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An der Person Heinrich Albertz scheiden sich die Geister. War er nun konservativ oder eher linksliberal? Für Jacques Schuster, der hier die Biographie des einstigen Regierenden Bürgermeisters von Berlin vorlegt, ist er nach einem Ausspruch Brandts "ein Mann, der mehrere Leben lebte". Schuster schildert das Leben eines eigenwilligen und wandelbaren Zeitgenossen, dessen Name untrennbar mit dem Tod Benno Ohnesorgs und der Entführung von Peter Lorenz verknüpft ist.

Produktbeschreibung
An der Person Heinrich Albertz scheiden sich die Geister. War er nun konservativ oder eher linksliberal? Für Jacques Schuster, der hier die Biographie des einstigen Regierenden Bürgermeisters von Berlin vorlegt, ist er nach einem Ausspruch Brandts "ein Mann, der mehrere Leben lebte". Schuster schildert das Leben eines eigenwilligen und wandelbaren Zeitgenossen, dessen Name untrennbar mit dem Tod Benno Ohnesorgs und der Entführung von Peter Lorenz verknüpft ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.1997

Politik und Zorn und Liebe
Eine Biographie des Politikers und Pfarrers Heinrich Albertz

Jacques Schuster: Heinrich Albertz. Der Mann, der mehrere Leben lebte. Eine Biographie. Alexander Fest Verlag, Berlin 1997. 360 Seiten, Abbildungen, 49,80 Mark.

Kurz vor seinem Tod sagte der Pastor und Politiker Heinrich Albertz (1915 bis 1993) in einem Gespräch mit einem Journalisten über sich: Was aus ihm spreche, sei Zorn - aus Liebe. Wie sehr eine Mischung dieser Gefühle zur Antriebsfeder werden kann, beweist das Leben des Hofpredigersohns aus Breslau wie kaum ein zweites. Die offensichtliche Vereinbarkeit von Gegensätzen kennzeichnet Albertz, der 1966/67 für 285 Tage das Amt des Berliner Regierenden Bürgermeisters innehatte, in vielfacher Hinsicht. Oder war er nur enorm wandlungsfähig? Wurde etwa aus einem Saulus, der eine harte Gangart gegenüber rebellierenden Studenten befürwortete, ein Paulus, der die Anliegen der "Kinder" inklusive der Terroristen wirklich verstand? Antworten will eine Biographie des Berliner Zeithistorikers Jacques Schuster bringen.

Schuster konzentriert sich auf die Jahre, in denen Albertz in Berlin war, mit typisch ambivalenten Gefühlen Willy Brandt diente und von ihm gefördert wurde. Der Autor versteht es jedoch, die Auswirkungen früher Prägungen Albertz' - durch protestantisches, preußisches, national ausgerichtetes Elternhaus und Erfahrungen als Flüchtlingsminister in Niedersachsen - im späteren Handeln erkennbar werden zu lassen. Albertz sieht sich letztlich nur seinem Gott verpflichtet, macht sich als ordnungsliebender Innensenator und Bürgermeister einen Namen und wirkt bei der Vereinbarung des Passierscheinabkommens mit, das Westberlinern Besuche im Ostteil der Stadt ermöglicht.

Wenn Schuster die Grabenkämpfe des Berliner SPD-Landesverbandes der sechziger Jahre schildert, zeigt sich besonders, wie fruchtbringend eine Einsicht in Nachlässe, Notizen und Parteiarchive sein kann. Schlüssig formuliert er Motive und Maßnahmen von "Pfeifenklub", "Schwäbi-Kreis" und "Keulenriege", kürzeste Bemerkungen und trockenste Texte weiß er in den Zusammenhang einzuordnen. Gerade hier aber erliegt Schuster der Versuchung, zu viele Zettelkästen auszuschütten. Beispielsweise hätten zum Nachweis dafür, daß Albertz es versäumte, sich in der Partei eine Hausmacht zu schaffen - was der Autor gebetsmühlenartig wiederholt -, auch weniger Exempel genügt.

Der 2. Juni 1967, als der Student Benno Ohnesorg durch eine Kugel stirbt, die aus der Waffe des Berliner Polizisten Kurras stammte, wird zum "Schwarzen Freitag" im Leben von Albertz; knapp vier Monate später tritt der Regierende Bürgermeister zurück. Seine anschließende Vermittlung zwischen "Revolutionären" und "Establishment" sind fast vergessen, längst lebt er isoliert als Seelsorger in der Provinz, als er noch einmal ins Rampenlicht tritt: Als 1975 die "Bewegung 2. Juni" Peter Lorenz entführt, geht Albertz als Geisel an Bord eines Flugzeugs, das freigepreßte Inhaftierte in den Jemen bringt. Das Bild, das den Übernächtigten vor dem Abflug winkend in der Tür der Maschine zeigt, ist haftengeblieben. Es zeigt einen Mann, der Mut nicht nur predigte, sondern lebte.

Während Schusters Studie, die leider keine Bibliographie enthält, die äußeren Fakten dieses Weges im ganzen überzeugend, im einzelnen stark dramatisierend nachzeichnet, wird das Ungereimte im Wesen des Porträtierten aufgezählt, aber nicht erklärt. Auch hier rächt sich, daß der Biograph das Familienleben des mehrfachen Vaters ausklammert, obwohl gerade die noch lebende Ilse Albertz großen Einfluß auf ihren Mann hatte. Überhaupt hat Schusters Darstellung dort Schwächen, wo sie sich nicht an konkrete Daten und Zahlen anlehnen kann und mutmaßt.

Zum Beispiel ist zu bezweifeln, ob es, wie der Autor nahelegt, allein Albertz war, der Brandt nach dessen gescheiterter Kanzlerkandidatur wieder aufrichtete. Und ob Albertz' Vorstellungen zur Entspannungspolitik neben Bahrs Rede über den "Wandel durch Annäherung" zur zentralen Basis der Brandtschen Berlin-und Deutschlandpolitik wurden. Entstanden ist in jedem Fall ein gut illustrierter und lesbarer Band über einen Mann, der wohl ein Rätsel bleibt, weil er eines bleiben wollte. Der vielleicht Ernst Moritz Arndt gelesen hatte und mit ihm glaubte: Wer nie im Zorn erglühte, kennt auch die Liebe nicht. THOMAS LEUCHTENMÜLLER

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