Julián Ayestas einziges längeres Prosawerk aus dem Jahr 1952, gehört laut El Pais zu den "10 wichtigsten Büchern spanischer Prosa im 20. Jahrhundert". Das Buch erzählt eine Initiationsgeschichte, in der Sommer und Meer zu Symbolen des jugendlichen Aufbruchs und der Grenzenlosigkeit erster Liebe werden.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2005Wenn die Fische leuchten
Julián Ayestas Roman „Helena oder das Meer des Sommers”
Ein Bild aus dem Kaminzimmer: Die Fensterläden sind angelehnt, nur einige Sonnenstrahlen dringen ein, durchwachsen von leuchtenden Punkten, die auf und ab flirren. In Julián Ayestas Roman geht von den Dingen ein merkwürdiger Glanz aus. Hier entdeckt man auf beinahe jeder Seite Lichtflecken, schimmernde Gläser oder das Aufblinken kleiner Fische im Meer. Die Bilder wirken bisweilen, als würden sie gegen das Licht gehalten, durchscheinend und doch in natürlicher Bewegung, nur etwas langsamer, als geschähe alles unter Wasser. Dann wieder zerstäuben sie zu einer Unzahl von Reflexen, bis schließlich einer von ihnen das Auge trifft.
Auf den ersten Blick scheint dieser kleine Roman wie eines jener vielen Erinnerungsbücher, die von einer untergegangenen Welt und dem fernen Glanz der ersten großen Liebe erzählen. Der spanische Autor Julián Ayesta hat seinen Ich-Erzähler mit einer großen Neigung zu sinnlichen Details ausgestattet. Gleich zu Beginn faltet er einen Sommernachmittag im Garten vor dem Leser auf. Die Szene spielt an der Nordküste Spaniens, der Bürgerkrieg ist nicht mehr weit. Man sieht gut gelaunte Menschen und hört ein wenig von ihren Gesprächen, die warme Luft fährt durch die Zweige, trocknet das feuchte Gras. Über all dem liegt der Geruch von Kaffee und kleinen Törtchen, während sich im Hintergrund einige Wespen an einem Kirschdessert zu schaffen machen.
Doch die Idylle erweist sich schnell als bloßer Schein. Motivisch geschickt zeigt Ayesta die Risslinien der Erinnerung auf. Der Glanz der roten Kirschen ist von Anfang an mit dem leuchtenden Blut verknüpft, das gegen Ende des Abschnitts auf dem Hals eines Priesters zu sehen ist. Auch in den folgenden Kapiteln sind die kurzen Szenen des Glücks immer schon auf Momente der Trauer und des Zusammenbruchs bezogen. Und ein ums andere Mal huscht das Sonnenlicht über die Dinge, zeigt schimmernde Fenster oder Blättchen, die aufleuchten und verlöschen. Es sind kleine Epiphanien, Träume von Erfüllung und momenthafter Ganzheit, die indes brüchig bleiben. Die Welt erscheint als Summe zahlloser Reflexe, und niemand kennt das Muster, das aus all den Zufällen Sinn ableitet.
Gewiss hat Julián Ayesta in diesem Roman ein wenig die Stimmung seiner Epoche eingefangen, der Zeit kurz vor dem Regime Francos. Die Welt der Institutionen kannte er aus eigener Anschauung: 1919 in Gijón geboren, studierte Ayesta Jura, Philosophie und Literatur, um bald schon in den diplomatischen Dienst einzutreten. Als Autor verfasste er bis zu seinem Tod im Jahr 1996 vor allem Theaterstücke und einige Erzählungen. „Helena oder das Meer des Sommers”, erschienen 1952, sollte sein einziger Roman bleiben. Doch es wäre zu wenig, dieses Buch allein aus seinem historischen Kontext heraus zu erklären, wie es der Publizist Antonio Pau im Nachwort zur deutschen Ausgabe versucht. Ayesta hat etwas ganz und gar Überzeitliches geschaffen, einen Roman, der an die Kraft der Erinnerung glaubt und zugleich um das Fragwürdige aller Gedächtnisidyllen weiß.
Kleine Krabbeltiere im Kopf
Wenn man den Notizen des Autors glauben darf, hat er zehn Jahre an dem Buch gearbeitet. Sicher ist jedenfalls, dass er den Text aus einigen zunächst unabhängigen Erzählungen zusammengefügt hat. Dem Roman hat das nicht geschadet. Vielmehr erhalten seine drei Großkapitel nun fransige Ränder, die sich auf wundersame Weise in das Spiel der Reflexe einfügen. Der erste Teil führt den Leser von der Kaffeeszene im Garten an den Strand, wo die Kinder tauchen und die Frauen in die Beine zwicken. Nur nebenbei ist einmal von einem „älteren Mädchen” die Rede, das nach Parfum riecht und sehr große Augen hat.
Die erotischen Phantasien des Erzählers, die sich an der angebeteten Helena entzünden, unterzieht Ayesta im zweiten Teil einer gründlichen Reflexion. Allerdings spielt er den Konflikt zwischen Begierde und Vernunft, Sünde und Reinheit so lange durch, bis die Teufelchen durch die Ritzen der Gedanken kriechen: „Und es fühlte sich an, als hätte man beim Denken den Kopf voller kleiner Krabbeltiere, wie Schrotkugeln, die sich sehr schnell drehten, immer schneller, bis sie im Kopf so etwas wie rauchende Rinnen hinterließen.” Der philosophische Exkurs mündet in die sinnliche Aura des Romananfangs, in den Geruch von Hustenbonbons, Seife und Mottenkugeln. In genauer Entsprechung dieser Bewegung kehrt Ayesta im letzten Teil über die nachmittägliche Kaffeetafel zurück an den sommerlichen Strand. Geadelt durch die Reflexion scheint hier das Licht fast golden - doch es ist immer noch dem Spiel des Zufalls überlassen.
All das wird keineswegs blumig erzählt. Ayesta hat für den Roman eine Art bewusster Kinderperspektive gewählt. Doch unterfüttert er seine reihenden Sätze und das schelmisch ausgespielte „Wir” mit einer zart gesträhnten Ironie. So gelingt es ihm, das Staunen über die Dinge fühlbar zu machen, ohne den Abstand der Erinnerung zu verleugnen. Am Ende geht die Erzählung gar für Momente ins Mythische über, und es fehlt nicht der Blick auf römische Ruinen, erfüllt von einem „zittrigen blaugrünen Licht”.
NICO BLEUTGE
JULIÁN AYESTA: Helena oder das Meer des Sommers. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag C.H. Beck, München 2004. 112 Seiten, 12,90 Euro.
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Julián Ayestas Roman „Helena oder das Meer des Sommers”
Ein Bild aus dem Kaminzimmer: Die Fensterläden sind angelehnt, nur einige Sonnenstrahlen dringen ein, durchwachsen von leuchtenden Punkten, die auf und ab flirren. In Julián Ayestas Roman geht von den Dingen ein merkwürdiger Glanz aus. Hier entdeckt man auf beinahe jeder Seite Lichtflecken, schimmernde Gläser oder das Aufblinken kleiner Fische im Meer. Die Bilder wirken bisweilen, als würden sie gegen das Licht gehalten, durchscheinend und doch in natürlicher Bewegung, nur etwas langsamer, als geschähe alles unter Wasser. Dann wieder zerstäuben sie zu einer Unzahl von Reflexen, bis schließlich einer von ihnen das Auge trifft.
Auf den ersten Blick scheint dieser kleine Roman wie eines jener vielen Erinnerungsbücher, die von einer untergegangenen Welt und dem fernen Glanz der ersten großen Liebe erzählen. Der spanische Autor Julián Ayesta hat seinen Ich-Erzähler mit einer großen Neigung zu sinnlichen Details ausgestattet. Gleich zu Beginn faltet er einen Sommernachmittag im Garten vor dem Leser auf. Die Szene spielt an der Nordküste Spaniens, der Bürgerkrieg ist nicht mehr weit. Man sieht gut gelaunte Menschen und hört ein wenig von ihren Gesprächen, die warme Luft fährt durch die Zweige, trocknet das feuchte Gras. Über all dem liegt der Geruch von Kaffee und kleinen Törtchen, während sich im Hintergrund einige Wespen an einem Kirschdessert zu schaffen machen.
Doch die Idylle erweist sich schnell als bloßer Schein. Motivisch geschickt zeigt Ayesta die Risslinien der Erinnerung auf. Der Glanz der roten Kirschen ist von Anfang an mit dem leuchtenden Blut verknüpft, das gegen Ende des Abschnitts auf dem Hals eines Priesters zu sehen ist. Auch in den folgenden Kapiteln sind die kurzen Szenen des Glücks immer schon auf Momente der Trauer und des Zusammenbruchs bezogen. Und ein ums andere Mal huscht das Sonnenlicht über die Dinge, zeigt schimmernde Fenster oder Blättchen, die aufleuchten und verlöschen. Es sind kleine Epiphanien, Träume von Erfüllung und momenthafter Ganzheit, die indes brüchig bleiben. Die Welt erscheint als Summe zahlloser Reflexe, und niemand kennt das Muster, das aus all den Zufällen Sinn ableitet.
Gewiss hat Julián Ayesta in diesem Roman ein wenig die Stimmung seiner Epoche eingefangen, der Zeit kurz vor dem Regime Francos. Die Welt der Institutionen kannte er aus eigener Anschauung: 1919 in Gijón geboren, studierte Ayesta Jura, Philosophie und Literatur, um bald schon in den diplomatischen Dienst einzutreten. Als Autor verfasste er bis zu seinem Tod im Jahr 1996 vor allem Theaterstücke und einige Erzählungen. „Helena oder das Meer des Sommers”, erschienen 1952, sollte sein einziger Roman bleiben. Doch es wäre zu wenig, dieses Buch allein aus seinem historischen Kontext heraus zu erklären, wie es der Publizist Antonio Pau im Nachwort zur deutschen Ausgabe versucht. Ayesta hat etwas ganz und gar Überzeitliches geschaffen, einen Roman, der an die Kraft der Erinnerung glaubt und zugleich um das Fragwürdige aller Gedächtnisidyllen weiß.
Kleine Krabbeltiere im Kopf
Wenn man den Notizen des Autors glauben darf, hat er zehn Jahre an dem Buch gearbeitet. Sicher ist jedenfalls, dass er den Text aus einigen zunächst unabhängigen Erzählungen zusammengefügt hat. Dem Roman hat das nicht geschadet. Vielmehr erhalten seine drei Großkapitel nun fransige Ränder, die sich auf wundersame Weise in das Spiel der Reflexe einfügen. Der erste Teil führt den Leser von der Kaffeeszene im Garten an den Strand, wo die Kinder tauchen und die Frauen in die Beine zwicken. Nur nebenbei ist einmal von einem „älteren Mädchen” die Rede, das nach Parfum riecht und sehr große Augen hat.
Die erotischen Phantasien des Erzählers, die sich an der angebeteten Helena entzünden, unterzieht Ayesta im zweiten Teil einer gründlichen Reflexion. Allerdings spielt er den Konflikt zwischen Begierde und Vernunft, Sünde und Reinheit so lange durch, bis die Teufelchen durch die Ritzen der Gedanken kriechen: „Und es fühlte sich an, als hätte man beim Denken den Kopf voller kleiner Krabbeltiere, wie Schrotkugeln, die sich sehr schnell drehten, immer schneller, bis sie im Kopf so etwas wie rauchende Rinnen hinterließen.” Der philosophische Exkurs mündet in die sinnliche Aura des Romananfangs, in den Geruch von Hustenbonbons, Seife und Mottenkugeln. In genauer Entsprechung dieser Bewegung kehrt Ayesta im letzten Teil über die nachmittägliche Kaffeetafel zurück an den sommerlichen Strand. Geadelt durch die Reflexion scheint hier das Licht fast golden - doch es ist immer noch dem Spiel des Zufalls überlassen.
All das wird keineswegs blumig erzählt. Ayesta hat für den Roman eine Art bewusster Kinderperspektive gewählt. Doch unterfüttert er seine reihenden Sätze und das schelmisch ausgespielte „Wir” mit einer zart gesträhnten Ironie. So gelingt es ihm, das Staunen über die Dinge fühlbar zu machen, ohne den Abstand der Erinnerung zu verleugnen. Am Ende geht die Erzählung gar für Momente ins Mythische über, und es fehlt nicht der Blick auf römische Ruinen, erfüllt von einem „zittrigen blaugrünen Licht”.
NICO BLEUTGE
JULIÁN AYESTA: Helena oder das Meer des Sommers. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Verlag C.H. Beck, München 2004. 112 Seiten, 12,90 Euro.
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