Die spannende Biographie eines Mannes, der zu den vielseitigsten und produktivsten Forschern des 19. Jahrhunderts gezählt wird. 1886 gelang ihm die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen. Daß aufgrund seiner Forschungen die drahtlose "Funkentelegraphie" und später der "Rundfunk" entstanden, hat Heinrich Hertz nicht mehr erlebt - er starb bereits im Alter von 36 Jahren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1997Der famose Funkenfänger
Heinrich Hertz entzündete die Fackel der modernen Physik / Von Helmut Mayer
Der Münchner Physikprofessor Philipp von Jolly zählte zwar nicht zu den Großen seines Fachs, brachte es aber immerhin zu einer Form anekdotischen Nachruhms. Er war es nämlich, der dem jungen Max Planck 1875 vom Studium der Physik mit der Begründung abriet, alles Wesentliche sei schon entdeckt worden. Weniger bekannt ist, daß zwei Jahre später wiederum ein junger Mann sich an Jolly wandte, um Ratschläge für den Wechsel zum Studium der Physik zu erhalten. Der zwanzigjährige Student des Bauingenieurwesens hieß Heinrich Hertz und sollte innerhalb der nächsten Jahre, bis zu seinem frühen Tod 1894, zu einem der bedeutendsten Physiker des ausgehenden Jahrhunderts werden: Ihm gelang der experimentelle Nachweis elektromagnetischer Wellen, wodurch er nicht nur die Identität von Licht und Elektromagnetismus zeigte, sondern auch die Grundlagen für die unser Jahrhundert prägende Funktechnik legte.
Von dem Besuch beim Münchner Ordinarius wissen wir durch die Briefe an die Eltern in Hamburg, von denen eine Auswahl gemeinsam mit Auszügen aus dem Tagebuch von Hertz 1927 erschien. Auf diese Quelle, neben den veröffentlichten Schriften und einigen Briefwechseln mit Physikerkollegen, stützten sich bisher die Darstellungen von Hertz' privater und wissenschaftlicher Biographie. Albrecht Fölsings Spürsinn ist es zu verdanken, daß nun sehr viel mehr Quellen zugänglich geworden sind. Er entdeckte nicht nur im Hamburger Staatsarchiv den gesamten erhaltenen Briefwechsel mit den Eltern, sondern stieß im Nachlaß einer der Töchter von Hertz auch auf bisher unbekannte Briefe, Tagebücher, Entwürfe für Veröffentlichungen, Vorlesungsausarbeitungen und nicht zuletzt Experimentierprotokolle. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Fund, wie man ihn sich glücklicher kaum vorstellen kann; zumal Fölsing ihn für seine Biographie aufs beste zu nützen weiß.
Den in München gefaßten Entschluß, sich der Naturwissenschaft zu widmen, hat Hertz in einem langen Brief an die Eltern verteidigt. Der Vater, der es nach glänzender Juristenkarriere bis zum Justizsenator seiner Heimatstadt Hamburg brachte, zögerte keinen Moment mit seiner Zustimmung: Heinrich Hertz konnte darangehen, sich in den neuesten Forschungsstand der Physik einzuarbeiten. Daß ihm das innerhalb kürzester Zeit gelang, ist nicht zuletzt dem schnellen Wechsel an die Berliner Universität zu verdanken. Dort lehrten neben einer Reihe von hervorragenden Mathematikern die Physiker Gustav Kirchhoff und der in diesen Jahren schon weithin berühmte Hermann von Helmholtz. In dessen modernem Laboratorium geht Hertz gleich an die experimentelle Bearbeitung einer von Helmholtz formulierten Preisfrage der Philosophischen Fakultät. Sie führt ihn direkt auf das Gebiet der Auseinandersetzungen um die richtige Theorie elektrodynamischer Prozesse.
Der Zustand der Elektrodynamik war damals recht unübersichtlich. Auf der einen Seite stand Maxwells Nahwirkungstheorie elektromagnetischer Felder, zusammengefaßt in vier Grundgleichungen. Damit konkurrierten, zumindest in Deutschland, zwei wiederum sehr unterschiedlich aufgebaute Fernwirkungstheorien, die im Gegensatz zur endlichen Lichtgeschwindigkeit bei Maxwell auf eine unendliche Ausbreitungsgeschwindigkeit elektromagnetischer Wirkungen hinausliefen und zumindest bei annähernd stationären Strömen brauchbare und übereinstimmende Ergebnisse lieferten. Helmholtz selbst hatte eine mathematisch ausgeklügelte Rahmentheorie entworfen, aus der alle drei Theorien herausgefiltert werden konnten. Sie sollte es ermöglichen, die richtige Theorie auf experimentellem Wege zu bestimmen. Dieses von Helmholtz anvisierte Experimentum crucis ist freilich nie zustande gekommen. Auch Hertz' Behandlung der Preisaufgabe konnte nur den theoretischen Spielraum einer der Fernwirkungstheorien eingrenzen. Doch schon bei dieser Arbeit zeigte sich sein immenses Geschick als Experimentator. Helmholtz war beeindruckt, und nicht lange nach der glänzend bestandenen Promotionsprüfung wurde Hertz einer seiner drei Assistenten.
Daß Hertz aus seinen folgenden Versuchen, die "Glimmentladungen" in Kathodenröhren zu verstehen, im wesentlichen falsche Schlüsse zog, ist im Rückblick kaum zu verwundern: Eine befriedigende Erklärung gelang erst fünfzehn Jahre später, nach Hertz' Tod, als man bereits die Elektronentheorie zur Hand hatte. So wie auch im Fall des vier Jahre später von Hertz beobachteten "rätselhaften" photoelektrischen Effekts, der seine Rätselhaftigkeit eigentlich erst mit Einsteins Lichtquantenhypothese (1905) verlor.
Die Funken, die Hertz auf den richtigen Weg brachten, sprangen 1886 in seinem Laboratorium in Karlsruhe, wohin er nach einer Zwischenstation in Kiel berufen worden war: Sie sprangen zuerst an den Anschlüssen von Spulen, und sie sprangen immer noch, als Hertz variable Funkenstrecken in Leiterschleifen einbaute, die er in unterschiedlichen Konfigurationen, Winkeln und Entfernungen zu einem Stromkreis anbrachte, der durch die Entladungen einer Batterie zum Schwingen gebracht wurde.
Dank der Experimentierprotokolle, die Fölsing auswertet, kann man Hertz bei dieser schrittweisen Annäherung an den Nachweis elektromagnetischer Wellen und deren endlicher Ausbreitungsgeschwindigkeit gleichsam über die Schulter schauen. Am Ende der langen Versuchsreihen steht die definitive Identität von Licht und elektromagnetischen Wellen; und wie immer man sich das hypothetisch angesetzte Medium dieser Wellen, den Äther, auch vorstellen sollte: Die Nahwirkungstheorie hatte sich durchgesetzt. Der problematische Äther beschäftigte die Physiker noch einige Jahre, bis ihn Einsteins Spezielle Relativitätstheorie (1905) aus dem Verkehr zog. Hertz ging dieses Problem nicht experimentell an, sondern behandelte es implizit in seinen wichtigen theoretischen Arbeiten zur Maxwellschen Theorie. Die Pointe lag in einer axiomatisch-deduktiven Methode, die sich ja auch in der phänomenologischen Thermodynamik bewährte: Statt die Gleichungen aus halsbrecherischen Vermutungen über die Eigenschaften des Äthers abzuleiten, drehte er den Spieß um und versuchte, aus den axiomatisch gesetzten Gleichungen Aufschlüsse über die notwendigen Eigenschaften des Äthers zu erhalten. Eine mechanische Begründung der Gleichungen entfiel. Hertz' bündige Formulierung dieses Ansatzes: "Der Inhalt der Maxwellschen Theorie sind die Maxwellschen Gleichungen."
Die Reaktionen unter prominenten Kollegen waren bezeichnend für die damals geführten Auseinandersetzungen über den richtigen Aufbau der Physik, insbesondere der Leitdisziplin Mechanik. Während Planck voll der Anerkennung war und Ernst Mach Hertz dazu gratulierte, einer "von Mythologie freien Physik" den Weg zu bahnen, fehlte Boltzmann in solcher "mathematischen Phänomenologie" die einzig triftige, nämlich mechanische Erklärung der Phänomene. In diesen Auseinandersetzungen hat Hertz mit einem Werk Stellung bezogen, an dem er in seinen letzten Lebensjahren - mittlerweile als Ordinarius in Bonn - arbeitete: "Die Prinzipien der Mechanik, in neuem Zusammenhange dargestellt". Das von Hertz noch fertiggestellte, aber erst postum erschienene Buch gab eine strikt axiomatische Darstellung der Mechanik, die mit nur drei Grundgrößen operierte: Raum, Zeit und Masse. Eliminiert wurde damit der vierte Grundbegriff der Newtonschen Mechanik, die Kraft, die mit der Nahwirkungstheorie nicht unter einen Hut zu bringen war. Das mathematische Hilfsmittel dazu stellte die Riemannsche Differentialgeometrie dar; und hätte Einstein die Lektüre von Hertz' "Mechanik" nicht zu früh abgebrochen, so hätte er dort schon den differentialgeometrisch gefaßten Begriff der "geradesten" Bahn gefunden, nach dem er für seine Theorie ohne Kräfte, die Allgemeine Relativitätstheorie, später lange suchen mußte.
Daß Hertz auch schon die Proportionalität von träger und schwerer Masse als Problem herauspräpariert hatte, welche die Allgemeine Relativitätstheorie dann zum Äquivalenzprinzip erhob, konnte Einstein freilich nicht wissen, denn Hertz hatte dieses Problem nur in einem unveröffentlicht gebliebenen Vorlesungsmanuskript behandelt. Dieser von Fölsing wiederentdeckte Text mit dem Titel "Moderne Anschauungen über die Konstitution der Materie", der demnächst ediert werden soll, enthält auch bereits wesentliche Elemente von Hertz' Theorie physikalischer Modelle, wie sie die Einleitung zur "Mechanik" ausarbeitet. Grundlegend für sie ist der Begriff des Bildes: "Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände." Verschiedene solcher Bilder, also physikalische Theorien, sind möglich. Die Theorie, welche die geringste Zahl "überflüssiger oder leerer Beziehungen enthält", ist den anderen vorzuziehen.
Diese Modelltheorie hat ihre Spuren in der Philosophie hinterlassen, etwa beim frühen Wittgenstein, der Hertz mit Boltzmann in die Reihe jener stellte, die ihn beeinflußten. Innerhalb der Entwicklung der Physik konnte Hertz' "Mechanik" allerdings kaum eine Rolle spielen, denn nur wenige Jahre nach ihrem Erscheinen sorgten Quanten- und Relativitätstheorie für vollkommen neuartige Ausgangsbedingungen. Hertz hatte mit seinen Arbeiten wesentliche Voraussetzungen für diese Umwälzungen der Physik geschaffen, doch er erlebte sie nicht mehr. Seine letzten eineinhalb Lebensjahre sind gekennzeichnet vom Leiden an einer schmerzhaften Infektion von Nebenhöhlen und Kiefer, die schließlich zur Blutvergiftung führte, an der er am Neujahrstag 1894 mit nur sechsunddreißig Jahren starb.
Das ist der traurige Schlußpunkt von Fölsings Buch, das souveräne Sachkenntnis mit literarischem Takt verbindet. So gibt diese Biographie nicht nur ein Stück erhellender Wissenschaftsgeschichte, sondern auch ein einprägsames Lebensbild.
Albrecht Fölsing: "Heinrich Hertz". Eine Biographie. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997. 608 S., geb., Abb., 58,- DM.
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Heinrich Hertz entzündete die Fackel der modernen Physik / Von Helmut Mayer
Der Münchner Physikprofessor Philipp von Jolly zählte zwar nicht zu den Großen seines Fachs, brachte es aber immerhin zu einer Form anekdotischen Nachruhms. Er war es nämlich, der dem jungen Max Planck 1875 vom Studium der Physik mit der Begründung abriet, alles Wesentliche sei schon entdeckt worden. Weniger bekannt ist, daß zwei Jahre später wiederum ein junger Mann sich an Jolly wandte, um Ratschläge für den Wechsel zum Studium der Physik zu erhalten. Der zwanzigjährige Student des Bauingenieurwesens hieß Heinrich Hertz und sollte innerhalb der nächsten Jahre, bis zu seinem frühen Tod 1894, zu einem der bedeutendsten Physiker des ausgehenden Jahrhunderts werden: Ihm gelang der experimentelle Nachweis elektromagnetischer Wellen, wodurch er nicht nur die Identität von Licht und Elektromagnetismus zeigte, sondern auch die Grundlagen für die unser Jahrhundert prägende Funktechnik legte.
Von dem Besuch beim Münchner Ordinarius wissen wir durch die Briefe an die Eltern in Hamburg, von denen eine Auswahl gemeinsam mit Auszügen aus dem Tagebuch von Hertz 1927 erschien. Auf diese Quelle, neben den veröffentlichten Schriften und einigen Briefwechseln mit Physikerkollegen, stützten sich bisher die Darstellungen von Hertz' privater und wissenschaftlicher Biographie. Albrecht Fölsings Spürsinn ist es zu verdanken, daß nun sehr viel mehr Quellen zugänglich geworden sind. Er entdeckte nicht nur im Hamburger Staatsarchiv den gesamten erhaltenen Briefwechsel mit den Eltern, sondern stieß im Nachlaß einer der Töchter von Hertz auch auf bisher unbekannte Briefe, Tagebücher, Entwürfe für Veröffentlichungen, Vorlesungsausarbeitungen und nicht zuletzt Experimentierprotokolle. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Fund, wie man ihn sich glücklicher kaum vorstellen kann; zumal Fölsing ihn für seine Biographie aufs beste zu nützen weiß.
Den in München gefaßten Entschluß, sich der Naturwissenschaft zu widmen, hat Hertz in einem langen Brief an die Eltern verteidigt. Der Vater, der es nach glänzender Juristenkarriere bis zum Justizsenator seiner Heimatstadt Hamburg brachte, zögerte keinen Moment mit seiner Zustimmung: Heinrich Hertz konnte darangehen, sich in den neuesten Forschungsstand der Physik einzuarbeiten. Daß ihm das innerhalb kürzester Zeit gelang, ist nicht zuletzt dem schnellen Wechsel an die Berliner Universität zu verdanken. Dort lehrten neben einer Reihe von hervorragenden Mathematikern die Physiker Gustav Kirchhoff und der in diesen Jahren schon weithin berühmte Hermann von Helmholtz. In dessen modernem Laboratorium geht Hertz gleich an die experimentelle Bearbeitung einer von Helmholtz formulierten Preisfrage der Philosophischen Fakultät. Sie führt ihn direkt auf das Gebiet der Auseinandersetzungen um die richtige Theorie elektrodynamischer Prozesse.
Der Zustand der Elektrodynamik war damals recht unübersichtlich. Auf der einen Seite stand Maxwells Nahwirkungstheorie elektromagnetischer Felder, zusammengefaßt in vier Grundgleichungen. Damit konkurrierten, zumindest in Deutschland, zwei wiederum sehr unterschiedlich aufgebaute Fernwirkungstheorien, die im Gegensatz zur endlichen Lichtgeschwindigkeit bei Maxwell auf eine unendliche Ausbreitungsgeschwindigkeit elektromagnetischer Wirkungen hinausliefen und zumindest bei annähernd stationären Strömen brauchbare und übereinstimmende Ergebnisse lieferten. Helmholtz selbst hatte eine mathematisch ausgeklügelte Rahmentheorie entworfen, aus der alle drei Theorien herausgefiltert werden konnten. Sie sollte es ermöglichen, die richtige Theorie auf experimentellem Wege zu bestimmen. Dieses von Helmholtz anvisierte Experimentum crucis ist freilich nie zustande gekommen. Auch Hertz' Behandlung der Preisaufgabe konnte nur den theoretischen Spielraum einer der Fernwirkungstheorien eingrenzen. Doch schon bei dieser Arbeit zeigte sich sein immenses Geschick als Experimentator. Helmholtz war beeindruckt, und nicht lange nach der glänzend bestandenen Promotionsprüfung wurde Hertz einer seiner drei Assistenten.
Daß Hertz aus seinen folgenden Versuchen, die "Glimmentladungen" in Kathodenröhren zu verstehen, im wesentlichen falsche Schlüsse zog, ist im Rückblick kaum zu verwundern: Eine befriedigende Erklärung gelang erst fünfzehn Jahre später, nach Hertz' Tod, als man bereits die Elektronentheorie zur Hand hatte. So wie auch im Fall des vier Jahre später von Hertz beobachteten "rätselhaften" photoelektrischen Effekts, der seine Rätselhaftigkeit eigentlich erst mit Einsteins Lichtquantenhypothese (1905) verlor.
Die Funken, die Hertz auf den richtigen Weg brachten, sprangen 1886 in seinem Laboratorium in Karlsruhe, wohin er nach einer Zwischenstation in Kiel berufen worden war: Sie sprangen zuerst an den Anschlüssen von Spulen, und sie sprangen immer noch, als Hertz variable Funkenstrecken in Leiterschleifen einbaute, die er in unterschiedlichen Konfigurationen, Winkeln und Entfernungen zu einem Stromkreis anbrachte, der durch die Entladungen einer Batterie zum Schwingen gebracht wurde.
Dank der Experimentierprotokolle, die Fölsing auswertet, kann man Hertz bei dieser schrittweisen Annäherung an den Nachweis elektromagnetischer Wellen und deren endlicher Ausbreitungsgeschwindigkeit gleichsam über die Schulter schauen. Am Ende der langen Versuchsreihen steht die definitive Identität von Licht und elektromagnetischen Wellen; und wie immer man sich das hypothetisch angesetzte Medium dieser Wellen, den Äther, auch vorstellen sollte: Die Nahwirkungstheorie hatte sich durchgesetzt. Der problematische Äther beschäftigte die Physiker noch einige Jahre, bis ihn Einsteins Spezielle Relativitätstheorie (1905) aus dem Verkehr zog. Hertz ging dieses Problem nicht experimentell an, sondern behandelte es implizit in seinen wichtigen theoretischen Arbeiten zur Maxwellschen Theorie. Die Pointe lag in einer axiomatisch-deduktiven Methode, die sich ja auch in der phänomenologischen Thermodynamik bewährte: Statt die Gleichungen aus halsbrecherischen Vermutungen über die Eigenschaften des Äthers abzuleiten, drehte er den Spieß um und versuchte, aus den axiomatisch gesetzten Gleichungen Aufschlüsse über die notwendigen Eigenschaften des Äthers zu erhalten. Eine mechanische Begründung der Gleichungen entfiel. Hertz' bündige Formulierung dieses Ansatzes: "Der Inhalt der Maxwellschen Theorie sind die Maxwellschen Gleichungen."
Die Reaktionen unter prominenten Kollegen waren bezeichnend für die damals geführten Auseinandersetzungen über den richtigen Aufbau der Physik, insbesondere der Leitdisziplin Mechanik. Während Planck voll der Anerkennung war und Ernst Mach Hertz dazu gratulierte, einer "von Mythologie freien Physik" den Weg zu bahnen, fehlte Boltzmann in solcher "mathematischen Phänomenologie" die einzig triftige, nämlich mechanische Erklärung der Phänomene. In diesen Auseinandersetzungen hat Hertz mit einem Werk Stellung bezogen, an dem er in seinen letzten Lebensjahren - mittlerweile als Ordinarius in Bonn - arbeitete: "Die Prinzipien der Mechanik, in neuem Zusammenhange dargestellt". Das von Hertz noch fertiggestellte, aber erst postum erschienene Buch gab eine strikt axiomatische Darstellung der Mechanik, die mit nur drei Grundgrößen operierte: Raum, Zeit und Masse. Eliminiert wurde damit der vierte Grundbegriff der Newtonschen Mechanik, die Kraft, die mit der Nahwirkungstheorie nicht unter einen Hut zu bringen war. Das mathematische Hilfsmittel dazu stellte die Riemannsche Differentialgeometrie dar; und hätte Einstein die Lektüre von Hertz' "Mechanik" nicht zu früh abgebrochen, so hätte er dort schon den differentialgeometrisch gefaßten Begriff der "geradesten" Bahn gefunden, nach dem er für seine Theorie ohne Kräfte, die Allgemeine Relativitätstheorie, später lange suchen mußte.
Daß Hertz auch schon die Proportionalität von träger und schwerer Masse als Problem herauspräpariert hatte, welche die Allgemeine Relativitätstheorie dann zum Äquivalenzprinzip erhob, konnte Einstein freilich nicht wissen, denn Hertz hatte dieses Problem nur in einem unveröffentlicht gebliebenen Vorlesungsmanuskript behandelt. Dieser von Fölsing wiederentdeckte Text mit dem Titel "Moderne Anschauungen über die Konstitution der Materie", der demnächst ediert werden soll, enthält auch bereits wesentliche Elemente von Hertz' Theorie physikalischer Modelle, wie sie die Einleitung zur "Mechanik" ausarbeitet. Grundlegend für sie ist der Begriff des Bildes: "Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände." Verschiedene solcher Bilder, also physikalische Theorien, sind möglich. Die Theorie, welche die geringste Zahl "überflüssiger oder leerer Beziehungen enthält", ist den anderen vorzuziehen.
Diese Modelltheorie hat ihre Spuren in der Philosophie hinterlassen, etwa beim frühen Wittgenstein, der Hertz mit Boltzmann in die Reihe jener stellte, die ihn beeinflußten. Innerhalb der Entwicklung der Physik konnte Hertz' "Mechanik" allerdings kaum eine Rolle spielen, denn nur wenige Jahre nach ihrem Erscheinen sorgten Quanten- und Relativitätstheorie für vollkommen neuartige Ausgangsbedingungen. Hertz hatte mit seinen Arbeiten wesentliche Voraussetzungen für diese Umwälzungen der Physik geschaffen, doch er erlebte sie nicht mehr. Seine letzten eineinhalb Lebensjahre sind gekennzeichnet vom Leiden an einer schmerzhaften Infektion von Nebenhöhlen und Kiefer, die schließlich zur Blutvergiftung führte, an der er am Neujahrstag 1894 mit nur sechsunddreißig Jahren starb.
Das ist der traurige Schlußpunkt von Fölsings Buch, das souveräne Sachkenntnis mit literarischem Takt verbindet. So gibt diese Biographie nicht nur ein Stück erhellender Wissenschaftsgeschichte, sondern auch ein einprägsames Lebensbild.
Albrecht Fölsing: "Heinrich Hertz". Eine Biographie. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1997. 608 S., geb., Abb., 58,- DM.
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