FUSSBALLBUCH DES JAHRES 2017! Durch seine großen Triumphe bei Welt- und Europameisterschaften gilt Helmut Schön bis heute als der erfolgreichste Nationaltrainer der Welt. Seine Mannschaft um Franz Beckenbauer und Günter Netzer zelebrierte zauberhaft schönen Fußball. Dieses sorgsam recherchierte Buch schildert Schöns Lebensweg: seine Nationalspieler-Karriere in der NS-Zeit, sein Überleben im kriegsverheerten Dresden, die Konflikte mit DDR-Funktionären, sein Ringen mit dem Trainerpatriarchen Sepp Herberger und sein Verhältnis zur Spielergeneration der rebellischen siebziger Jahre. Fünf Jahrzehnte deutscher Fußball, spannend verdichtet in der ersten Biografie über den berühmten Trainer.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2016Zaudern? Ich nenne es gewissenhaft
Eine neue Biographie Helmut Schöns als Epochenbild
FRANKFURT. Die 0:1-Niederlage gegen die DDR, sie schmerzte den Trainer am meisten. Er habe nie einen Menschen gesehen wie Helmut Schön in der Kabine nach diesem Vorrundenspiel bei der Fußball-WM 1974, erzählt Berti Vogts in der neuen Biographie Bernd Beyers über den früheren Bundestrainer. "Wie er geschlagen war. Er hat auch zwei, drei Tage kaum mit uns gesprochen." Die folgenden Tage in Malente (die angebliche Machtübernahme durch den Kapitän Franz Beckenbauer, das gequälte Gesicht des Coaches) prägten das Image Schöns nachhaltig. Weshalb dieses Kapitel eine zentrale Rolle in dem monumentalen, über 500 Seiten starken Werk einnimmt.
Dass der "Mann mit der Mütze" als Trainer am Erfolg weniger Anteil am WM-Titel habe als Sepp Herberger 1954, gelte, weiß Beyer, "bis heute als gängige Meinung" - obwohl Schön mit den Titeln 1972 (EM) und 1974 (WM) unbestritten einer der erfolgreichsten Trainer überhaupt ist. Den pauschalen Vorwurf, ein Zauderer zu sein, die Entscheidungen bis zur letzten Minute aufzuheben, fand der Trainer ungerecht. "Zaudern ist so ein negatives Wort", sagte Schön. "Ich bin eher für das Wort ,Gewissenhaftigkeit'."
Und tatsächlich bewies Schön, wie Beyer mit erzählerischer Dichte belegt, bei der Kaderzusammenstellung oft großen Mut. So etwa beim WM-Qualifikationsspiel in Stockholm 1965, seiner ersten Bewährungsprobe als Nachfolger Sepp Herbergers. Dort brachte er zwei Debütanten: Peter Grosser (1860 München) und Franz Beckenbauer (Bayern), der erst sechs Bundesligapartien hinter sich hatte. Und ließ außerdem Uwe Seeler spielen, dessen Einsatz nach dem just auskurierten Achillessehnenriss riskant war. Bei der EM 1972 riskierte Schön mit der Aufstellung des Duos Paul Breitner und Uli Hoeneß ebenso viel.
Fußballerisch sozialisiert wurde Schön, 1915 als Sohn eines Kunsthändlers in Dresden geboren, durch Jimmy Hogan, den legendären Coach aus Schottland, der den kultivierten Kurzpass lehrte. Die Schönheit des Spiels verkörperte Schön auch als technisch versierter Mittelstürmer. Mit dem Dresdner SC wurde er zweimal Meister, dazu schoss er 17 Tore in 16 Länderspielen. "Die Charakterisierung ,zu weich' hörte Schön", schreibt Beyer, "schon in seiner Zeit als Spieler. Gegenüber dem Trainer Schön äußerte sich diese Kritik massiver, jetzt wurde die weiche Spielweise sozusagen auf seinen Charakter übertragen, und gemeint war: Er sei nicht durchsetzungsfähig gegenüber den Spielern."
Begonnen hatte diese Trainerkarriere noch in der DDR. Am 1. Mai 1949 wurde Schön Cheftrainer der DDR-Auswahl, blieb aber ohne Länderspiel. Als Schön im Januar 1950 beim Trainerlehrgang in Köln den Kontakt zu Bundestrainer Sepp Herberger wieder aktivierte, attestierten ihm die DDR-Funktionäre "undemokratisches Verhalten" und schassten ihn. Schön wurde nun abgehört. Kurz darauf flüchtete er über Berlin nach Wiesbaden.
Es folgten Jahre, in denen ihn Existenzängste plagten. Im Frühjahr 1952 wollte Schön ein Angebot des aufstrebenden 1. FC Köln annehmen, als ihn der Chef des Saarländischen Fußball-Bundes (SFB), Hermann Neuberger, als Verbandstrainer engagierte. Sein zweiter Job als Nationaltrainer (das Saarland war bis 1955 autonom) geriet zur Startrampe für seine Karriere im Deutschen Fußball-Bund (DFB): 1956 zum Assistenten Herbergers ernannt, bestimmte ihn der DFB 1962 zum Nachfolger - weshalb Schön, als Cheftrainer dreier deutscher Nationalteams, wie kein anderer die Nachkriegsgeschichte des deutschen Fußballs repräsentiert.
Der spektakuläre Stil jener Mannschaft um Beckenbauer und Günter Netzer, die 1972 erstmals in Wembley siegte und rauschhaft zum EM-Titel stürmte, legte die Messlatte für die WM 1974 hoch. Der Druck war extrem für Schön, und auch die Konflikte zwischen den selbstbewussten DFB-Funktionären und den zunehmend selbstbewussten Profis, die sich im Ausschluss der Spielerfrauen beim WM-Bankett wie auch beim Poker um Prämien äußerten, setzten ihm zu. Er hegte Rücktrittsgedanken. "Und wovon sollen wir leben?", fragte bang seine Frau.
Schön machte weiter. Einen würdigen Abschluss seiner Zeit bei der WM 1978 verhinderte nicht zuletzt DFB-Präsident Neuberger. "Der Pate" (Beyer) habe sich in die Belange Schöns eingemischt wie kein anderer DFB-Funktionär und beispielsweise die WM-Teilnahme der Legionäre Beckenbauer, Breitner und Uli Stielike verhindert (weil Neuberger nur Profis aus deutschen Klubs wollte). Als Neuberger während der WM 1978 Schön noch falsches Training vorwarf, kam es zum Zerwürfnis: "Das hat mich tief getroffen."
Speziell dieses Kapitel zählt zu den interessantesten. Niemand hat diesen Prozess der Professionalisierung im deutschen Fußball der siebziger Jahre bisher eindrucksvoller seziert als Beyer. Aber auch für viele andere Kapitel des deutschen Nachkriegsfußballs taugt diese wunderbare Biographie Schöns als exzellente Folie.
ERIK EGGERS
Bernd-M. Beyer: Helmut Schön. Eine Biografie. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2016, 508 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine neue Biographie Helmut Schöns als Epochenbild
FRANKFURT. Die 0:1-Niederlage gegen die DDR, sie schmerzte den Trainer am meisten. Er habe nie einen Menschen gesehen wie Helmut Schön in der Kabine nach diesem Vorrundenspiel bei der Fußball-WM 1974, erzählt Berti Vogts in der neuen Biographie Bernd Beyers über den früheren Bundestrainer. "Wie er geschlagen war. Er hat auch zwei, drei Tage kaum mit uns gesprochen." Die folgenden Tage in Malente (die angebliche Machtübernahme durch den Kapitän Franz Beckenbauer, das gequälte Gesicht des Coaches) prägten das Image Schöns nachhaltig. Weshalb dieses Kapitel eine zentrale Rolle in dem monumentalen, über 500 Seiten starken Werk einnimmt.
Dass der "Mann mit der Mütze" als Trainer am Erfolg weniger Anteil am WM-Titel habe als Sepp Herberger 1954, gelte, weiß Beyer, "bis heute als gängige Meinung" - obwohl Schön mit den Titeln 1972 (EM) und 1974 (WM) unbestritten einer der erfolgreichsten Trainer überhaupt ist. Den pauschalen Vorwurf, ein Zauderer zu sein, die Entscheidungen bis zur letzten Minute aufzuheben, fand der Trainer ungerecht. "Zaudern ist so ein negatives Wort", sagte Schön. "Ich bin eher für das Wort ,Gewissenhaftigkeit'."
Und tatsächlich bewies Schön, wie Beyer mit erzählerischer Dichte belegt, bei der Kaderzusammenstellung oft großen Mut. So etwa beim WM-Qualifikationsspiel in Stockholm 1965, seiner ersten Bewährungsprobe als Nachfolger Sepp Herbergers. Dort brachte er zwei Debütanten: Peter Grosser (1860 München) und Franz Beckenbauer (Bayern), der erst sechs Bundesligapartien hinter sich hatte. Und ließ außerdem Uwe Seeler spielen, dessen Einsatz nach dem just auskurierten Achillessehnenriss riskant war. Bei der EM 1972 riskierte Schön mit der Aufstellung des Duos Paul Breitner und Uli Hoeneß ebenso viel.
Fußballerisch sozialisiert wurde Schön, 1915 als Sohn eines Kunsthändlers in Dresden geboren, durch Jimmy Hogan, den legendären Coach aus Schottland, der den kultivierten Kurzpass lehrte. Die Schönheit des Spiels verkörperte Schön auch als technisch versierter Mittelstürmer. Mit dem Dresdner SC wurde er zweimal Meister, dazu schoss er 17 Tore in 16 Länderspielen. "Die Charakterisierung ,zu weich' hörte Schön", schreibt Beyer, "schon in seiner Zeit als Spieler. Gegenüber dem Trainer Schön äußerte sich diese Kritik massiver, jetzt wurde die weiche Spielweise sozusagen auf seinen Charakter übertragen, und gemeint war: Er sei nicht durchsetzungsfähig gegenüber den Spielern."
Begonnen hatte diese Trainerkarriere noch in der DDR. Am 1. Mai 1949 wurde Schön Cheftrainer der DDR-Auswahl, blieb aber ohne Länderspiel. Als Schön im Januar 1950 beim Trainerlehrgang in Köln den Kontakt zu Bundestrainer Sepp Herberger wieder aktivierte, attestierten ihm die DDR-Funktionäre "undemokratisches Verhalten" und schassten ihn. Schön wurde nun abgehört. Kurz darauf flüchtete er über Berlin nach Wiesbaden.
Es folgten Jahre, in denen ihn Existenzängste plagten. Im Frühjahr 1952 wollte Schön ein Angebot des aufstrebenden 1. FC Köln annehmen, als ihn der Chef des Saarländischen Fußball-Bundes (SFB), Hermann Neuberger, als Verbandstrainer engagierte. Sein zweiter Job als Nationaltrainer (das Saarland war bis 1955 autonom) geriet zur Startrampe für seine Karriere im Deutschen Fußball-Bund (DFB): 1956 zum Assistenten Herbergers ernannt, bestimmte ihn der DFB 1962 zum Nachfolger - weshalb Schön, als Cheftrainer dreier deutscher Nationalteams, wie kein anderer die Nachkriegsgeschichte des deutschen Fußballs repräsentiert.
Der spektakuläre Stil jener Mannschaft um Beckenbauer und Günter Netzer, die 1972 erstmals in Wembley siegte und rauschhaft zum EM-Titel stürmte, legte die Messlatte für die WM 1974 hoch. Der Druck war extrem für Schön, und auch die Konflikte zwischen den selbstbewussten DFB-Funktionären und den zunehmend selbstbewussten Profis, die sich im Ausschluss der Spielerfrauen beim WM-Bankett wie auch beim Poker um Prämien äußerten, setzten ihm zu. Er hegte Rücktrittsgedanken. "Und wovon sollen wir leben?", fragte bang seine Frau.
Schön machte weiter. Einen würdigen Abschluss seiner Zeit bei der WM 1978 verhinderte nicht zuletzt DFB-Präsident Neuberger. "Der Pate" (Beyer) habe sich in die Belange Schöns eingemischt wie kein anderer DFB-Funktionär und beispielsweise die WM-Teilnahme der Legionäre Beckenbauer, Breitner und Uli Stielike verhindert (weil Neuberger nur Profis aus deutschen Klubs wollte). Als Neuberger während der WM 1978 Schön noch falsches Training vorwarf, kam es zum Zerwürfnis: "Das hat mich tief getroffen."
Speziell dieses Kapitel zählt zu den interessantesten. Niemand hat diesen Prozess der Professionalisierung im deutschen Fußball der siebziger Jahre bisher eindrucksvoller seziert als Beyer. Aber auch für viele andere Kapitel des deutschen Nachkriegsfußballs taugt diese wunderbare Biographie Schöns als exzellente Folie.
ERIK EGGERS
Bernd-M. Beyer: Helmut Schön. Eine Biografie. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2016, 508 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2017Der Tollkühne mit der Mütze
Er fegte das Defensivspiel von der Taktiktafel und erfand den Hochgeschwindigkeitsfußball: Bernd-M. Beyer hat eine brillante, längst überfällige Biografie über Helmut Schön geschrieben
Alle und alles in Listen zu klassifizieren, ist bekanntlich ein beliebtes Gesellschaftsspielchen. Wetten, dass also pünktlich zum WM-Jahr 2018 die Frage nach dem besten, dem erfolgreichsten Bundestrainer „aller Zeiten“ auftauchen wird. Eh klar, der Löw ist’s, der aktuelle Weltmeister. Nein? Na gut, äh, der Beckenbauer halt, der alte Weltmeister. Auch nicht? Dann der Herberger, der uralte Weltmeister! Nix da, schon wieder falsch. Also: Der beste, erfolgreichste Bundestrainer ist einer aus den Schwarz-Weiß-Jahren des Fernsehens, Helmut Schön, ein Mann, der von der Flut der Jahrzehnte, der Ereignisse und Bilder verschluckt und somit fast vergessen ist.
Dass sich an ihn nur noch die Älteren erinnern, ist angesichts seiner Leistungen kaum verständlich, schließlich hat Schön deutlich mehr vorzuweisen als die bekannteren Kollegen: Weltmeister 1974, Europameister 1972, Zweiter bei der WM ’66, WM-Dritter ’70, bloß EM-Zweiter ’76 nur deshalb, weil Hoeneß den entscheidenden Strafstoß von einem Belgrader Elfmeterpunkt aus Richtung Karpaten ballerte. Dass niemand in den vergangenen 40 Jahren auf die Idee gekommen ist, über diesen feinsinnigen Erfolgsgentleman und sein wechselvolles Leben ein Buch zu schreiben, ist unverständlich; geradezu absurd ist das vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Trainer-Biografien über, mit Verlaub, etwas weniger markante Persönlichkeiten wie Peter Neururer, Dragoslav Stepanovic, Huub Stevens oder Bernd Schröder den Buchmarkt überschwemmten.
Diesen groben Fehler hat Bernd-M. Beyer nun korrigiert. Beyer ist Cheflektor des renommierten Göttinger Werkstatt-Verlags gewesen und hat in dieser Eigenschaft etliche großartige Bücher herausgebracht, beispielsweise „Das goldene Buch der Fußball-Weltmeisterschaft“. Einen viel beachteten Roman über den jüdischen Fußballpionier Walter Bensemann, der den Fußball als Mittel der Völkerverständigung in Deutschland etablierte, hat er selbst geschrieben. Sein Meisterwerk aber ist zweifellos „Helmut Schön. Eine Biografie“. Es ist elegant geschrieben, exzellent recherchiert, und bietet auf mehr als 500 Seiten – von denen nicht eine langweilt – eine Unmenge bislang unbekannter Details. Am Ende des Buches fragt man sich, wie ein derart spannender Stoff so lange unentdeckt bleiben konnte.
Helmut Schön kam 1915 als Sohn eines liberalen Dresdener Kunsthändlers auf die Welt, Unterstützung erfuhr der junge Kicker durch die Mutter. Sein sportlicher Ziehvater war der schottische Trainer Jimmy Hogan, ein früher Vorgänger des Kurzpass-Apologeten Pep Guardiola. Mit dem Dresdener SC wurde der hochgewachsene, der technisch beschlagene Stürmer zweimal deutscher Meister, für die Nationalelf erzielte er in 16 Länderspielen 17 Tore – und liegt mit einer Quote von 1,06 Treffern pro Spiel nur ein Törchen hinter dem unübertrefflichen Gerd Müller (1,10). Weitere Erfolge verhinderte ein instabiles, extrem verletzungsanfälliges Knie, das ihn immer wieder zu quälend langen Pausen zwang und ihm beim Reichstrainer Sepp Herberger, der Presse und den Zuschauern den – ungerechtfertigten – Ruf eines Weicheis eintrug. In seiner sächsischen Heimat sagte man: „E dirregder Lewe is’ er nich.“ Die Schmähung sollte ihn ein Leben lang begleiten.
Schöns Karriere begann in einer Diktatur und ging über in die nächste. Als Spieler mogelte er sich durch Hitlers Tausendjähriges Reich, ein Nazi war er nie, engster Freund der Familie Schön war der jüdische Verleger Max Wollf, der sich umbrachte, ehe er deportiert werden konnte. Schöns Laufbahn als Trainer begann im Sozialismus, oder was man in der DDR dafür hielt. Auch hier schwamm er mit, wurde sogar Nationaltrainer, aber schließlich wegen „undemokratischen Verhaltens“ gefeuert, als er während eines Trainerlehrgangs in Köln den Kontakt zu Sepp Herberger aufnahm. Bevor es ihm richtig ans Leder ging, floh Schön in die neudemokratische Bundesrepublik.
Als Landestrainer des seinerzeit autonomen Saarlands erwarb Schön erste Meriten, Herberger machte ihn 1956 zu seinem ersten Assistenten. Acht Jahre später wurde „der Mann mit der Mütze“, wie ihn der Chansonnier Udo Jürgens später besang, Nachfolger des Alten von der Bergstraße. Herbergers Sticheleien nervten ihn zusehends, vor allem der ewige Vorwurf, ein Zauderer und übersensibler Spielerversteher zu sein. Das weckte Animositäten auch in Stadien und Pressehäusern. Dabei hatte Helmut Schön nur den autoritären Führungsstil der Adenauer-Ära ad acta gelegt, er machte sich Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ zu eigen, gab den Spielern Mitsprache und ließ Strategen wie Beckenbauer, Netzer oder Overath freie Hand auf dem Rasen. Schöns Vorliebe für Theater und Oper rundete das Zerrbild des weltfremden Intellektuellen und Zweiflers ab.
Dabei bewies der Bundestrainer, wie Bernd-M. Beyer belegt, in kritischen Situationen Mut bis an den Rand der Tollkühnheit. Er fegte die defensiv geprägte Spielanlage Herbergers von der Taktiktafel und verordnete erfrischenden Offensiv-Fußball. In einem WM-Qualifikationsspiel in Schweden, bei dem es für Schön um Kopf und Kragen ging, ließ er den Debütanten Franz Beckenbauer mit der Erfahrung von gerade mal sechs Bundesligaspielen Regie führen. Auch Uwe Seeler lieferte eine große Partie in seinem ersten Länderspiel nach halbjähriger Pause wegen eines Achillessehnenrisses. Schön hatte ihn aufgestellt, obwohl die halbe Nation und besonders die Ärzte-Phalanx die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Denn noch nie war bis dahin jemand mit so einer gravierenden Verletzung in den Profifußball zurückgekehrt. Seeler schoss das entscheidende Tor zum 2:1.
1972 brachte Schön in Breitner und Hoeneß zwei Milchbärte ausgerechnet gegen die ausgefuchsten Engländer, ausgerechnet im altehrwürdigen Wembley, worauf Experten den fußballerischen Weltuntergang prophezeiten. Heraus kam ein legendärer 3:1-Sieg in einem fulminanten Match, das von der französischen Sportzeitung L’Equipe als „Fußball aus dem Jahr 2000“ gerühmt wurde. Übrigens zirkulierte der Ball mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 2,9 Metern pro Sekunde durch die deutschen Reihen, ein Wert, dem selbst der heutige Hochgeschwindigkeitsfußball Hochachtung zollen würde. Bis heute konkurriert dieses Spiel mit dem 7:1 gegen Brasilien bei der WM 2014 um Platz eins in der ewigen Hitparade der brillantesten Länderspiele.
Autor Bernd-M. Beyer hätte sich mit Schöns Lebenslauf und seinen sportlichen Daten begnügen können, es wäre immer noch ein interessantes Buch dabei herausgekommen. Seinen besonderen Reiz gewinnt es jedoch dadurch, dass es die Karriere des deutschen Fußballs von der Balltreterei einer geächteten Randgruppe zum Volkssport und Business-Spektakel nachzeichnet. Und ganz nebenbei öffnet das Werk einen faszinierenden Blick auf sechs Jahrzehnte deutscher Geschichte und extrem unterschiedliche Staatsformen. Die Deutsche Akademie für Fußballkultur hat es sehr zu Recht als Fußballbuch des Jahres geadelt.
LUDGER SCHULZE
Schön liebte Theater, Oper
und legte den autoritären
Stil der Adenauer-Ära ad acta
Der Spielerversteher: Bundestrainer Helmut Schön ließ seinen Strategen wie Franz Beckenbauer freie Hand auf dem Rasen.
Foto: Imago
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Er fegte das Defensivspiel von der Taktiktafel und erfand den Hochgeschwindigkeitsfußball: Bernd-M. Beyer hat eine brillante, längst überfällige Biografie über Helmut Schön geschrieben
Alle und alles in Listen zu klassifizieren, ist bekanntlich ein beliebtes Gesellschaftsspielchen. Wetten, dass also pünktlich zum WM-Jahr 2018 die Frage nach dem besten, dem erfolgreichsten Bundestrainer „aller Zeiten“ auftauchen wird. Eh klar, der Löw ist’s, der aktuelle Weltmeister. Nein? Na gut, äh, der Beckenbauer halt, der alte Weltmeister. Auch nicht? Dann der Herberger, der uralte Weltmeister! Nix da, schon wieder falsch. Also: Der beste, erfolgreichste Bundestrainer ist einer aus den Schwarz-Weiß-Jahren des Fernsehens, Helmut Schön, ein Mann, der von der Flut der Jahrzehnte, der Ereignisse und Bilder verschluckt und somit fast vergessen ist.
Dass sich an ihn nur noch die Älteren erinnern, ist angesichts seiner Leistungen kaum verständlich, schließlich hat Schön deutlich mehr vorzuweisen als die bekannteren Kollegen: Weltmeister 1974, Europameister 1972, Zweiter bei der WM ’66, WM-Dritter ’70, bloß EM-Zweiter ’76 nur deshalb, weil Hoeneß den entscheidenden Strafstoß von einem Belgrader Elfmeterpunkt aus Richtung Karpaten ballerte. Dass niemand in den vergangenen 40 Jahren auf die Idee gekommen ist, über diesen feinsinnigen Erfolgsgentleman und sein wechselvolles Leben ein Buch zu schreiben, ist unverständlich; geradezu absurd ist das vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Trainer-Biografien über, mit Verlaub, etwas weniger markante Persönlichkeiten wie Peter Neururer, Dragoslav Stepanovic, Huub Stevens oder Bernd Schröder den Buchmarkt überschwemmten.
Diesen groben Fehler hat Bernd-M. Beyer nun korrigiert. Beyer ist Cheflektor des renommierten Göttinger Werkstatt-Verlags gewesen und hat in dieser Eigenschaft etliche großartige Bücher herausgebracht, beispielsweise „Das goldene Buch der Fußball-Weltmeisterschaft“. Einen viel beachteten Roman über den jüdischen Fußballpionier Walter Bensemann, der den Fußball als Mittel der Völkerverständigung in Deutschland etablierte, hat er selbst geschrieben. Sein Meisterwerk aber ist zweifellos „Helmut Schön. Eine Biografie“. Es ist elegant geschrieben, exzellent recherchiert, und bietet auf mehr als 500 Seiten – von denen nicht eine langweilt – eine Unmenge bislang unbekannter Details. Am Ende des Buches fragt man sich, wie ein derart spannender Stoff so lange unentdeckt bleiben konnte.
Helmut Schön kam 1915 als Sohn eines liberalen Dresdener Kunsthändlers auf die Welt, Unterstützung erfuhr der junge Kicker durch die Mutter. Sein sportlicher Ziehvater war der schottische Trainer Jimmy Hogan, ein früher Vorgänger des Kurzpass-Apologeten Pep Guardiola. Mit dem Dresdener SC wurde der hochgewachsene, der technisch beschlagene Stürmer zweimal deutscher Meister, für die Nationalelf erzielte er in 16 Länderspielen 17 Tore – und liegt mit einer Quote von 1,06 Treffern pro Spiel nur ein Törchen hinter dem unübertrefflichen Gerd Müller (1,10). Weitere Erfolge verhinderte ein instabiles, extrem verletzungsanfälliges Knie, das ihn immer wieder zu quälend langen Pausen zwang und ihm beim Reichstrainer Sepp Herberger, der Presse und den Zuschauern den – ungerechtfertigten – Ruf eines Weicheis eintrug. In seiner sächsischen Heimat sagte man: „E dirregder Lewe is’ er nich.“ Die Schmähung sollte ihn ein Leben lang begleiten.
Schöns Karriere begann in einer Diktatur und ging über in die nächste. Als Spieler mogelte er sich durch Hitlers Tausendjähriges Reich, ein Nazi war er nie, engster Freund der Familie Schön war der jüdische Verleger Max Wollf, der sich umbrachte, ehe er deportiert werden konnte. Schöns Laufbahn als Trainer begann im Sozialismus, oder was man in der DDR dafür hielt. Auch hier schwamm er mit, wurde sogar Nationaltrainer, aber schließlich wegen „undemokratischen Verhaltens“ gefeuert, als er während eines Trainerlehrgangs in Köln den Kontakt zu Sepp Herberger aufnahm. Bevor es ihm richtig ans Leder ging, floh Schön in die neudemokratische Bundesrepublik.
Als Landestrainer des seinerzeit autonomen Saarlands erwarb Schön erste Meriten, Herberger machte ihn 1956 zu seinem ersten Assistenten. Acht Jahre später wurde „der Mann mit der Mütze“, wie ihn der Chansonnier Udo Jürgens später besang, Nachfolger des Alten von der Bergstraße. Herbergers Sticheleien nervten ihn zusehends, vor allem der ewige Vorwurf, ein Zauderer und übersensibler Spielerversteher zu sein. Das weckte Animositäten auch in Stadien und Pressehäusern. Dabei hatte Helmut Schön nur den autoritären Führungsstil der Adenauer-Ära ad acta gelegt, er machte sich Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ zu eigen, gab den Spielern Mitsprache und ließ Strategen wie Beckenbauer, Netzer oder Overath freie Hand auf dem Rasen. Schöns Vorliebe für Theater und Oper rundete das Zerrbild des weltfremden Intellektuellen und Zweiflers ab.
Dabei bewies der Bundestrainer, wie Bernd-M. Beyer belegt, in kritischen Situationen Mut bis an den Rand der Tollkühnheit. Er fegte die defensiv geprägte Spielanlage Herbergers von der Taktiktafel und verordnete erfrischenden Offensiv-Fußball. In einem WM-Qualifikationsspiel in Schweden, bei dem es für Schön um Kopf und Kragen ging, ließ er den Debütanten Franz Beckenbauer mit der Erfahrung von gerade mal sechs Bundesligaspielen Regie führen. Auch Uwe Seeler lieferte eine große Partie in seinem ersten Länderspiel nach halbjähriger Pause wegen eines Achillessehnenrisses. Schön hatte ihn aufgestellt, obwohl die halbe Nation und besonders die Ärzte-Phalanx die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Denn noch nie war bis dahin jemand mit so einer gravierenden Verletzung in den Profifußball zurückgekehrt. Seeler schoss das entscheidende Tor zum 2:1.
1972 brachte Schön in Breitner und Hoeneß zwei Milchbärte ausgerechnet gegen die ausgefuchsten Engländer, ausgerechnet im altehrwürdigen Wembley, worauf Experten den fußballerischen Weltuntergang prophezeiten. Heraus kam ein legendärer 3:1-Sieg in einem fulminanten Match, das von der französischen Sportzeitung L’Equipe als „Fußball aus dem Jahr 2000“ gerühmt wurde. Übrigens zirkulierte der Ball mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 2,9 Metern pro Sekunde durch die deutschen Reihen, ein Wert, dem selbst der heutige Hochgeschwindigkeitsfußball Hochachtung zollen würde. Bis heute konkurriert dieses Spiel mit dem 7:1 gegen Brasilien bei der WM 2014 um Platz eins in der ewigen Hitparade der brillantesten Länderspiele.
Autor Bernd-M. Beyer hätte sich mit Schöns Lebenslauf und seinen sportlichen Daten begnügen können, es wäre immer noch ein interessantes Buch dabei herausgekommen. Seinen besonderen Reiz gewinnt es jedoch dadurch, dass es die Karriere des deutschen Fußballs von der Balltreterei einer geächteten Randgruppe zum Volkssport und Business-Spektakel nachzeichnet. Und ganz nebenbei öffnet das Werk einen faszinierenden Blick auf sechs Jahrzehnte deutscher Geschichte und extrem unterschiedliche Staatsformen. Die Deutsche Akademie für Fußballkultur hat es sehr zu Recht als Fußballbuch des Jahres geadelt.
LUDGER SCHULZE
Schön liebte Theater, Oper
und legte den autoritären
Stil der Adenauer-Ära ad acta
Der Spielerversteher: Bundestrainer Helmut Schön ließ seinen Strategen wie Franz Beckenbauer freie Hand auf dem Rasen.
Foto: Imago
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