Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000Eine Kümmerin
Werner Hecht weiß alles über die große Theaterfrau Helene Weigel, aber an die Person dahinter kommt er nicht heran
Wer könnte besser Auskunft geben über Helene Weigel als ihr Adlatus seit 1959 – Dramaturg am Berliner Ensemble, Herausgeber der Theaterschriften Brechts und Verfasser der Brecht-Chronik, unentbehrlicher Berater und Freund bis zu Weigels Tod 1971. Werner Hecht, der allzeit bereite Gesprächspartner, Vermittler in Konflikten mit Kollegen, aber auf Distanz zu den SED-Kulturfunktionären.
Helene Weigel wurde vor 100 Jahren, am 12. Mai 1900, in Wien geboren als Kind einer, jener massenhaft aus dem Osten zugewanderten, jüdischen Familien. In der schon legendären Schule von Dr. Genia Schwarzwald lernte sie Allgemeinwissen und Toleranz und begegnete der Kunst leibhaftig. Kokoschka und Adolf Loos unterrichteten dort, Karl Kraus hielt Vorträge, und Karin Michaelis, die dänische Schriftstellerin, war mit Genia Schwarzwald (und dann auch mit Brechts) lebenslang befreundet. Sie hat 1919 in der Vossischen Zeitung einen Artikel mit dem Titel „Die Geburt des Genies” veröffentlicht und damit den Ursprungsmythos von Helene Weigels Schauspielkunst überliefert. Die Geschichte von der unansehnlichen und verschüchterten Schülerin mit dem unglaublich dicken Schädel, in den sie sich das Begehren, Schauspielerin zu werden, unausrottbar eingepflanzt hatte, die Geschichte von den vergeblichen Bemühungen aller Wohlmeinenden, sie von der Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen, von dem denkwürdigen Vorsprechen, das man ihr dann in Gottes Namen gewährte: „Sie sah vor sich hin. Wir versanken für sie in den Erdboden. Die große Stirn zitterte nervös, wie Milch, die Haut zieht. Die Pupillen wuchsen, schossen lange kalte Strahlen. Die Lippen spannten sie wie ein Bogen, bereit, vergiftete Pfeile zu entsenden. Der hängende Körper reckte sich, bekam Haltung, bekam Majestät. Eine Stimme – eine in Tönen aufgelöste Seele – begann schwach, beinahe flüsternd: ,Dein Schwert ist von Blut so rot‘ . . . Eine solche Stimme macht wilde Tiere fromm und friedlich wie Lämmer, bringt erfrorene Pflanzen wieder zum Blühen, macht Steine erbeben. ”
Mit den Worten „Unterricht brauchen Sie nicht zu nehmen!” entließ sie der Theaterdirektor in eine ganz große Theaterkarriere. Karin Michaelis hat den Tenor unzähliger Rezensionen vorweggenommen: Das tödliche Entsetzen, der heillose Schmerz im Piano ihrer Stimme wurde zum Signum ihrer Meisterschaft für fünfzig Jahre Theaterspiel – unterbrochen allerdings von 15 Jahren im Exil in Skandinavien, dann in den USA, als man für eine deutsche Schauspielerin kaum Verwendung hatte.
Nach einem stark beachteten Start 1919 wurde es mit ihrer Bindung an Brecht und sein politisches Theater (und die Geburten und Betreuung der gemeinsamen Kinder Stefan und Barbara) zunächst wieder stiller um sie. Umso steiler stieg ihr Stern nach der Rückkehr aus dem Exil mit der Gründung des Berliner Ensembles 1949. Sie ist „künstlerische Mitarbeiterin, wichtigste Schauspielerin, Organisatorin, Personalchefin und Repräsentantin” bis zu ihrem Tod, und durch zahlreiche Gastspiele gehört sie zu den prominentesten deutschen Schauspielern im Ausland. Nach Brechts Tod verwaltet sie energisch sein Vermächtnis auf der Bühne, im Archiv und mit den großen Editionsprojekten seiner Werke.
Werner Hecht, der schon die beiden Festschriften – Ost und West – zu Helene Weigels 70. Geburtstag herausgegeben und vieles über sie publiziert hat, umkreist die große Frau in fünf Runden, als ihr Gesprächspartner, ihr erinnernder Beobachter, als Theaterwissenschaftler, Archivar und Chronist. Er hat seine Erinnerungen notiert, Anekdoten und Streiflichter seit seinem ersten Theaterbesuch in Berlin 1949, und bewegt noch heute von ihrem letzten, schon den Schmerzen abgetrotzten denkwürdigen Auftritt in Paris, einen Monat vor dem Tod. Besonders sympathisch sind die Erinnerungen an „die Kümmerin”, an eine Helene Weigel, die sich unermüdlich kümmert um Kollegen, um Versorgungsengpässe, um die Qualität der Theaterschminke oder des Fassadenanstrichs.
Die Bandbreite von Helene Weigels Theaterarbeit und ihrer vielstimmigen Rezeption zeigt das chronologische Rollenverzeichnis sämtlicher ermittelten Aufführungen, an denen sie beteiligt war mit den Besetzungen und wichtigsten Besprechungen. Die „Kurze Chronik des Lebens” (35 Seiten) verzeichnet neben privaten Daten die von Premieren und Gastspielen und die verschwenderisch verteilten Ehrungen der DDR. Alles also, was man wissen will über die Theaterfrau Helene Weigel, mit Kennerschaft zusammengetragen.
Eine Biografie (falls man sich solche versprochen hatte), hat Hecht nicht geschrieben. Wo immer er seine Gesprächspartnerin auf Privates bringen will, folgen die raffiniertesten oder gröbsten Ablenkungsmanöver. Die Beziehung der beiden verbietet dem Autor jeden Voyeurismus, aber offensichtlich auch postume Fragen nach der Person hinter der Theaterfrau.
Wir erfahren alles bis in die subtilsten Feinheiten über Helene Weigels Mütter, die Pelagea Wlassowa, die Mutter Courage, die Frau Carrar, über die Mutter Helene Weigel erfahren wir nur Ausweichendes. Was hielt – trotz böser Krisen – Brecht bei ihr und sie bei ihm, was hatte es mit ihrem Judentum auf sich, von dem sie sich 1928 offiziell losgesagt hatte, gab es Freundschaften in diesem Leben jenseits des Theaters, wie stand es mit ihrer politischen, ideologischen – und gewiss nicht immer unangefochtenen – Haltung? Vielleicht geben andere Arbeiten über Helene Weigel hier Antworten – sie sind zum 100. Geburtstag bereits angekündigt.
HILTRUD HÄNTZSCHEL
WERNER HECHT: Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts. Vorwort von Siegfried Unseld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 343 S. , 58 Mark.
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Werner Hecht weiß alles über die große Theaterfrau Helene Weigel, aber an die Person dahinter kommt er nicht heran
Wer könnte besser Auskunft geben über Helene Weigel als ihr Adlatus seit 1959 – Dramaturg am Berliner Ensemble, Herausgeber der Theaterschriften Brechts und Verfasser der Brecht-Chronik, unentbehrlicher Berater und Freund bis zu Weigels Tod 1971. Werner Hecht, der allzeit bereite Gesprächspartner, Vermittler in Konflikten mit Kollegen, aber auf Distanz zu den SED-Kulturfunktionären.
Helene Weigel wurde vor 100 Jahren, am 12. Mai 1900, in Wien geboren als Kind einer, jener massenhaft aus dem Osten zugewanderten, jüdischen Familien. In der schon legendären Schule von Dr. Genia Schwarzwald lernte sie Allgemeinwissen und Toleranz und begegnete der Kunst leibhaftig. Kokoschka und Adolf Loos unterrichteten dort, Karl Kraus hielt Vorträge, und Karin Michaelis, die dänische Schriftstellerin, war mit Genia Schwarzwald (und dann auch mit Brechts) lebenslang befreundet. Sie hat 1919 in der Vossischen Zeitung einen Artikel mit dem Titel „Die Geburt des Genies” veröffentlicht und damit den Ursprungsmythos von Helene Weigels Schauspielkunst überliefert. Die Geschichte von der unansehnlichen und verschüchterten Schülerin mit dem unglaublich dicken Schädel, in den sie sich das Begehren, Schauspielerin zu werden, unausrottbar eingepflanzt hatte, die Geschichte von den vergeblichen Bemühungen aller Wohlmeinenden, sie von der Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen, von dem denkwürdigen Vorsprechen, das man ihr dann in Gottes Namen gewährte: „Sie sah vor sich hin. Wir versanken für sie in den Erdboden. Die große Stirn zitterte nervös, wie Milch, die Haut zieht. Die Pupillen wuchsen, schossen lange kalte Strahlen. Die Lippen spannten sie wie ein Bogen, bereit, vergiftete Pfeile zu entsenden. Der hängende Körper reckte sich, bekam Haltung, bekam Majestät. Eine Stimme – eine in Tönen aufgelöste Seele – begann schwach, beinahe flüsternd: ,Dein Schwert ist von Blut so rot‘ . . . Eine solche Stimme macht wilde Tiere fromm und friedlich wie Lämmer, bringt erfrorene Pflanzen wieder zum Blühen, macht Steine erbeben. ”
Mit den Worten „Unterricht brauchen Sie nicht zu nehmen!” entließ sie der Theaterdirektor in eine ganz große Theaterkarriere. Karin Michaelis hat den Tenor unzähliger Rezensionen vorweggenommen: Das tödliche Entsetzen, der heillose Schmerz im Piano ihrer Stimme wurde zum Signum ihrer Meisterschaft für fünfzig Jahre Theaterspiel – unterbrochen allerdings von 15 Jahren im Exil in Skandinavien, dann in den USA, als man für eine deutsche Schauspielerin kaum Verwendung hatte.
Nach einem stark beachteten Start 1919 wurde es mit ihrer Bindung an Brecht und sein politisches Theater (und die Geburten und Betreuung der gemeinsamen Kinder Stefan und Barbara) zunächst wieder stiller um sie. Umso steiler stieg ihr Stern nach der Rückkehr aus dem Exil mit der Gründung des Berliner Ensembles 1949. Sie ist „künstlerische Mitarbeiterin, wichtigste Schauspielerin, Organisatorin, Personalchefin und Repräsentantin” bis zu ihrem Tod, und durch zahlreiche Gastspiele gehört sie zu den prominentesten deutschen Schauspielern im Ausland. Nach Brechts Tod verwaltet sie energisch sein Vermächtnis auf der Bühne, im Archiv und mit den großen Editionsprojekten seiner Werke.
Werner Hecht, der schon die beiden Festschriften – Ost und West – zu Helene Weigels 70. Geburtstag herausgegeben und vieles über sie publiziert hat, umkreist die große Frau in fünf Runden, als ihr Gesprächspartner, ihr erinnernder Beobachter, als Theaterwissenschaftler, Archivar und Chronist. Er hat seine Erinnerungen notiert, Anekdoten und Streiflichter seit seinem ersten Theaterbesuch in Berlin 1949, und bewegt noch heute von ihrem letzten, schon den Schmerzen abgetrotzten denkwürdigen Auftritt in Paris, einen Monat vor dem Tod. Besonders sympathisch sind die Erinnerungen an „die Kümmerin”, an eine Helene Weigel, die sich unermüdlich kümmert um Kollegen, um Versorgungsengpässe, um die Qualität der Theaterschminke oder des Fassadenanstrichs.
Die Bandbreite von Helene Weigels Theaterarbeit und ihrer vielstimmigen Rezeption zeigt das chronologische Rollenverzeichnis sämtlicher ermittelten Aufführungen, an denen sie beteiligt war mit den Besetzungen und wichtigsten Besprechungen. Die „Kurze Chronik des Lebens” (35 Seiten) verzeichnet neben privaten Daten die von Premieren und Gastspielen und die verschwenderisch verteilten Ehrungen der DDR. Alles also, was man wissen will über die Theaterfrau Helene Weigel, mit Kennerschaft zusammengetragen.
Eine Biografie (falls man sich solche versprochen hatte), hat Hecht nicht geschrieben. Wo immer er seine Gesprächspartnerin auf Privates bringen will, folgen die raffiniertesten oder gröbsten Ablenkungsmanöver. Die Beziehung der beiden verbietet dem Autor jeden Voyeurismus, aber offensichtlich auch postume Fragen nach der Person hinter der Theaterfrau.
Wir erfahren alles bis in die subtilsten Feinheiten über Helene Weigels Mütter, die Pelagea Wlassowa, die Mutter Courage, die Frau Carrar, über die Mutter Helene Weigel erfahren wir nur Ausweichendes. Was hielt – trotz böser Krisen – Brecht bei ihr und sie bei ihm, was hatte es mit ihrem Judentum auf sich, von dem sie sich 1928 offiziell losgesagt hatte, gab es Freundschaften in diesem Leben jenseits des Theaters, wie stand es mit ihrer politischen, ideologischen – und gewiss nicht immer unangefochtenen – Haltung? Vielleicht geben andere Arbeiten über Helene Weigel hier Antworten – sie sind zum 100. Geburtstag bereits angekündigt.
HILTRUD HÄNTZSCHEL
WERNER HECHT: Helene Weigel. Eine große Frau des 20. Jahrhunderts. Vorwort von Siegfried Unseld. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000. 343 S. , 58 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Rezensentin Hiltrud Häntzschel warnt: Über Helene Weigels Mutter Courage sei hier eine Menge zu erfahren, aber wer Auskunft über Mutter Weigel sucht - also über die private Biographie der berühmten Schauspielerin - der sei hier fehl am Platz. Häntzschel bemerkt, dass Hecht als langjähriger Mitarbeiter Weigels wohl nicht zu dem Voyeurismus fähig sei, den eine richtige Biographie erfordere. Dennoch scheint man in dem Band eine Menge über Weigel lernen zu können. Hecht umkreise Weigel als Gesprächspartner und Archivar - ihre Schauspielerinnenkarriere scheint zum Beispiel mit einer ausführlichen Chronologie nachgezeichnet zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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