Als die achtzehnjährige Berlinerin Helmina von Chézy im Jahre 1801 in Paris eintrifft, hat die Absicherung ihres Lebensunterhalts höchste Priorität. So etabliert sie sich rasch als kompetente Journalistin, verfasst für deutsche Blätter, darunter Schlegels Europa, unzählige Beiträge über das quirlige Leben in der französischen Hauptstadt, befreundet sich dabei mit allen, die in Paris den kulturellen Ton angeben, bis sie 1804 beschließt, das große zusammenhängende Buch zu schreiben: Leben und Kunst in Paris seit Napoleon I. Dieses Werk, erschienen in Weimar in den bewegten Jahren 1805/07, erzählt aus der Perspektive und mit dem jugendlichen Ernst einer Anfang zwanzigjährigen Deutschen eine aufregende Geschichte von ästhetischem Suchen und Finden in den gigantischen, aus ganz Europa nach Paris zusammengebrachten Sammlungen im Louvre, der Nationalbibliothek und den kaiserlichen Schlössern. Es gibt Einblicke in die junge Malerszene der napoleonischen Jahre, formuliert gewagte Überlegungen zur Stellung von Frauen, Müttern und armen Leuten im post-revolutionären Frankreich, begeistert sich für mittelalterliche und orientalische Dichtung ... Chézys jugendliches Werk ist die bedeutendste Quelle in deutscher Sprache über das kulturelle Leben in Paris um 1800, das einzigartige Porträt einer neuen Hauptstadt des öffentlichen Wissens und der freien Kunstwahrnehmung. Nach zweihundert Jahren wird dieses gewaltige Buch hier nun mit ausführlichen Kommentaren dem Leser und der Forschung wieder zugänglich gemacht. Kommentiert von Mara Bittner, David Blankenstein, Lisa Hackmann, René Hartmann, Matthias Heuser, Sophie Jung, Eva-Maria Knels, Malte Lohmann, Nadine Ott, Philippa Sissis, Nina Struckmeyer.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2009Gott, diese hübschen Frauen!
Mit einer aufgeweckten Berlinerin durchs Paris des Ersten Kaiserreichs
Von der deutschen Paris-Faszination um 1800 ist vieles in den einschlägigen Zeitschriften jener Jahre und in den Reiseberichten bekannter Paris-Fahrer festgehalten, bei Friedrich Schlegel, Alexander von Humboldt, Jacob Grimm. Dass ein Werk wie dieses, zweibändig 1806 in Weimar erschienen, bisher nur von - vorab französischen - Kennern als Fundgrube über Kunst und Alltag in der Hauptstadt des Ersten Kaiserreichs wahrgenommen wurde, ist zugleich erstaunlich und verständlich.
Mehr als von einer literarischen Berufung war die Autorin, eine zwanzigjährige Berlinerin, die im Juni 1801 in Paris eintraf, von ihrem Wissens- und Mitteilungsdurst getrieben. Diesen verstand sie in Beiträgen für deutsche Zeitschriften nutzbar zu machen. Daraus entstand in diesem Buch eine Mischung aus Detailberichten über Museen und private Kunstsammlungen, Alltagsskizzen zum Pariser Gesellschaftsleben und Seelenlandschaftsbetrachtungen aus der Perspektive der deutschen Frühromantik.
Nicht szenische Situationsschilderung mit dem sprunghaften Rundblick des Augenzeugen zeichnet primär diese Texte aus, sondern die getreue Beschreibung der Bestände, Saal um Saal, im "Musäum Napoleon", dem heutigen Louvre, oder in der Kaiserlichen Bibliothek. Dazwischengestreut sind Berichte von Spazierfahrten übers Land in Schlösser und alte Abteien, am liebsten bei Mondschein. In der ersten Zeit wohnte Helmina von Chézy außerhalb von Paris und tauchte jeweils tageweise ins Stadtleben ein. Dieses Eintauchen in bestimmte Zusammenhänge, Stimmungen, Themen gibt den Texten ihren eigenen Ton. Die Beobachtungen über die französische Gesellschaft zeugen von einer erstaunlichen Reife und erfrischenden Direktheit. Die junge Frau schildert die Dinge so, wie sie sie sieht, ohne Pose des höheren Kennertums.
Sie könne ihr Urteil "um so eher an den Tag legen, da ich keine Autorität bin und meine Meinung nur freundlich mitteile", schreibt sie. Ihr Urteil etwa über Rubens? Er besitze "ein wahres Gefühl des Fleisches", doch bleibe die "Verdrehtheit der Stellungen, die kolossale Plumpheit und Breite der Formen" ihr unangenehm. In der Landschaftsmalerei lässt sie außer Claude Lorrain und Jakob von Ruisdael nichts gelten - lieber gleich aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Wolken schauen. Man bleibt bei der Lektüre unschlüssig, was reizvoller ist: die Fülle der Sachinformation oder die unverfrorenen Urteile einer Zwanzigjährigen.
Vieles wirkt angelesen und mitgehört, vorab in den historischen Betrachtungen. Doch hatte diese junge Deutsche ein solches Talent fürs Dabeistehen in den Salons, fürs Aufschnappen und Mitschreiben etwa bei ihrem Gönner Vivant Denon, dem damaligen Direktor des Musée Napoléon, dass selbst das irgendwie originell klingt.
Besonders interessant an diesem Buch ist der weibliche Blick. Die französischen Frauen hätten als Erste gespürt, was sie durch die Revolution verloren hätten, schreibt die Autorin schon in der Einleitung. Seien sie vom freizügigen Umgang mit den Männern, der auch in der Kleidung "keine Spur mehr von Verschämtheit zeigt", zunächst angetan gewesen, so hätten sie bald eingesehen, dass etwas mehr Achtung ihnen zuträglich wäre, wie einst zu höfischen Zeiten. Wohl sei der Anblick so vieler hübscher, junger und geschmückter Frauen in Handelsläden und Cafés angenehm, heißt es an anderer Stelle: doch zu welchem Preis? Zum Preis der Kindererziehung. "Ich freue mich, nicht eine Deutsche zu kennen, die sich entschließen könnte, ihr Kind in ein fremdes Haus zu geben, oder gar Meilen weit auf das Land", an herzlose Ammen. Auch von ihrer Gesinnung her passt die Autorin gut in die Zeit der Restauration.
Zum besseren Verständnis dieses seit dem 19. Jahrhundert vergriffenen Texts hat das Forscherteam um die Herausgeberin Bénédicte Savoy auf dreihundert Seiten im Anhang Schätze von Detailinformationen zusammengetragen. Ein dem Gerücht nach noch von Napoleon zensuriertes Buch findet zu einer verdienten zweiten Existenz.
JOSEPH HANIMANN
Helmina von Chézy: "Leben und Kunst in Paris seit Napoleon I.". Herausgegeben von Bénédicte Savoy. Kommentiert von Mara Bittner, David Blankenstein, Lisa Hackmann, René Hartmann, Matthias Heuser, Sophie Jung, Eva-Maria Knels, Malte Lohmann, Nadine Ott, Philippa Sissis, Nina Struckmeyer. Akademie Verlag, Berlin 2009. 768 S., geb., 79,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit einer aufgeweckten Berlinerin durchs Paris des Ersten Kaiserreichs
Von der deutschen Paris-Faszination um 1800 ist vieles in den einschlägigen Zeitschriften jener Jahre und in den Reiseberichten bekannter Paris-Fahrer festgehalten, bei Friedrich Schlegel, Alexander von Humboldt, Jacob Grimm. Dass ein Werk wie dieses, zweibändig 1806 in Weimar erschienen, bisher nur von - vorab französischen - Kennern als Fundgrube über Kunst und Alltag in der Hauptstadt des Ersten Kaiserreichs wahrgenommen wurde, ist zugleich erstaunlich und verständlich.
Mehr als von einer literarischen Berufung war die Autorin, eine zwanzigjährige Berlinerin, die im Juni 1801 in Paris eintraf, von ihrem Wissens- und Mitteilungsdurst getrieben. Diesen verstand sie in Beiträgen für deutsche Zeitschriften nutzbar zu machen. Daraus entstand in diesem Buch eine Mischung aus Detailberichten über Museen und private Kunstsammlungen, Alltagsskizzen zum Pariser Gesellschaftsleben und Seelenlandschaftsbetrachtungen aus der Perspektive der deutschen Frühromantik.
Nicht szenische Situationsschilderung mit dem sprunghaften Rundblick des Augenzeugen zeichnet primär diese Texte aus, sondern die getreue Beschreibung der Bestände, Saal um Saal, im "Musäum Napoleon", dem heutigen Louvre, oder in der Kaiserlichen Bibliothek. Dazwischengestreut sind Berichte von Spazierfahrten übers Land in Schlösser und alte Abteien, am liebsten bei Mondschein. In der ersten Zeit wohnte Helmina von Chézy außerhalb von Paris und tauchte jeweils tageweise ins Stadtleben ein. Dieses Eintauchen in bestimmte Zusammenhänge, Stimmungen, Themen gibt den Texten ihren eigenen Ton. Die Beobachtungen über die französische Gesellschaft zeugen von einer erstaunlichen Reife und erfrischenden Direktheit. Die junge Frau schildert die Dinge so, wie sie sie sieht, ohne Pose des höheren Kennertums.
Sie könne ihr Urteil "um so eher an den Tag legen, da ich keine Autorität bin und meine Meinung nur freundlich mitteile", schreibt sie. Ihr Urteil etwa über Rubens? Er besitze "ein wahres Gefühl des Fleisches", doch bleibe die "Verdrehtheit der Stellungen, die kolossale Plumpheit und Breite der Formen" ihr unangenehm. In der Landschaftsmalerei lässt sie außer Claude Lorrain und Jakob von Ruisdael nichts gelten - lieber gleich aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Wolken schauen. Man bleibt bei der Lektüre unschlüssig, was reizvoller ist: die Fülle der Sachinformation oder die unverfrorenen Urteile einer Zwanzigjährigen.
Vieles wirkt angelesen und mitgehört, vorab in den historischen Betrachtungen. Doch hatte diese junge Deutsche ein solches Talent fürs Dabeistehen in den Salons, fürs Aufschnappen und Mitschreiben etwa bei ihrem Gönner Vivant Denon, dem damaligen Direktor des Musée Napoléon, dass selbst das irgendwie originell klingt.
Besonders interessant an diesem Buch ist der weibliche Blick. Die französischen Frauen hätten als Erste gespürt, was sie durch die Revolution verloren hätten, schreibt die Autorin schon in der Einleitung. Seien sie vom freizügigen Umgang mit den Männern, der auch in der Kleidung "keine Spur mehr von Verschämtheit zeigt", zunächst angetan gewesen, so hätten sie bald eingesehen, dass etwas mehr Achtung ihnen zuträglich wäre, wie einst zu höfischen Zeiten. Wohl sei der Anblick so vieler hübscher, junger und geschmückter Frauen in Handelsläden und Cafés angenehm, heißt es an anderer Stelle: doch zu welchem Preis? Zum Preis der Kindererziehung. "Ich freue mich, nicht eine Deutsche zu kennen, die sich entschließen könnte, ihr Kind in ein fremdes Haus zu geben, oder gar Meilen weit auf das Land", an herzlose Ammen. Auch von ihrer Gesinnung her passt die Autorin gut in die Zeit der Restauration.
Zum besseren Verständnis dieses seit dem 19. Jahrhundert vergriffenen Texts hat das Forscherteam um die Herausgeberin Bénédicte Savoy auf dreihundert Seiten im Anhang Schätze von Detailinformationen zusammengetragen. Ein dem Gerücht nach noch von Napoleon zensuriertes Buch findet zu einer verdienten zweiten Existenz.
JOSEPH HANIMANN
Helmina von Chézy: "Leben und Kunst in Paris seit Napoleon I.". Herausgegeben von Bénédicte Savoy. Kommentiert von Mara Bittner, David Blankenstein, Lisa Hackmann, René Hartmann, Matthias Heuser, Sophie Jung, Eva-Maria Knels, Malte Lohmann, Nadine Ott, Philippa Sissis, Nina Struckmeyer. Akademie Verlag, Berlin 2009. 768 S., geb., 79,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als erstaunliche Entdeckung feiert Joseph Hanimann Helmina von Chezys 1806 in Weimar erschienenes Paris-Buch, das schon im 19. Jahrhundert vergriffen war und nun verdienstvoller Weise in einer deutschen Übersetzung vorliegt. Insbesondere der frische, unbekümmerte Blick, mit dem die bei ihrem Parisaufenthalt erst 20-jährige Berliner Autorin Museumsbesuche, Landpartien, Salonbesuche und allgemeine Beobachtungen notiert, haben es dem Rezensenten angetan. Dass sie dabei mitunter überraschend reife Urteile fällt, registriert Hanimann ebenso wie er merkt, dass insbesondere ihre geschichtlichen Reflexionen häufig "angelesen" oder "mitgehört" klingen. Aber auch im nebenbei Aufschnappen vermag der Rezensent noch ein besonderes Talent der Autorin auszumachen und ihre "weibliche" Perspektive weiß er ebenfalls besonders zu schätzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Im Kontext eines journalistischen Schreibens über Paris ist Chézys Publikation ein herausragendes Beispiel dafür, dass trotz der damals vermuteten Schwerfälligkeit des Buchmarkts das Thema für eine größere Veröffentlichung tragfähig war, nicht nur das Zeitschriftenformat füllte. [...] Zweifellos ist die kommentierte Neuausgabe [...] für Kunsthistoriker wie auch für alle, die sich mit dem deutsch-französischen Kulturtransfer um 1800 beschäftigen, außerordentlich bedeutsam." Jochen Strobel in: sehepunkte, 10 (2010) 7/8 "Für den Kunsthistoriker ist [Chézys] Werk eine Fundgrube und eine aufregende Chronik des Kunst-Geschmacks jener Zeit; für den gebildeten Leser bietet sie einen einzigartigen Einblick in die Zeit des Empire als aufblühende Kunstlandschaft. Um sich in ihrem Werk, das eine überwältigende Fülle von Material bietet, zurecht zu finden, hat die Herausgeberin durch eine Gruppe ihrer Berliner Studenten [...] einen vorzüglichen Kommentar von 300 Seiten erarbeiten lassen, der immer dann Orientierung gibt, wenn man als Leser von den Fakten schier erschlagen wird. Das Werk ist eine Rarität, frei von allen Konventionen und erfrischend ungezügelt, verglichen mit den vielen Deutschen, die zu dieser Zeit dem Bann von Paris erlegen waren." Lerke von Saalfeld in: Die Welt, 14. November 2009 "Alles, was die Autorin sieht, und alles, was sie anekdotisch erzählt, ist in dieser Neuausgabe kommentiert: Orte, Akteure, Institutionen, Ereignisse. So wird der politische Kontext diser Berichte aus dem Empire greifbar." Lothar Müller in: Süddeutsche Zeitung, 25. September 2009