Engel sein ist nicht gerade leicht. Und vor allem gefährlich! Tizian kann ein Lied davon singen. Denn Marvin, sein Schutzbefohlener, jagt mit seinem roten Ford Mustang ins bergige Niemandsland, getrieben von Sehnsucht und der Hoffnung, ein Zuhause zu finden, das er nicht kennt. Heimat, das kann alles sein, eine Frau, ein Traum oder der Tod. Abgründig und abgefahren, witzig und schräg, Tim Staffels Roman ist Thriller, Roadstory, Märchen und Liebesgeschichte zugleich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2000Aufrücken
Tim Staffel hat Heimweh · Von Eberhard Rathgeb
Schnee fällt auf Männer. Sie stehen im Wald. Einer steht in der Mitte, die anderen vier um ihn herum. Einer reißt einen Lappen in Streifen. Ein anderer tränkt die Streifen mit Benzin und wickelt sie dem in der Mitte um den Kopf. Ein Dritter holt ein Feuerzeug hervor und hält die Flamme dran. Der Kopf brennt. Der in der Mitte steht, wird mit verstümmeltem Gesicht überleben. Mit dieser Szene endet Tim Staffels Roman "Heimweh".
Der erste Roman Tim Staffels, "Terrordrom", erschien vor zwei Jahren. Frost überzog damals Berlin, die Röhren der Kanalisation waren aufgeplatzt und Schneemassen türmten sich auf den Bürgersteigen. In dieser hauptstädtischen Eiszeit kämpfte man ums Überleben, kursierten mit einem "V" unterschriebene Drohbriefe. Rasch wechselten in dieser Geschichte die Szenen. Schließlich wurde die Mitte Berlins in ein Terrordrom verwandelt, wo der Krieg ein Spiel in Grenzen war, aber bis zur Vernichtung des anderen ging. "Das Schönste am Krieg ist die Rückkehr. Heimat. Der Ort, an dem noch niemand gewesen ist", heißt es in einem der letzten Manifeste von "V". Zwei aber nahmen Reißaus. Sie kauften sich einen Ford Mustang und fuhren los.
Der neue Roman beginnt mit einem Überfall. Zwei junge Männer rauben eine Bank aus. Sie haben ein Ziel vor Augen: "Heimat. Der Ort, an dem noch niemand gewesen ist." Sie bekommen das Geld, aber sie müssen vor der Polizei fliehen. Sie sitzen in einem Ford Mustang, schauen auf die Straße oder in den Himmel, nehmen Drogen. Tizian und Marvin heißen die beiden, und Cem, dem das Gesicht weggebrannt wird, stößt schließlich zu ihnen.
Auch im neuen Roman Tim Staffels tobt die Gewalt. Männer sind entweder Freunde auf Abruf, die mal das Bett miteinander teilen, oder Feinde, bis der Tod sie scheidet. Mit einem Handkantenschlag treibt man ein Nasenbein ins Gehirn. Mit einem Butterflymesser versucht man, eine Hand abzuschneiden. Einem bricht man das Genick. Andere werden vergewaltigt. Die Gegenwart schrumpft auf Standardsituationen zusammen, auf Verteidigung und Angriff. Dazwischen taucht man ab, raucht, trinkt.
Tim Staffel erzählt die Geschichte von Tizian, Marvin und Cem aus wechselnden Perspektiven. Was passiert? Tizian und Marvin landen mit ihrem Ford Mustang in einem von marodierenden Blauhelmsoldaten unsicher gemachten Grenzgebiet. Dort taucht Cem aus dem Nichts auf. Cem schmuggelt Waffen. Er setzt sich in den Ford Mustung zu Marvin und Tizian und fährt mit den beiden mit. Tizian entschließt sich eines Tages, nach Berlin zurückzugehen. Er vermisst seine Freundin. Doch die Freundin ist weg. Dafür findet er in einer Mülltonne Fotos und Aufzeichnungen eines türkischen Mädchens. Und es ist eine Liebe auf den ersten Blick. Beim zweiten Nachfragen bekommt er heraus, dass sie von ihren Freunden in die Türkei geschickt wurde, weil sie in einen Mord aus Notwehr verstrickt ist. Also packt Tizian seine Sachen. Das Mädchen findet er dort nicht, aber er findet Cem, Marvin und seine Berliner Freundin. Schließlich, nach einem Mord aus Notwehr an einem Waffenschmuggler, trennen sich die vier Helden der Straße, Tizian und seine Freundin fahren zurück nach Berlin, Marvin und sein Schutzengel Cem bleiben, wo sie sind.
Die Geschichte ist im vierten Gang geschrieben und so spannend wie die meisten Geschichten, in denen sich Freund und Feind mit grimmigem Blick und bösen Absichten gegenüberstehen und einer von beiden auf der Strecke zu bleiben droht. Wechselt man Worte statt handgreiflicher Gemeinheiten, dann macht man ebenfalls nicht viele Umstände. Die Helden sind wortkarg und alles in allem hart im Nehmen. Die Wirklichkeit hat es offenbar nicht anders verdient. Eine neue Poesie des Schlagabtauschs, die sich hier meldet, hat die alte Poesie der Seelenverwehungen abgelöst.
Was in "Heimweh" erzählt wird, das könnte auch in bunten Bildern gezeigt werden. Es sieht hier ganz so aus, als läge der Film, wenn es um das spannende Erzählen geht, um Nasenlängen vorn und als gäbe Tim Staffel nun mächtig Gas, um diesen Vorsprung vor dem Roman, der auf der Standspur der Befindlichkeiten ausrollt, aufzuholen. Die Sätze sind fuchtelnde Handkantenschläge und der Sound hämmert harte Rhythmen. Irgendwann ist aber Schluss mit der Ballerei und Balgerei, die Helden liegen am Boden oder sind müde. Doch es wird, ob mit oder ohne Ford Mustang, weitergehen. Die Herzen in der Großstadt sind wild auf wilde Vorabendserien.
Tim Staffels Terrordrom des Erzählens kann Auskunft geben, Auskunft über eine fatale Gefühlslage, die im Berliner Frieden immer wieder zu einem so genannten wirklich harten Jungen schrumpft, der mit seinen Muskeln spielt, dabei "cool" im Kino sitzt und sich dort vom Schrecken in Zelluloid die Zeit vertreiben lässt. Der echte Krieg, der weiterhin große Teile der Welt heimsucht, kommt in dieser flimmernden Vorstellung nicht vor und bleibt doch der wahre Fluchtpunkt des Fürchtens. Der Krieg, so könnte man also schließen, wäre für diese Befindlichkeit, für diese Fantasie "der Ort, an dem noch niemand gewesen ist": Heimat. Ein Niemandsland, in dem es nur noch eindeutige und übersichtliche Verhältnisse gibt, hier die Verbündeten und dort die Feinde, entweder Allianzen oder Kämpfe.
Tim Staffel: "Heimweh". Roman. Verlag Volk & Welt, Berlin 2000. 237 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tim Staffel hat Heimweh · Von Eberhard Rathgeb
Schnee fällt auf Männer. Sie stehen im Wald. Einer steht in der Mitte, die anderen vier um ihn herum. Einer reißt einen Lappen in Streifen. Ein anderer tränkt die Streifen mit Benzin und wickelt sie dem in der Mitte um den Kopf. Ein Dritter holt ein Feuerzeug hervor und hält die Flamme dran. Der Kopf brennt. Der in der Mitte steht, wird mit verstümmeltem Gesicht überleben. Mit dieser Szene endet Tim Staffels Roman "Heimweh".
Der erste Roman Tim Staffels, "Terrordrom", erschien vor zwei Jahren. Frost überzog damals Berlin, die Röhren der Kanalisation waren aufgeplatzt und Schneemassen türmten sich auf den Bürgersteigen. In dieser hauptstädtischen Eiszeit kämpfte man ums Überleben, kursierten mit einem "V" unterschriebene Drohbriefe. Rasch wechselten in dieser Geschichte die Szenen. Schließlich wurde die Mitte Berlins in ein Terrordrom verwandelt, wo der Krieg ein Spiel in Grenzen war, aber bis zur Vernichtung des anderen ging. "Das Schönste am Krieg ist die Rückkehr. Heimat. Der Ort, an dem noch niemand gewesen ist", heißt es in einem der letzten Manifeste von "V". Zwei aber nahmen Reißaus. Sie kauften sich einen Ford Mustang und fuhren los.
Der neue Roman beginnt mit einem Überfall. Zwei junge Männer rauben eine Bank aus. Sie haben ein Ziel vor Augen: "Heimat. Der Ort, an dem noch niemand gewesen ist." Sie bekommen das Geld, aber sie müssen vor der Polizei fliehen. Sie sitzen in einem Ford Mustang, schauen auf die Straße oder in den Himmel, nehmen Drogen. Tizian und Marvin heißen die beiden, und Cem, dem das Gesicht weggebrannt wird, stößt schließlich zu ihnen.
Auch im neuen Roman Tim Staffels tobt die Gewalt. Männer sind entweder Freunde auf Abruf, die mal das Bett miteinander teilen, oder Feinde, bis der Tod sie scheidet. Mit einem Handkantenschlag treibt man ein Nasenbein ins Gehirn. Mit einem Butterflymesser versucht man, eine Hand abzuschneiden. Einem bricht man das Genick. Andere werden vergewaltigt. Die Gegenwart schrumpft auf Standardsituationen zusammen, auf Verteidigung und Angriff. Dazwischen taucht man ab, raucht, trinkt.
Tim Staffel erzählt die Geschichte von Tizian, Marvin und Cem aus wechselnden Perspektiven. Was passiert? Tizian und Marvin landen mit ihrem Ford Mustang in einem von marodierenden Blauhelmsoldaten unsicher gemachten Grenzgebiet. Dort taucht Cem aus dem Nichts auf. Cem schmuggelt Waffen. Er setzt sich in den Ford Mustung zu Marvin und Tizian und fährt mit den beiden mit. Tizian entschließt sich eines Tages, nach Berlin zurückzugehen. Er vermisst seine Freundin. Doch die Freundin ist weg. Dafür findet er in einer Mülltonne Fotos und Aufzeichnungen eines türkischen Mädchens. Und es ist eine Liebe auf den ersten Blick. Beim zweiten Nachfragen bekommt er heraus, dass sie von ihren Freunden in die Türkei geschickt wurde, weil sie in einen Mord aus Notwehr verstrickt ist. Also packt Tizian seine Sachen. Das Mädchen findet er dort nicht, aber er findet Cem, Marvin und seine Berliner Freundin. Schließlich, nach einem Mord aus Notwehr an einem Waffenschmuggler, trennen sich die vier Helden der Straße, Tizian und seine Freundin fahren zurück nach Berlin, Marvin und sein Schutzengel Cem bleiben, wo sie sind.
Die Geschichte ist im vierten Gang geschrieben und so spannend wie die meisten Geschichten, in denen sich Freund und Feind mit grimmigem Blick und bösen Absichten gegenüberstehen und einer von beiden auf der Strecke zu bleiben droht. Wechselt man Worte statt handgreiflicher Gemeinheiten, dann macht man ebenfalls nicht viele Umstände. Die Helden sind wortkarg und alles in allem hart im Nehmen. Die Wirklichkeit hat es offenbar nicht anders verdient. Eine neue Poesie des Schlagabtauschs, die sich hier meldet, hat die alte Poesie der Seelenverwehungen abgelöst.
Was in "Heimweh" erzählt wird, das könnte auch in bunten Bildern gezeigt werden. Es sieht hier ganz so aus, als läge der Film, wenn es um das spannende Erzählen geht, um Nasenlängen vorn und als gäbe Tim Staffel nun mächtig Gas, um diesen Vorsprung vor dem Roman, der auf der Standspur der Befindlichkeiten ausrollt, aufzuholen. Die Sätze sind fuchtelnde Handkantenschläge und der Sound hämmert harte Rhythmen. Irgendwann ist aber Schluss mit der Ballerei und Balgerei, die Helden liegen am Boden oder sind müde. Doch es wird, ob mit oder ohne Ford Mustang, weitergehen. Die Herzen in der Großstadt sind wild auf wilde Vorabendserien.
Tim Staffels Terrordrom des Erzählens kann Auskunft geben, Auskunft über eine fatale Gefühlslage, die im Berliner Frieden immer wieder zu einem so genannten wirklich harten Jungen schrumpft, der mit seinen Muskeln spielt, dabei "cool" im Kino sitzt und sich dort vom Schrecken in Zelluloid die Zeit vertreiben lässt. Der echte Krieg, der weiterhin große Teile der Welt heimsucht, kommt in dieser flimmernden Vorstellung nicht vor und bleibt doch der wahre Fluchtpunkt des Fürchtens. Der Krieg, so könnte man also schließen, wäre für diese Befindlichkeit, für diese Fantasie "der Ort, an dem noch niemand gewesen ist": Heimat. Ein Niemandsland, in dem es nur noch eindeutige und übersichtliche Verhältnisse gibt, hier die Verbündeten und dort die Feinde, entweder Allianzen oder Kämpfe.
Tim Staffel: "Heimweh". Roman. Verlag Volk & Welt, Berlin 2000. 237 S., geb., 32,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
An Rap-Songs erinnert die Rezensentin Elke Schubert die Stakkato-Prosa Tim Staffels, auch an die Blutorgien in Splatterfilmen muss sie denken, aber dennoch - und darum staunt sie so über das Buch - findet sie Staffels Geschichte um Bankräuber, Epilepsie, Flucht und schwule Waffendealer doch "anrührend". In Wirklichkeit gehe es um die altbekannten Themen: "Freundschaft und Liebe".
© Perlentaucher Medien GmbH
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