Helmut Schmidt und die Außenpolitik: In ihrem Buch beleuchtet Kristina Spohr abseits von Klischees, die Schmidt gern als »Macher« und »Krisenmanager« in der Innenpolitik beschreiben, den Menschen und sein politisches Wirken auf der Weltbühne. Der »Weltökonom« Schmidt war an der Einführung der G7-Gipfeltreffen zu Fragen der Weltwirtschaftspolitik sowie des Europäischen Währungssystems (EWS) beteiligt. Früh erkannte er die Tragweite der Globalisierung und des sich abzeichnenden Aufstiegs von China. Als »Stratege des Gleichgewichts« erdachte er den »NATO-Doppelbeschluss« als Reaktion auf die massive sowjetische Aufrüstung im Bereich der Mittelstreckenraketen. So trug er zum Zusammenhalt der Allianz und zur Entschärfung des Kalten Krieges bei.Basis des Titels ist eine umfangreiche Forschung in Schmidts Privatarchiv und in zahlreichen Archiven in Europa und Amerika. Ergänzt wird diese durch persönliche Gespräche mit dem Altkanzler bis kurz vor seinem Tod. Es entsteht daraus ein neues und dichtes politisches Porträt des »Weltkanzlers« vor dem Hintergrund seiner Zeit.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Ralf Husemann lobt Kristina Spohrs Buch über Helmut Schmidt für seine engagierte Beschreibung von Schmidts Gipfeldiplomatie. Dass die Historikerin mitunter die kritische Distanz vermissen lässt und Schmidt allzu sehr glorifiziert, kann Husemann der Autorin verzeihen angesichts der großen Recherchearbeit. Allerdings hätte sich Husemann dann doch weniger allgemeine Aussagen gewünscht zu Schmidts brauner Vergangenheit. Ein neuer Schmidt wird für ihn bei der Lektüre nicht sichtbar. Dem zeitgeschichtlich Interessierten kann Husemann das Buch dennoch empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Kristina Spohr lässt ihrer Bewunderung für Kanzler Helmut Schmidt freien Lauf
Er hat Bedeutendes geleistet. Aber war Helmut Schmidt, der fünfte Kanzler der Bundesrepublik, auch einer der Großen? Er selbst hatte, als er 1982 das Amt wie sämtliche Vorgänger unfreiwillig räumen musste, erhebliche Zweifel, wie Thomas Karlauf gerade in seinem biographischen Porträt des Altkanzlers gezeigt hat (F.A.Z. vom 29. September): Dessen dreißig "späten Jahre" waren auch ein Kampf gegen das Vergessenwerden. Die in England lehrende Historikerin Kristine Spohr sieht das nicht nur anders, sondern bläst den Regierungschef zum "Weltkanzler" auf, der wie "kein anderer Staatslenker der 70er-Jahre" in "diesem Umfang Macher und Denker zugleich" war. Und damit das nicht so grotesk klingt, wie es tatsächlich ist, attestiert die Autorin der nicht einmal vollständig souveränen, fest in die westlichen Gemeinschaften eingebundenen Bundesrepublik, in der Ära Schmidt "den Rang einer ,Weltmacht'" erreicht zu haben.
Nun ist es nicht so, dass Kristina Spohr einfach nur daherredet. Sie kennt die Quellen, hatte Zugang zu den Papieren Schmidts, konnte auch mit ihm sprechen und forschte intensiv in deutschen, britischen und amerikanischen Archiven. Auch die Setzung der Schwerpunkte und die Aufstellung der Verdienstliste des Kanzlers sind plausibel: Keine Frage, Schmidt war "wichtigster Architekt des G-7-Forums" und der Vater des Europäischen Währungssystems, "das sich als Sprungbrett auf dem Weg zum Euro und zur vollständigen Wirtschafts- und Währungsunion erwies".
Ob Schmidt, Jahrgang 1918, dabei wirklich "aus der eigenen Erfahrung und Erinnerung" an die Weimarer Republik "schöpfte", darf man bezweifeln. Anders sieht es mit den Erfahrungen aus, die er während des Zweiten Weltkriegs als Soldat und von 1969 bis 1972 als Verteidigungsminister sammelte. Sie kamen ihm zugute, als es in seiner Kanzlerschaft um die Formulierung des sogenannten Nato-Doppelbeschlusses ging, mit dem die Allianz auf die Hochrüstung des Sowjets im nuklearen Mittelstreckenbereich in Europa reagierte.
Die Darstellung dieser außen- und innenpolitisch schwierigen Verhandlungen, die schließlich maßgeblich zum Sturz Helmut Schmidts beitrugen, zählt auch deshalb zu den stärkeren Kapiteln des Buches, weil die Autorin die Vorgeschichte, nämlich das Debakel um die sogenannte Neutronenwaffe, gut ausleuchtet. Man versteht, warum sich Helmut Schmidt und Jimmy Carter, einer der vier amerikanischen Präsidenten, mit denen es der Kanzler in seiner achtjährigen Amtszeit zu tun hatte, hernach nicht mehr viel zu sagen wussten: Dass sich der Deutsche trotz heftiger Anfeindungen für die Stationierung der Bombe einsetzte, um dann zu erfahren, dass der Amerikaner sich doch davon verabschiedet hatte, kam einer "persönlichen Bloßstellung" gleich. Neu ist das alles nicht, sieht man von einigen erhellenden Details der Entscheidungsfindung auf amerikanischer Seite ab. Nicht nachvollziehbar ist, dass die Autorin den weltpolitischen Hintergrund insbesondere für die Formulierung und Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses praktisch ausblendet. Vom Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und seinen Folgen abgesehen, kommen die zum Teil hochdramatischen Verwerfungen auf der südlichen Halbkugel nicht vor.
Dabei ließ das Eingreifen der Sowjets in den angolanischen Bürgerkrieg in Washington wie Bonn alle Alarmglocken schrillen, obgleich oder eben weil es indirekt, nämlich mit Hilfe von 50 000 kubanischen Soldaten erfolgte. Noch gravierender war die mittelbare sowjetische Intervention in den somalisch-äthiopischen Krieg um das Ogadengebiet. Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski wusste, warum er im Rückblick fest-hielt, die Entspannungspolitik der frühen siebziger Jahre sei im "Sand des Ogaden" begraben worden.
Und der deutsche "Weltkanzler" wusste das natürlich auch, zumal die Befreiung der Geiseln, die von deutschen Terroristen in einer entführten Lufthansa-Maschine im somalischen Mogadischu festgehalten wurden, zu den schwierigsten Entscheidungen seiner Kanzlerschaft gehörte. Von alledem liest man bei Kristina Spohr nichts. Nicht einmal die dramatische Entwicklung in Südostasien kommt vor. Das ist ein schwerwiegendes Defizit. Denn Schmidt beobachtete mit wachsender Sorge, wie erst 1978 das gerade unter kommunistischen Vorzeichen vereinigte Vietnam nach Kambodscha einmarschierte, um das Terrorregime der Roten Khmer zu beseitigen, und dann die Volksrepublik China einen Krieg gegen Vietnam eröffnete, um dem vormaligen Verbündeten und jetzigen Rivalen eine Lektion zu erteilen. Keiner wusste besser als der Mann im Kanzleramt, dass seine Handlungsmöglichkeiten in diesen globalen Konflikten bei null lagen.
So schrumpft Kristina Spohrs "Weltkanzler" tatsächlich auf den Regierungschef eines eingeschränkt souveränen westeuropäischen Teilstaates, der den europäischen und atlantischen Gemeinschaften wegweisende Impulse gab. Das ist nicht wenig. Helmut Schmidt war nicht der "Lenker" einer "Weltmacht", aber er war ein bedeutender Bundeskanzler.
GREGOR SCHÖLLGEN
Kristina Spohr: Helmut Schmidt. Der Weltkanzler. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2016. 384 S., 29,95 [Euro].
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»...lohnt sich für den zeitgeschichtlich interessierten Leser...« Süddeutsche Zeitung