Der Schriftsteller Heinrich von Kleist hinterließ nach seinem Selbstmord im Jahr 1811 ein rätselhaftes Werk: In seinen Dramen und Erzählungen geht es um Hass und Mord, Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld - und immer wieder um Sein und Schein. Dabei hadern die Figuren in Kleists Erzählwelten mit dieser Unterscheidung ebenso sehr wie der Leser. Kaum ein anderer Autor hat mithin derart viele divergente Interpretationen angeregt. Darüber versäumte die Forschung lange, nach dem eigentlichen Grund für die Offenheit seiner Texte zu suchen. Viele Interpreten taten auffällige Widersprüche und Inkohärenzen schlicht als Fehler oder Schwäche Kleists ab. Eva Fricke spürt gezielt die Störungen, Abweichungen und Paradoxien auf und sucht darin eine poetologische Strategie Kleists. Seine Erzählkunst, etwas zu bezeichnen und es im gleichen Moment wieder zurückzunehmen, seine Sprachbehandlung und seine ambivalente Figurengestaltung sollten nicht übergangen werden, sondern machen im Gegenteil einen großen Teil seiner Ästhetik aus. Exemplarisch deutlich wird das anhand der Erzählungen "Die Verlobung in St. Domingo", "Das Erdbeben in Chili" und "Die Marquise von O...". Nichts darin ist eindeutig gestaltet und bleibt unwidersprochen.