Im Herbst 2015 wurde in Deutschland die Willkommenskultur geboren. Eine Kultur des Helfens, die schnell, pragmatisch und effektiv von tausenden Menschen gelebt wurde, um jenen ein erstes Überleben zu sichern, die zu Hunderttausenden vor Krieg und Hunger flohen. Infrastrukturen des Helfens entstanden binnen kürzester Zeit aus der Mitte der Bürgergesellschaft und ließen staatliche Hilfssysteme starr und schwerfällig erscheinen. Tillmann Bendikowski hat das zum Anlass genommen, diesem erstaunlichen Phänomen in Geschichte und Gegenwart nachzuspüren. Anhand von Gesprächen mit Menschen, die unterschiedliche Erfahrungen mit dem Helfen gemacht haben, und mit Blick auf jene, die zu Ikonen der Barmherzigkeit geworden sind, zeigt er, wie Hilfsbereitschaft Menschen und Gesellschaften verändert und dass diese ein Gradmesser für die Menschlichkeit einer Gemeinschaft sein kann. Bendikowski forscht aber auch nach psychologischen Aspekten des Helfenwollens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2017Vertrauen auf das Ehrenamt
Tillmann Bendikowski über die Kultur des Helfens
Tillmann Bendikowskis weitgespannte Überlegungen zu den Motiven des Helfens sind klar politisch motiviert. Der unmittelbare Anlass ist die weltweit bewunderte Welle an Hilfsbereitschaft, die Deutschland am Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise erfasste. Die alsbald einsetzende Diskreditierung dieser tatkräftigen Empathie als realitätsfremdes Gutmenschentum und Kompensation eines historisch bedingten Minderwertigkeitskomplexes schmälert für den Autor das "humanitäre Sommermärchen" aus dem Jahre 2015 keineswegs, "denn die Kultur des Helfens ist auch ein Gradmesser für den Zustand der Menschlichkeit in einem Land".
Der Autor, ein Schüler des Historikers Hans Mommsen, will die Hintergründe und Grenzen dieser Hilfskultur unter die Lupe nehmen, eine "Geschichte des Helfens" schreiben. Historisch zeigt sich, wie nicht anders zu erwarten, eine zunehmende Institutionalisierung der in Europa bis zum achtzehnten Jahrhundert christlich inspirierten Almosen-Wohltätigkeit gegenüber Armen und Kranken. Diese Entwicklung führt über Bismarcks Sozialgesetze und die Gründung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas in den Sozialstaat mit Rentenkasse, Kranken- und Arbeitslosenversicherung.
Dazwischen liegt die Pervertierung der Wohlfahrtsidee in der nationalsozialistischen Ära, das beschönigend "Euthanasie" genannte Ermorden von Hilfsbedürftigen. Bendikowski formuliert grenzwertig: "Die Ärzte wurden ,im Kollektiv zu Hitlers Helfern', ohne welche die Verfolgung Andersdenkender und ,Andersrassiger' nicht möglich gewesen wäre - und damit auch nicht der Genozid an den europäischen Juden."
Interessant ist, dass das Narrativ der altruistischen Ikonen des Helfens alle Umbrüche unbeschadet überstanden hat: Wie man heute im gesellschaftlichen Diskurs auf einen Freund der Armen wie Rupert Neudeck Bezug nimmt, unterscheidet sich kaum von traditionellen Berufungen auf christliche Heilige wie Martin von Tours, Franz von Assisi oder Elisabeth von Thüringen (Angela Merkel hat das Mutter Teresa-Gewand früh genug abgelegt).
Bendikowski plädiert dafür, sich von solchen Samariter-Vorbildern nicht moralisch paralysieren zu lassen, sondern in Anerkennung der durchaus auch selbstbezüglichen Natur des Menschen - der Autor verwendet Marisa Przyrembels Begriff des "empathischen Egoisten" -, barmherzig zu sein, so gut es eben geht. Wichtiger ist ihm aber der Blick auf den Sozialstaat, der sich spätestens seit der Agenda 2010 auf dem Rückzug befinde. Die Politik scheine darauf zu hoffen, dass ehrenamtliches Engagement die Fürsorgelücke fülle. Als Beispiel dienen Bendikowski die zahlreichen "Tafeln", eine Wiederkehr der Armenspeisung auf Almosenbasis. Das lässt sich, auch wenn der Befund nicht neu ist, in der Tat als Fanal interpretieren.
Als Kulturgeschichte des Helfens überzeugt das Buch indes nur mäßig. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sein Gegenstand terminologisch schwer zu fassen ist. In Bendikowskis Maximaldefinition fällt quasi jede nichtaggressive asymmetrische Beziehung unter die Kategorie "Helfen". Folglich ufert das Buch inhaltlich aus, thematisiert Armut im Mittelalter ebenso wie die Geschichte der Krankenversicherung, Burn-out-Probleme von angehenden Ärzten, verordnete Solidarität in der DDR, philosophische Debatten über den Egoismus oder aktuelle publizistische Schlachten. Für mehr als eine Kompilation von Grundwissen und gut bekannten Positionen ist da kein Platz. Verwirrend kommt hinzu, dass die freiwillige Hilfe zwischen Individuen eher psychologische und philosophische, die staatlich garantierte Wohlfahrt eher strukturelle und soziologische Fragen aufwirft. Der Autor springt zwischen diesen Zugängen hin und her.
Wissenschaftliche Tiefe strebt Bendikowski auch gar nicht an. Das zeigt sich schon daran, dass beinahe alles, was er zur wichtigen Phase der tätigen Nächstenhilfe im christlichen Mittelalter zu sagen hat, aus dem Begleitkatalog der Paderborner Caritas-Ausstellung (2015) stammt. Auch sonst sind die Quellen häufig Aufsätze und Artikel, kaum je die Standardwerke zu den gut erforschten Themenkomplexen. So muss man das Buch wohl als engagierten Debattenbeitrag verstehen, der mit historischen Schlenkern und einigen Helfershelfer-Interviews den sympathischen Aufruf zu mehr Wertschätzung für die gesellschaftliche Solidarität untermauern möchte: "Deutschland verfügt über eine stabile Kultur des Helfens, aber diese muss gepflegt werden: mit vielen guten individuellen Taten, mit einer Sozialpolitik, die sich nicht weiter aus der staatlichen Aufgabe, Hilfe für existenzielle Lebensrisiken zu gewähren, zurückzieht, und mit steter Anerkennung für die Helfer."
Daran zu erinnern, dass Helfen sich nicht dadurch schon disqualifiziert, dass es auch dem Helfenden etwas einbringt - Selbstachtung und soziales Prestige -, ist in Zeiten, in denen bereits ein freundliches Gesicht unter Verdacht geraten ist, ein verdienstvolles Unterfangen. Leider nur drückt sich die Darstellung um die entscheidende Frage, ob sich die traditionell für Einzelgesellschaften geltenden Hilfsstrukturen überhaupt mit einer weltweiten Perspektive vertragen. Läuft die vielbeschworene Bekämpfung von Fluchtursachen, wenn man es ernst meint, nicht auf die politische Forderung nach einer Reduzierung des krassen sozialen Ungleichgewichts zwischen den Ländern und Kontinenten hinaus? Das lässt sich gut begründen, würde aber hierzulande den Verzicht auf einen guten Teil des eigenen Wohlstands bedeuten. Bei der Frage, wer uns in einer globalisierten Welt der Nächste ist - und wer vielleicht auch nicht -, würde eine spannende Diskussion über das Helfen aber erst einsetzen.
OLIVER JUNGEN
Tillmann Bendikowski:
"Helfen". Warum wir für
andere da sind.
C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 352 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tillmann Bendikowski über die Kultur des Helfens
Tillmann Bendikowskis weitgespannte Überlegungen zu den Motiven des Helfens sind klar politisch motiviert. Der unmittelbare Anlass ist die weltweit bewunderte Welle an Hilfsbereitschaft, die Deutschland am Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise erfasste. Die alsbald einsetzende Diskreditierung dieser tatkräftigen Empathie als realitätsfremdes Gutmenschentum und Kompensation eines historisch bedingten Minderwertigkeitskomplexes schmälert für den Autor das "humanitäre Sommermärchen" aus dem Jahre 2015 keineswegs, "denn die Kultur des Helfens ist auch ein Gradmesser für den Zustand der Menschlichkeit in einem Land".
Der Autor, ein Schüler des Historikers Hans Mommsen, will die Hintergründe und Grenzen dieser Hilfskultur unter die Lupe nehmen, eine "Geschichte des Helfens" schreiben. Historisch zeigt sich, wie nicht anders zu erwarten, eine zunehmende Institutionalisierung der in Europa bis zum achtzehnten Jahrhundert christlich inspirierten Almosen-Wohltätigkeit gegenüber Armen und Kranken. Diese Entwicklung führt über Bismarcks Sozialgesetze und die Gründung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas in den Sozialstaat mit Rentenkasse, Kranken- und Arbeitslosenversicherung.
Dazwischen liegt die Pervertierung der Wohlfahrtsidee in der nationalsozialistischen Ära, das beschönigend "Euthanasie" genannte Ermorden von Hilfsbedürftigen. Bendikowski formuliert grenzwertig: "Die Ärzte wurden ,im Kollektiv zu Hitlers Helfern', ohne welche die Verfolgung Andersdenkender und ,Andersrassiger' nicht möglich gewesen wäre - und damit auch nicht der Genozid an den europäischen Juden."
Interessant ist, dass das Narrativ der altruistischen Ikonen des Helfens alle Umbrüche unbeschadet überstanden hat: Wie man heute im gesellschaftlichen Diskurs auf einen Freund der Armen wie Rupert Neudeck Bezug nimmt, unterscheidet sich kaum von traditionellen Berufungen auf christliche Heilige wie Martin von Tours, Franz von Assisi oder Elisabeth von Thüringen (Angela Merkel hat das Mutter Teresa-Gewand früh genug abgelegt).
Bendikowski plädiert dafür, sich von solchen Samariter-Vorbildern nicht moralisch paralysieren zu lassen, sondern in Anerkennung der durchaus auch selbstbezüglichen Natur des Menschen - der Autor verwendet Marisa Przyrembels Begriff des "empathischen Egoisten" -, barmherzig zu sein, so gut es eben geht. Wichtiger ist ihm aber der Blick auf den Sozialstaat, der sich spätestens seit der Agenda 2010 auf dem Rückzug befinde. Die Politik scheine darauf zu hoffen, dass ehrenamtliches Engagement die Fürsorgelücke fülle. Als Beispiel dienen Bendikowski die zahlreichen "Tafeln", eine Wiederkehr der Armenspeisung auf Almosenbasis. Das lässt sich, auch wenn der Befund nicht neu ist, in der Tat als Fanal interpretieren.
Als Kulturgeschichte des Helfens überzeugt das Buch indes nur mäßig. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sein Gegenstand terminologisch schwer zu fassen ist. In Bendikowskis Maximaldefinition fällt quasi jede nichtaggressive asymmetrische Beziehung unter die Kategorie "Helfen". Folglich ufert das Buch inhaltlich aus, thematisiert Armut im Mittelalter ebenso wie die Geschichte der Krankenversicherung, Burn-out-Probleme von angehenden Ärzten, verordnete Solidarität in der DDR, philosophische Debatten über den Egoismus oder aktuelle publizistische Schlachten. Für mehr als eine Kompilation von Grundwissen und gut bekannten Positionen ist da kein Platz. Verwirrend kommt hinzu, dass die freiwillige Hilfe zwischen Individuen eher psychologische und philosophische, die staatlich garantierte Wohlfahrt eher strukturelle und soziologische Fragen aufwirft. Der Autor springt zwischen diesen Zugängen hin und her.
Wissenschaftliche Tiefe strebt Bendikowski auch gar nicht an. Das zeigt sich schon daran, dass beinahe alles, was er zur wichtigen Phase der tätigen Nächstenhilfe im christlichen Mittelalter zu sagen hat, aus dem Begleitkatalog der Paderborner Caritas-Ausstellung (2015) stammt. Auch sonst sind die Quellen häufig Aufsätze und Artikel, kaum je die Standardwerke zu den gut erforschten Themenkomplexen. So muss man das Buch wohl als engagierten Debattenbeitrag verstehen, der mit historischen Schlenkern und einigen Helfershelfer-Interviews den sympathischen Aufruf zu mehr Wertschätzung für die gesellschaftliche Solidarität untermauern möchte: "Deutschland verfügt über eine stabile Kultur des Helfens, aber diese muss gepflegt werden: mit vielen guten individuellen Taten, mit einer Sozialpolitik, die sich nicht weiter aus der staatlichen Aufgabe, Hilfe für existenzielle Lebensrisiken zu gewähren, zurückzieht, und mit steter Anerkennung für die Helfer."
Daran zu erinnern, dass Helfen sich nicht dadurch schon disqualifiziert, dass es auch dem Helfenden etwas einbringt - Selbstachtung und soziales Prestige -, ist in Zeiten, in denen bereits ein freundliches Gesicht unter Verdacht geraten ist, ein verdienstvolles Unterfangen. Leider nur drückt sich die Darstellung um die entscheidende Frage, ob sich die traditionell für Einzelgesellschaften geltenden Hilfsstrukturen überhaupt mit einer weltweiten Perspektive vertragen. Läuft die vielbeschworene Bekämpfung von Fluchtursachen, wenn man es ernst meint, nicht auf die politische Forderung nach einer Reduzierung des krassen sozialen Ungleichgewichts zwischen den Ländern und Kontinenten hinaus? Das lässt sich gut begründen, würde aber hierzulande den Verzicht auf einen guten Teil des eigenen Wohlstands bedeuten. Bei der Frage, wer uns in einer globalisierten Welt der Nächste ist - und wer vielleicht auch nicht -, würde eine spannende Diskussion über das Helfen aber erst einsetzen.
OLIVER JUNGEN
Tillmann Bendikowski:
"Helfen". Warum wir für
andere da sind.
C. Bertelsmann Verlag, München 2016. 352 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Tillmann Bendikowski hat ein kluges und anregendes Buch geschrieben über die Kultur des Helfens. Darüber, dass Menschen als sozialen Wesen das Helfen von Natur mitgegeben, aber zugleich an Bedingungen geknüpft ist." ARD "ttt"