Eines Morgens stellt Gary, erfolgloser Gitarrenhändler in der Nähe von L.A., beim morgendlichen Blick in den Spiegel fest, dass ihm die Haare zu Berge stehen. Er schneidet sie kurz - und hängt plötzlich unter der Badezimmerdecke. Auch Rucksäcke voller Bücher und Tauchergürtel bringen die Bodenhaftung nicht zurück. Irgendwann holt eine gute Seele die NASA zu Hilfe, die Experten für Schwerelosigkeit. Doch das ist erst der Anfang eines schwerelosen Lebens, das Gary vor ungeahnt schwerwiegende Probleme stellt ...
Voll amüsanter Anspielungen, klug und witzig, ist dieser Roman das ideale Sommervergnügen.
Voll amüsanter Anspielungen, klug und witzig, ist dieser Roman das ideale Sommervergnügen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.1999Geländerstangenverwicklungen
Tim Earnshaw bläst seinen Helden auf
Der Held von "Helium" ist ein HB-Männchen, das aus Langeweile in die Luft geht; nicht rasend und mit verkrampften Fäusten, sondern sachte wie ein Luftballon. Gary Wilder hat den Absprung von zu Hause so gründlich verpasst, dass er im leeren Elternhaus als letzte Seele übrig bleibt. Seine Frau hat ihn verlassen, er geht auf die Fünfzig zu, doch außer der biologischen Uhr bewegt sich nichts in den verstaubten vier Wänden. Gary führt Selbstgespräche und würzt sie mit Obszönitäten, so wie man in einen schalen Whisky Eiswürfel wirft. Und eines Tages hält die Erde ihn nicht länger fest. Die Verwandlung beginnt bei seinen Hippiehaaren, die wie Seegräser nach oben steigen, doch wenig später schwebt Gary selbst und klammert sich am Kronleuchter fest.
Der Sonderlingsstatus verschafft seinem Leben eine Oxygenzufuhr. Der Versager wird zum Weltwunder, zarte Frauenhände führen ihn am ausgestreckten Arm spazieren, und selbst die Nasa streckt die Fühler aus. Der Roman kostet die Komik des schwerelosen Übels gründlich aus. Gary holt sich Beulen, macht in brenzligen Situationen eine elegante Fliege und entdeckt sein altes Pfadfindermesser, weil ein Lüftchen ihn hinter das Sofa weht. Als Gretchen, die besorgte Nachbarin, sich erkundigt, was er denn jetzt machen wolle, antwortet Gary: "Vielleicht bei Oprah Winfrey auftreten? Gewichtsverlust ist in ihrer Talkshow ein wichtiges Thema." Die absurde Stimmung des Buches wird nicht zuletzt von Kent gesteigert, einem Junkie aus Garys seligen Bandleadertagen, der fünfundzwanzig Jahre in einem mexikanischen Knast dahingedämmert ist und jetzt ein Revival von "Gary Wilder And The Wild Ones" zünden will. Während sein Gastgeber die Zimmerdecke auf und ab spaziert, wundert sich der Besucher mit dem chronisch erweiterten Wahrnehmungshorizont bestenfalls darüber, dass das Bier im Kühlschrank ausgeht.
Es ist, als habe Tim Earnshaw das Vertrauen in seine Fabulierlust auf halbem Wege verlassen; je mehr sein Held an Pfunden verliert, desto schwerer wird die Lektüre. Gretchens Onkel kidnappt Gary und misshandelt ihn schimpflich. Der kann sich mit einem Salto aus dem Fenster retten und wird sogleich in die Erdumlaufbahn torpediert. Zwar fällt der amerikanische Ikarus noch einmal vom Himmel, doch der Roman hat jetzt sein vorschnelles Ende gewittert und stürzt heillos dem Vakuum zu. Begonnene Handlungsfäden heben sich ins Blaue auf wie die Schnürsenkel eines Fakirs. Weder die Nasa-Zukunft, noch der Plattenvertrag oder die Romanze mit Gretchen haben ein zweites Kapitel. Gary segelt unwiderruflich ins Unendliche davon.
Der Autor hat dieser plakativen Pointe nicht länger widerstehen können. Im Einvernehmen mit seiner Figur gibt er eine Balance auf, die sich geschickt am Rand des Realen bewegt und alle Dinge in ein neues Licht versetzt. Dem um eine Bewegungsdimension reicheren Protagonisten kam das eigene Zimmer plötzlich wie eine "düstere Kathedrale" vor, der Restaurantfußboden erschien ihm so federnd, als hätte man "Gummikacheln verlegt", in seinem Blut kribbelte es wie Kohlensäure, und zum Verschnaufen wickelte er sich um eine Geländerstange, als wäre er ein Faultier.
Statt einer Phänomenologie des Wunderbaren erhält der Leser eine tiefenpsychologische Erklärung. Gary hat eine traurige Kindheit gehabt: "Da war er, der kleine Gary Wilder, ein Blechflugzeug in der Hand, und guckte durch das Cockpitfenster aus blauem Kunststoff auf den Piloten, der flach an einen Blechsitz gedrückt war. Seine Mom sah starr geradeaus, ihr Mund war grimmig. Sein Dad auf einem harten Küchenstuhl, er rutschte unbehaglich hin und her." Aus solchen Beklemmungen ist das Fliegen ein schlüssiger Ausweg. Damit kein Zweifel daran bleibt, dass in der Flugkunst ein verschlepptes Kindheitstrauma wieder auflebt, erinnert Gary sich an eine zweite Episode. Zur Verärgerung seiner Mutter, die aus schleierhaften Gründen in der Übersetzung mal amerikanisch "Mom" und mal deutsch "Mami" heißt, ließ er einst einen Heliumballon davonfliegen, der an seinen Schnüren zerrte: "Er möchte weg, Mami, er zieht an der Schnur."
Earnshaws phantastische Geschichte erweist sich als moralische Erzählung. Während der kleine Junge sich danach sehnte, vom Boden abzuheben, hat sich das Unglück für den Erwachsenen in sein Gegenteil verkehrt. Nun gleitet ihm das Seil aus der Hand, das ihn noch im Reich der Menschen festhält, und die Erdkugel selber segelt als bunter Luftballon davon. Weil Garys Mutter das Loslassen nicht gebilligt hat, kommt es über ihn wie ein Fluch. Gary ist Sammler und solange er in seinem Haus wohnt, wirft er nichts weg. Der Staub legt sich auf Zeitschriften und alte Langspielplatten. Das Aufheben endet bei diesem Helden des Laissez-faire in einer Aufhebung ohne Synthese, denn aus dem All, in das sein Körper entweicht, kommt nichts Substanzielles auf ihn zu. So wird das schwarze Loch zum Schattenbild der guten Stube, in der ihn eine unerfüllte Kindheit magisch festgehalten hat.
Aus literarischer Sicht ist "Helium" eine zerplatzende Luftblase, die das von Earnshaw feingestimmte Ohr beleidigt. Doch es gibt noch eine andere Perspektive. Das Buch ist voll von filmischen Aperçus, was bei einem Autor, dem, wie das Vorwort bekennt, Kalifornien nur aus dem Kino vertraut ist, kaum überrascht. Zur Zeit arbeitet der Brite an einer Drehbuchfassung des Romans, für den sich Hollywood begeistert. Kein Wunder. Die Idee ist ein Hit und hält das Büro für spezielle Effekte eine Weile in Trab. Doch was noch mehr ist: Man muss sie nicht wie "Doktor Schiwago" erst um neun Zehntel kürzen. Earnshaw hat in seinem schwungvollen ersten Roman den Supergag der Himmelfahrt gleich an die Ouvertüre angeschlossen.
Der Leser fühlt sich um die Durchführung der Motive betrogen, die Augen des Zuschauers sind an diesem Punkt vom Akrobatischen vielleicht schon übervoll. Wie dem auch sei, der Roman dauert mit Popcorn und Eiskonfekt anderthalb Stunden, und wenn Tim Earnshaw fleißig am Schreibtisch sitzt, dematerialisiert sich sein Wunderhippie bald nicht in Venyl, sondern auf Zelluloid. Das ist der diaphane Schwebezustand, den Gary Wilder von Anfang an gesucht hat.
INGEBORG HARMS.
Tim Earnshaw: "Helium". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Margarete Längsfeld und Peter Klumbach. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 240 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tim Earnshaw bläst seinen Helden auf
Der Held von "Helium" ist ein HB-Männchen, das aus Langeweile in die Luft geht; nicht rasend und mit verkrampften Fäusten, sondern sachte wie ein Luftballon. Gary Wilder hat den Absprung von zu Hause so gründlich verpasst, dass er im leeren Elternhaus als letzte Seele übrig bleibt. Seine Frau hat ihn verlassen, er geht auf die Fünfzig zu, doch außer der biologischen Uhr bewegt sich nichts in den verstaubten vier Wänden. Gary führt Selbstgespräche und würzt sie mit Obszönitäten, so wie man in einen schalen Whisky Eiswürfel wirft. Und eines Tages hält die Erde ihn nicht länger fest. Die Verwandlung beginnt bei seinen Hippiehaaren, die wie Seegräser nach oben steigen, doch wenig später schwebt Gary selbst und klammert sich am Kronleuchter fest.
Der Sonderlingsstatus verschafft seinem Leben eine Oxygenzufuhr. Der Versager wird zum Weltwunder, zarte Frauenhände führen ihn am ausgestreckten Arm spazieren, und selbst die Nasa streckt die Fühler aus. Der Roman kostet die Komik des schwerelosen Übels gründlich aus. Gary holt sich Beulen, macht in brenzligen Situationen eine elegante Fliege und entdeckt sein altes Pfadfindermesser, weil ein Lüftchen ihn hinter das Sofa weht. Als Gretchen, die besorgte Nachbarin, sich erkundigt, was er denn jetzt machen wolle, antwortet Gary: "Vielleicht bei Oprah Winfrey auftreten? Gewichtsverlust ist in ihrer Talkshow ein wichtiges Thema." Die absurde Stimmung des Buches wird nicht zuletzt von Kent gesteigert, einem Junkie aus Garys seligen Bandleadertagen, der fünfundzwanzig Jahre in einem mexikanischen Knast dahingedämmert ist und jetzt ein Revival von "Gary Wilder And The Wild Ones" zünden will. Während sein Gastgeber die Zimmerdecke auf und ab spaziert, wundert sich der Besucher mit dem chronisch erweiterten Wahrnehmungshorizont bestenfalls darüber, dass das Bier im Kühlschrank ausgeht.
Es ist, als habe Tim Earnshaw das Vertrauen in seine Fabulierlust auf halbem Wege verlassen; je mehr sein Held an Pfunden verliert, desto schwerer wird die Lektüre. Gretchens Onkel kidnappt Gary und misshandelt ihn schimpflich. Der kann sich mit einem Salto aus dem Fenster retten und wird sogleich in die Erdumlaufbahn torpediert. Zwar fällt der amerikanische Ikarus noch einmal vom Himmel, doch der Roman hat jetzt sein vorschnelles Ende gewittert und stürzt heillos dem Vakuum zu. Begonnene Handlungsfäden heben sich ins Blaue auf wie die Schnürsenkel eines Fakirs. Weder die Nasa-Zukunft, noch der Plattenvertrag oder die Romanze mit Gretchen haben ein zweites Kapitel. Gary segelt unwiderruflich ins Unendliche davon.
Der Autor hat dieser plakativen Pointe nicht länger widerstehen können. Im Einvernehmen mit seiner Figur gibt er eine Balance auf, die sich geschickt am Rand des Realen bewegt und alle Dinge in ein neues Licht versetzt. Dem um eine Bewegungsdimension reicheren Protagonisten kam das eigene Zimmer plötzlich wie eine "düstere Kathedrale" vor, der Restaurantfußboden erschien ihm so federnd, als hätte man "Gummikacheln verlegt", in seinem Blut kribbelte es wie Kohlensäure, und zum Verschnaufen wickelte er sich um eine Geländerstange, als wäre er ein Faultier.
Statt einer Phänomenologie des Wunderbaren erhält der Leser eine tiefenpsychologische Erklärung. Gary hat eine traurige Kindheit gehabt: "Da war er, der kleine Gary Wilder, ein Blechflugzeug in der Hand, und guckte durch das Cockpitfenster aus blauem Kunststoff auf den Piloten, der flach an einen Blechsitz gedrückt war. Seine Mom sah starr geradeaus, ihr Mund war grimmig. Sein Dad auf einem harten Küchenstuhl, er rutschte unbehaglich hin und her." Aus solchen Beklemmungen ist das Fliegen ein schlüssiger Ausweg. Damit kein Zweifel daran bleibt, dass in der Flugkunst ein verschlepptes Kindheitstrauma wieder auflebt, erinnert Gary sich an eine zweite Episode. Zur Verärgerung seiner Mutter, die aus schleierhaften Gründen in der Übersetzung mal amerikanisch "Mom" und mal deutsch "Mami" heißt, ließ er einst einen Heliumballon davonfliegen, der an seinen Schnüren zerrte: "Er möchte weg, Mami, er zieht an der Schnur."
Earnshaws phantastische Geschichte erweist sich als moralische Erzählung. Während der kleine Junge sich danach sehnte, vom Boden abzuheben, hat sich das Unglück für den Erwachsenen in sein Gegenteil verkehrt. Nun gleitet ihm das Seil aus der Hand, das ihn noch im Reich der Menschen festhält, und die Erdkugel selber segelt als bunter Luftballon davon. Weil Garys Mutter das Loslassen nicht gebilligt hat, kommt es über ihn wie ein Fluch. Gary ist Sammler und solange er in seinem Haus wohnt, wirft er nichts weg. Der Staub legt sich auf Zeitschriften und alte Langspielplatten. Das Aufheben endet bei diesem Helden des Laissez-faire in einer Aufhebung ohne Synthese, denn aus dem All, in das sein Körper entweicht, kommt nichts Substanzielles auf ihn zu. So wird das schwarze Loch zum Schattenbild der guten Stube, in der ihn eine unerfüllte Kindheit magisch festgehalten hat.
Aus literarischer Sicht ist "Helium" eine zerplatzende Luftblase, die das von Earnshaw feingestimmte Ohr beleidigt. Doch es gibt noch eine andere Perspektive. Das Buch ist voll von filmischen Aperçus, was bei einem Autor, dem, wie das Vorwort bekennt, Kalifornien nur aus dem Kino vertraut ist, kaum überrascht. Zur Zeit arbeitet der Brite an einer Drehbuchfassung des Romans, für den sich Hollywood begeistert. Kein Wunder. Die Idee ist ein Hit und hält das Büro für spezielle Effekte eine Weile in Trab. Doch was noch mehr ist: Man muss sie nicht wie "Doktor Schiwago" erst um neun Zehntel kürzen. Earnshaw hat in seinem schwungvollen ersten Roman den Supergag der Himmelfahrt gleich an die Ouvertüre angeschlossen.
Der Leser fühlt sich um die Durchführung der Motive betrogen, die Augen des Zuschauers sind an diesem Punkt vom Akrobatischen vielleicht schon übervoll. Wie dem auch sei, der Roman dauert mit Popcorn und Eiskonfekt anderthalb Stunden, und wenn Tim Earnshaw fleißig am Schreibtisch sitzt, dematerialisiert sich sein Wunderhippie bald nicht in Venyl, sondern auf Zelluloid. Das ist der diaphane Schwebezustand, den Gary Wilder von Anfang an gesucht hat.
INGEBORG HARMS.
Tim Earnshaw: "Helium". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Margarete Längsfeld und Peter Klumbach. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 240 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Helium ist ein originelles, urkomisches und anrührendes Buch." (Esquire)