Gibt es Freundschaft unter den Politikern zweier Nationen? Wie können persönliche Beziehungen zwischen Staatsmännern den Gang der Dinge beeinflussen? Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing sind als deutsch-französisches 'Tandem' der 70er Jahre längst in die Geschichte Europas eingegangen. Doch bislang hat sich keine historische Studie mit dieser außergewöhnlichen Politikerfreundschaft befasst.Matthias Waechter, der Zugang zu den Archiven beider Staatsmänner hatte, zeigt auf, wie es zwei Persönlichkeiten mit sehr unterschiedlichen sozialen Hintergründen gelang, eine enge Vertrauensbeziehung aufzubauen. Das Buch lotet das Potenzial und die Grenzen deutsch-französischer politischer Führung im Europa der 70er Jahre aus: Konfrontiert mit der größten Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs optierten der Kanzler und der Präsident für eine abgestimmte Antikrisenpolitik. Aus der Initiative Giscards und Schmidts entstanden der Europäische Rat, die Weltwirtschaftsgipfel sowie das Europäische Währungssystem. Eine Studie über eine große Politikerfreundschaft, die sich in ihrem gemeinsamen Ziel der deutsch-französischen Annäherung über innenpolitische Zwangslagen und die Belastungen der Vergangenheit hinwegsetzte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2011Deutsch-französisches Tandem
Kanzler Schmidt und Staatspräsident Giscard d'Estaing
"Ich denke oft an Bismarck, wenn ich ihn so reden höre", sinnierte Bundesminister Rainer Offergeld 1978 über Helmut Schmidt. Mag der Kanzler sich auf dem internationalen Parkett tatsächlich bisweilen wie ein "ehrlicher Makler" gefühlt haben, so ließ er es doch zumindest einen Kollegen niemals spüren - den Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing. Nachdem das Verhältnis Schmidts zu Frankreich unlängst von Hélène Miard-Delacroix beschrieben worden ist und Michèle Weinachter die Beziehung Giscards zu Deutschland ausgeleuchtet hat, liefert Matthias Waechter eine erste Studie über die "große Politikerfreundschaft" (so der Einband). Das Werk bietet Ansätze einer Doppelbiographie zweier Politiker, die sich in Zeiten schwerer politischer wie ökonomischer Verwerfungen als Krisenmanager große Verdienste erwarben. Dem Autor standen bisher unveröffentlichte Dokumente aus den Präsidentschaftsakten Giscards und aus dem Privatarchiv Schmidts zur Verfügung.
Das enge Einvernehmen war den aus höchst unterschiedlichen Milieus stammenden Männern nicht in die Wiege gelegt. Erst 1969 sollten sich ihre Wege kreuzen. Drei Jahre später entwickelten sie als Finanzminister eine "fruchtbare Arbeitsbeziehung", aus der nach ihrem Aufstieg zum Staatspräsidenten beziehungsweise Bundeskanzler 1974 eine "feste Freundschaft" entstand. Entscheidend war dafür laut Waechter eine politische "Geistesverwandschaft", die sich insbesondere in der Ablehnung eines - wie Schmidt es nannte - "egoistischen Nationalismus", der "Leitvorstellung der globalen Interdependenz" und der beide verbindenden Überzeugung von einer "deutsch-französischen, europäischen, internationalen Governance" niederschlug. Grundstein bildete die Entente zwischen Deutschland und Frankreich. Ungeachtet der vorhandenen "Grenzen der Konvergenz" kann an den Verdiensten des "Tandems" kein Zweifel bestehen: Initiierung des Europäischen Rats, Begründung der Weltwirtschaftsgipfel, Bildung des Europäischen Währungssystems, Wegbereitung zur Direktwahl des Europäischen Parlaments. Vielleicht wäre die Bilanz noch besser ausgefallen, wenn Giscard die Präsidentschaftswahl 1981 nicht verloren hätte. "Ich verstehe nicht die Entscheidung der Franzosen", beklagte sich Schmidt ihm gegenüber am Telefon. "Sie sind unberechenbar." Waechters "neuer Blick" auf die Ära zweier bemerkenswerter Staatsmänner ist höchst anregend.
ULRICH LAPPENKÜPER
Matthias Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre. Edition Temmen, Bremen 2011. 168 S., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kanzler Schmidt und Staatspräsident Giscard d'Estaing
"Ich denke oft an Bismarck, wenn ich ihn so reden höre", sinnierte Bundesminister Rainer Offergeld 1978 über Helmut Schmidt. Mag der Kanzler sich auf dem internationalen Parkett tatsächlich bisweilen wie ein "ehrlicher Makler" gefühlt haben, so ließ er es doch zumindest einen Kollegen niemals spüren - den Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing. Nachdem das Verhältnis Schmidts zu Frankreich unlängst von Hélène Miard-Delacroix beschrieben worden ist und Michèle Weinachter die Beziehung Giscards zu Deutschland ausgeleuchtet hat, liefert Matthias Waechter eine erste Studie über die "große Politikerfreundschaft" (so der Einband). Das Werk bietet Ansätze einer Doppelbiographie zweier Politiker, die sich in Zeiten schwerer politischer wie ökonomischer Verwerfungen als Krisenmanager große Verdienste erwarben. Dem Autor standen bisher unveröffentlichte Dokumente aus den Präsidentschaftsakten Giscards und aus dem Privatarchiv Schmidts zur Verfügung.
Das enge Einvernehmen war den aus höchst unterschiedlichen Milieus stammenden Männern nicht in die Wiege gelegt. Erst 1969 sollten sich ihre Wege kreuzen. Drei Jahre später entwickelten sie als Finanzminister eine "fruchtbare Arbeitsbeziehung", aus der nach ihrem Aufstieg zum Staatspräsidenten beziehungsweise Bundeskanzler 1974 eine "feste Freundschaft" entstand. Entscheidend war dafür laut Waechter eine politische "Geistesverwandschaft", die sich insbesondere in der Ablehnung eines - wie Schmidt es nannte - "egoistischen Nationalismus", der "Leitvorstellung der globalen Interdependenz" und der beide verbindenden Überzeugung von einer "deutsch-französischen, europäischen, internationalen Governance" niederschlug. Grundstein bildete die Entente zwischen Deutschland und Frankreich. Ungeachtet der vorhandenen "Grenzen der Konvergenz" kann an den Verdiensten des "Tandems" kein Zweifel bestehen: Initiierung des Europäischen Rats, Begründung der Weltwirtschaftsgipfel, Bildung des Europäischen Währungssystems, Wegbereitung zur Direktwahl des Europäischen Parlaments. Vielleicht wäre die Bilanz noch besser ausgefallen, wenn Giscard die Präsidentschaftswahl 1981 nicht verloren hätte. "Ich verstehe nicht die Entscheidung der Franzosen", beklagte sich Schmidt ihm gegenüber am Telefon. "Sie sind unberechenbar." Waechters "neuer Blick" auf die Ära zweier bemerkenswerter Staatsmänner ist höchst anregend.
ULRICH LAPPENKÜPER
Matthias Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre. Edition Temmen, Bremen 2011. 168 S., 14,90 [Euro].
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