigkeit sehnt: „Die Krux jedes Künstlers, für die er schmerzlich-schöne Worte sucht, hat nur einen Namen: Langsamkeit.“ Doch die Hoffnung, die er mit dem neuen Projekt verbindet, erfüllt sich nicht. Am liebsten wollte er die Geschichte in zwei Monaten schreiben, zumal sie „plötzlich herangereift ist und an die Oberfläche drängt, keinerlei Aufschub duldend“. Aber daraus wird nichts, obwohl ihm der Stoff „mit plastischer Klarheit“ vor Augen steht.
In der Tat: Liest man die detaillierten Ausführungen, mit denen sich Kertész für seinen Lagerroman wappnet, staunt man, wie weit seine Vorstellungen schon gediehen sind und wie genau er kompositorische Fragen und einzelne Motive in den Blick nimmt. Vieles ist bereits gefunden oder angedacht – selbst die Erzählerstimme, für die ihm „eine Art kindliche Reinheit“ vorschwebt.
Dass noch keine einzige Zeile geschrieben ist, heißt nichts. Wie Lothar Müller in seinem fundierten Nachwort anmerkt, schloss für Kertész die Arbeit am Roman „das fortwährende Verdampfen der Reflexionen und Spekulationen, der Selbstdementis und Selbstzweifel auf den Seiten des Tagebuchs“ ein.
Dazu zählt auch jene Frage, die Kertész in „Dossier K.“ als Grundproblem benennt: Autobiografie oder Roman? So entschieden, wie er sie dort zugunsten der Fiktion beantwortet und auf die souveräne Welt verweist, die im Kopf des Autors geboren wird und den Gesetzen der Literatur gehorcht, so behutsam wägt er sie hier ab: Was er schreibe, sei autobiografisch, „trotzdem darf das Material nicht roh aufeinandergehäuft werden“. Keinen Zweifel lässt er daran, dass er der Fiktion den Vorzug gibt. Gleichwohl beharrt er darauf, dass nur das eigene Erleben „ein Werk zu einem wirklich großen zu machen vermag“.
Sich an das, was gewesen ist, zu erinnern, ist Sache des Zeitzeugen. Doch um Literatur zu sein, bedarf der Rohstoff des Lebens einer Verwandlung. Mag Kertész mit dem „Henker“-Manuskript auch gescheitert sein; das Bewusstsein für Form und Stil, das ihm während der Arbeit daran zugewachsen ist, erweist sich als unentbehrliches Instrumentarium, um aus der Geschichte seiner Deportation einen Roman zu formen, der vom „anziehenden und lebensgefährlichen Zauber des Todeslagers“ erzählt.
Bei einem Unterfangen, das er selbst diabolisch nennt, ist es nur natürlich, dass sich der damals Dreißigjährige nach Gewährsleuten umschaut. Fündig wird er bei Albert Camus und seinem Roman „Der Fremde“, dessen Perspektive und Stil er für seinen eigenen Erzählstoff zu adaptieren versucht. Ein zweiter wichtiger Impuls geht von Thomas Manns „Zauberberg“ aus, in dessen zeit- und weltentrücktem Kosmos er eine Analogie entdeckt zur Wirklichkeit der Lager. Am überraschendsten ist dabei die Synthese, die ihm mit Blick auf den so unterschiedlich akzentuierten Fatalismus von Meursault und Hans Castorp in den Sinn kommt. Es sei, schreibt Kertész, sein heimlicher Wunsch, „Manns todeskundige Lebensbejahung und Camus’ lebenskundige Todesbejahung“ miteinander zu verschmelzen.
So anregende Funde wie dieser lassen sich in dem Tagebuch etliche machen. Zwar gibt es nur Auskunft über die erste Etappe der Arbeit am „Roman eines Schicksallosen“. Doch die Widerstände, mit denen sich sein Autor bereits in dieser Zeit konfrontiert sah, lassen erahnen, wie steinig der Weg noch werden sollte bis zu jenem 9. Mai 1973, an dem er das Buch beendete.
Auf das Lederarmband, das ihm 1960 ein proustsches Erweckungserlebnis bescherte, kam Imre Kertész später zurück. In seinem Roman „Fiasko“ (1988) dient es dem Erzähler als Aufputschmittel, um sich die Bilder von Auschwitz wieder vor Augen zu führen: „Wenn meine Erinnerungen nachließen, träge in meinen Gehirnwindungen kauerten, lockte ich sie damit aus ihren Verstecken.“
Als erster ungarischer Autor
erhielt Kertész 2002 den
Nobelpreis für Literatur
Literatur heißt, den Rohstoff
des Lebens in etwas
Großes zu verwandeln
Imre Kertész:
Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur
Entstehung des „Romans eines Schicksallosen“.
Herausgegeben und aus dem Ungarischen von Ingrid Krüger und Pál Kelemen. Rowohlt, Hamburg 2022. 144 Seiten, 24 Euro.
„Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war“: der ungarische Schriftsteller Imre Kertész.
Foto: Regina Schmeken
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Eines der eindrücklichsten literarischen Zeugnisse
aus den nationalsozialistischen Vernichtungslagern
war Imre Kertészs „Roman eines Schicksallosen“.
Sein Arbeitstagebuch zeigt, wie es entstand
VON RENATUS DECKERT
Was haben Prousts Madeleine und ein 1960 in Budapest gekauftes Lederarmband gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts, aber um den optischen Eindruck geht es auch nicht. „Und mit einem Mal war die Erinnerung da“, heißt es bei Proust, als im Geschmack einer Madeleine die Kindheitswelt des Erzählers wiederaufersteht. Der Satz passt auch zu der folgenden Beschreibung: „Ich hatte ein neues Band für meine Armbanduhr gekauft, weil das alte zerrissen war. Der Geruch des neuen Bandes dringt mir in die Nase und löst ein heftiges Erinnern aus, ich weiß aber nicht, woran. Schließlich komme ich darauf, dass der chemische Geruch des frisch präparierten Leders den scharfen Geschmack des chlorhaltigen Wassers im Lager von Auschwitz evoziert.“
Die Passage findet sich im jetzt veröffentlichten Tagebuch zur Arbeit am „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész. Es trägt den Titel „Heimweh nach dem Tod“. Mit dieser Formel, so Kertész im Juni 1960, ließen sich die Gefühle zusammenfassen, die ihn dazu bewegten, über Auschwitz zu schreiben.
Eine solche Sehnsucht löst auch die Szene mit dem Armband aus. Immer wieder führt der Tagebuchschreiber das Band an die Nase und fragt sich, warum „diese Zeit fürchterlichen Elends derartig vor mir verschönt und manchmal so sonderbar anziehend erscheint“. Das ist eine Irritation, die sich Jahre später auf den Leser des „Romans eines Schicksallosen“ übertragen wird. Die Überlegung, die hier in Gang kommt, weist schon voraus auf die verstörenden letzten Sätze des Buches, in denen vom „Glück der Konzentrationslager“ die Rede ist: „Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach den Übeln, den ‚Gräueln‘, obgleich für mich gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist.“
Imre Kertész war vierzehn, als er 1944 in Budapest verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Was er bis zu seiner Befreiung im KZ Buchenwald erlebte, wurde zum Stoff eines Romans, der aus der Perspektive eines staunenden jüdischen Jungen von der Welt der Lager erzählt.
Das Ungeheuerliche als selbstverständlich, ja als allgemein menschliche Erfahrung darzustellen, hatte noch keiner gewagt. Dreizehn Jahre arbeitete Kertész an diesem Buch, das bei seinem Erscheinen 1975 nur ein schwaches Echo fand. Um so größer war die Resonanz dann zwanzig Jahre später, als die deutsche Übersetzung von Christina Viragh erschien. Und das war nur die Vorstufe zum weltweiten Ruhm: 2002 erhielt Kertész als erster ungarischer Autor den Nobelpreis für Literatur.
Nimmt man den „Roman eines Schicksallosen“ ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung zur Hand, staunt man über die Frische: Der Erzählton geht sofort ins Ohr, Form und Stil erscheinen wie aus einem Guss. Von der Mühe, die der Autor daran wandte, ist nichts zu spüren.
In seinem autobiografischen Selbstgespräch „Dossier K.“ sagt Kertész 2006, dass er Auschwitz habe neu erfinden müssen, um darüber zu schreiben. Was das bedeutet, begreift man bei der Lektüre seines Arbeitsjournals. Es umfasst die Jahre 1958 bis 1962, die, obwohl im „Galeerentagebuch“ (1992) nur in fünf Sätzen abgehandelt, für den Schriftsteller Imre Kertész entscheidende Jahre waren. Entscheidend, weil in diese Zeit der Entschluss fällt, die Geschichte seiner Deportation zu Papier zu bringen.
Diesem Entschluss ging ein anderer voraus, der in seinen Augen einer „Verräterei“ gleichkam. Um Kopf und Schreibtisch freizubekommen, legte er das Manuskript beiseite, das ihn fünf Jahre lang beschäftigt hatte. „Ich, der Henker“ war der Versuch, sich in einen deutschen Nazitäter hineinzuversetzen und ihn als „funktionalen Menschen“ zu schildern: zu allem bereit, doch bar jeder existenziellen Erfahrung.
Das Scheitern wird kontrastiert durch einen Erfolg von unerwarteter Seite: Imre Kertész reüssiert als Komödienautor. Als er sich im März 1960 entschließt, seine „eigene Mythologie“ zu schreiben, hat er gerade die Arbeit an einem Lustspiel mit dem Titel „Die Liebe klopft an“ beendet. Fünf solcher Theaterstücke bringt er in diesen Jahren fertig „wie brave Mädchen ihre Hausaufgaben“. Eine Lohnschreiberei, die einhergeht mit Gereiztheit und Wutanfällen, allerdings auch mit dem Erstaunen darüber, „dass ich fähig bin, zügig zu arbeiten“.
Schon einer der ersten Einträge im Arbeitsjournal zeigt, wie sehr er sich anderswo nach dieser Fähigkeit sehnt: „Die Krux jedes Künstlers, für die er schmerzlich-schöne Worte sucht, hat nur einen Namen: Langsamkeit.“ Doch die Hoffnung, die er mit dem neuen Projekt verbindet, erfüllt sich nicht. Am liebsten wollte er die Geschichte in zwei Monaten schreiben, zumal sie „plötzlich herangereift ist und an die Oberfläche drängt, keinerlei Aufschub duldend“. Aber daraus wird nichts, obwohl ihm der Stoff „mit plastischer Klarheit“ vor Augen steht.
In der Tat: Liest man die detaillierten Ausführungen, mit denen sich Kertész für seinen Lagerroman wappnet, staunt man, wie weit seine Vorstellungen schon gediehen sind und wie genau er kompositorische Fragen und einzelne Motive in den Blick nimmt. Vieles ist bereits gefunden oder angedacht – selbst die Erzählerstimme, für die ihm „eine Art kindliche Reinheit“ vorschwebt.
Dass noch keine einzige Zeile geschrieben ist, heißt nichts. Wie Lothar Müller in seinem fundierten Nachwort anmerkt, schloss für Kertész die Arbeit am Roman „das fortwährende Verdampfen der Reflexionen und Spekulationen, der Selbstdementis und Selbstzweifel auf den Seiten des Tagebuchs“ ein.
Dazu zählt auch jene Frage, die Kertész in „Dossier K.“ als Grundproblem benennt: Autobiografie oder Roman? So entschieden, wie er sie dort zugunsten der Fiktion beantwortet und auf die souveräne Welt verweist, die im Kopf des Autors geboren wird und den Gesetzen der Literatur gehorcht, so behutsam wägt er sie hier ab: Was er schreibe, sei autobiografisch, „trotzdem darf das Material nicht roh aufeinandergehäuft werden“. Keinen Zweifel lässt er daran, dass er der Fiktion den Vorzug gibt. Gleichwohl beharrt er darauf, dass nur das eigene Erleben „ein Werk zu einem wirklich großen zu machen vermag“.
Sich an das, was gewesen ist, zu erinnern, ist Sache des Zeitzeugen. Doch um Literatur zu sein, bedarf der Rohstoff des Lebens einer Verwandlung. Mag Kertész mit dem „Henker“-Manuskript auch gescheitert sein; das Bewusstsein für Form und Stil, das ihm während der Arbeit daran zugewachsen ist, erweist sich als unentbehrliches Instrumentarium, um aus der Geschichte seiner Deportation einen Roman zu formen, der vom „anziehenden und lebensgefährlichen Zauber des Todeslagers“ erzählt.
Bei einem Unterfangen, das er selbst diabolisch nennt, ist es nur natürlich, dass sich der damals Dreißigjährige nach Gewährsleuten umschaut. Fündig wird er bei Albert Camus und seinem Roman „Der Fremde“, dessen Perspektive und Stil er für seinen eigenen Erzählstoff zu adaptieren versucht. Ein zweiter wichtiger Impuls geht von Thomas Manns „Zauberberg“ aus, in dessen zeit- und weltentrücktem Kosmos er eine Analogie entdeckt zur Wirklichkeit der Lager. Am überraschendsten ist dabei die Synthese, die ihm mit Blick auf den so unterschiedlich akzentuierten Fatalismus von Meursault und Hans Castorp in den Sinn kommt. Es sei, schreibt Kertész, sein heimlicher Wunsch, „Manns todeskundige Lebensbejahung und Camus’ lebenskundige Todesbejahung“ miteinander zu verschmelzen.
So anregende Funde wie dieser lassen sich in dem Tagebuch etliche machen. Zwar gibt es nur Auskunft über die erste Etappe der Arbeit am „Roman eines Schicksallosen“. Doch die Widerstände, mit denen sich sein Autor bereits in dieser Zeit konfrontiert sah, lassen erahnen, wie steinig der Weg noch werden sollte bis zu jenem 9. Mai 1973, an dem er das Buch beendete.
Auf das Lederarmband, das ihm 1960 ein proustsches Erweckungserlebnis bescherte, kam Imre Kertész später zurück. In seinem Roman „Fiasko“ (1988) dient es dem Erzähler als Aufputschmittel, um sich die Bilder von Auschwitz wieder vor Augen zu führen: „Wenn meine Erinnerungen nachließen, träge in meinen Gehirnwindungen kauerten, lockte ich sie damit aus ihren Verstecken.“
Als erster ungarischer Autor
erhielt Kertész 2002 den
Nobelpreis für Literatur
Literatur heißt, den Rohstoff
des Lebens in etwas
Großes zu verwandeln
Imre Kertész:
Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch zur
Entstehung des „Romans eines Schicksallosen“.
Herausgegeben und aus dem Ungarischen von Ingrid Krüger und Pál Kelemen. Rowohlt, Hamburg 2022. 144 Seiten, 24 Euro.
„Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war“: der ungarische Schriftsteller Imre Kertész.
Foto: Regina Schmeken
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Die vergilbten Blätter sind ein Dokument, wie es sonst in der Literatur kaum vorkommt. ....Was diese frühen Tagebücher aus der Werkstatt von Kertész so besonders macht, ist die darin verhandelte prekäre Verwicklung von Sprache und Erfahrung. Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20220513