Der oberste Verfassungsrichter Helmut Simon, einstiger Bauernbub, hat sich ohneGrenzen engagiert: für die Bruderschaften, für die Friedensbewegung, gegen Atomwaffenund für die Ökumene. Zahlreiche Ehrenämter hat er zusätzlich angenommen.Selbst in hochpolitischen Zeiten gelang es dem Kirchentagspräsidenten, einen brodelndenHexenkessel in ein friedfertiges Auditorium zu verwandeln.Über zwei Jahre lang kamen Almut und Wolf Röse regelmäßig mit Helmut Simonzusammen. Stundenlange Interviews, Ordner voller Briefe - von Johannes Rau überWolfgangSchäuble bis hin zu Roman Herzog, von Richterkollegen und Freunden-, eng geschriebene Lebensskizzen sowie Tagebucheinträge hat das Autorenpaarausgewertet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2012Der gute Mann von Karlsruhe
Durch eine Sauna-Bekanntschaft ist ein Buch über den Verfassungsrichter Helmut Simon entstanden - und so liest es sich auch / Von Martin Otto
Die Biographie des Juristen Helmut Simon, der am Neujahrstag dieses Jahres das neunzigste Lebensjahr vollendete, nötigt auch demjenigen großen Respekt ab, der Simons pointierte linksprotestantische Ansichten nicht alle teilt. Geboren in einfachen bäuerlichen Verhältnissen des Bergischen Landes, macht er als Erster in der Familie das Abitur. Während des Zweiten Weltkriegs wird er zur Marine eingezogen; zuletzt ist er bei der Bordflak Oberleutnant zur See. Er studiert ab 1945 Jura in Bonn und evangelische Theologie in Basel; die Begegnung mit Karl Barth prägt ihn für sein Leben. Nach der Promotion 1953 beginnt eine Juristenkarriere aus dem Bilderbuch: Richter am Landgericht Düsseldorf, 1958 "wissenschaftlicher Hilfsarbeiter" am Bundesgerichtshof, 1960 Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, 1965 Richter am Bundesgerichtshof, 1970 Bundesverfassungsrichter. Das bleibt er als Mitglied des Ersten Senats bis 1987; zu den zahlreichen Entscheidungen, an denen er beteiligt war, gehört die "Brokdorf"-Entscheidung 1985, mit der die Versammlungsfreiheit gestärkt wurde.
Doch die Aufzählung wäre unvollständig ohne das große gesellschaftliche Engagement in der evangelischen Kirche, so von 1987 bis 1989 als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Dass eine so herausragende Richterpersönlichkeit eine Biographie verdient, bedarf keiner weiteren Diskussion. Dass dabei auch eine subjektive Perspektive reizvoll sein kann, hat Simons Richterkollege Ernst-Wolfgang Böckenförde bewiesen, von dem ein lesenswertes biographisches Interview erschien. Bei Helmut Simon wurde ein anderer Weg gewählt, nämlich die "autorisierte Biographie". Dieses Genre ist gewöhnlich eher zweifelhaften Prominenten und Politikern vorbehalten. Vielleicht hat man sich im, der evangelischen Kirche eng verbundenen Berliner Wichern-Verlag aber auch gar nichts dabei gedacht. Dieses Gefühl wird den Leser während der Lektüre nicht verlassen. Man erfährt ziemlich früh, dass Helmut Simon bislang unveröffentlichte Lebenserinnerungen verfasst hat. Die "autorisierte Biographie" ist aber größtenteils, wie das Autorenpaar freimütig einräumt, nach einer Sauna-Bekanntschaft mit Helmut Simon entstanden. Aus ihrer Bewunderung für Simon machen die Autoren kein Geheimnis. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch manchmal wäre weniger mehr gewesen.
Warum muss die von Simon mitverfasste brandenburgische Landesverfassung von 1992 in einem zweifelhaften Superlativ, der unschöne Erinnerungen weckt, ganz unironisch als "freiheitlichste aller Landesverfassungen" bezeichnet werden? Andernorts heißt es, die Grundrechte in Weimar seien nur Programmsätze gewesen; das ist in der Form einfach falsch. Die Autoren sind keine Juristen und kommen aus der Freiburger "Kreativbranche"; sie wollen Simon als den Antityp des kalten Karrierejuristen, als warmherzigen "Querkopf", darstellen. Es gibt viele Einblicke in die Familie Simon, die oft besser dort geblieben wären, so der drollige Spruch eines Enkels, mit seinem Opa "als Skelett schmusen" zu wollen. Das Bild des "guten Mannes von Karlsruhe" führt zu unfreiwillig komischen Verrenkungen, wenn etwa beschrieben wird, wie Simons in einem Sommerurlaub 1974 "Bundespräsident" üben oder er trotz schweren Gewissenskämpfen das Bundesverdienstkreuz annimmt oder der SPD beitritt. Über die Wehrmacht liest man, offenbar Simons Schilderung folgend, fast nur Gutes; an Bord gibt es "kritischere Töne", und zudem lernt er in der Offiziersmesse den rechten Umgang mit Messer und Gabel.
Ärgerlich wird der gewollt "lockere" Ton des Buches dann, wenn zeithistorische Exkurse versucht werden. Da wird Konrad Adenauer zu einem "ungekrönten absolutistischen Monarchen", für den es "keine wirkliche Freiheit von Wissenschaft und Kunst gab", dessen "Demokratieverständnis eher rudimentär" war und der "eher eine Nachkriegspolitik nach Gutsherrenart betrieben hatte". "Ein Herr Lemmer" wird zu jemandem, der 1968 die Berliner aufhetzt - wissen die Autoren nicht, dass Ernst Lemmer einer der schärfsten deutschlandpolitischen Kritiker von Konrad Adenauer in der CDU war, zudem ein Freund Gustav Heinemanns? Dass Hans Globke für die Verschärfung der Nürnberger Gesetze eingetreten sei, ist so auch nicht zutreffend, obwohl Globke sicher kein Widerstandskämpfer war. Richtig ärgerlich ist es aber, wenn seitenweise pseudowissenschaftliche Zahlenspielereien betrieben werden, welche Bedeutung etwa die Quersumme von Simons Geburtsdatum haben könne. Und anderes dafür ausgespart bleibt. Seinen Doktorvater, wahrscheinlich der Staatskirchenrechtler Ulrich Scheuner, erfährt man nicht. Auch andere Juristen wie Ernst Friesenhahn oder Richard Thoma kommen über die Rolle von Statisten nicht hinaus, wahrscheinlich, weil die Namen den Autoren nichts sagen (aus dem Bundesjustizminister Hans Engelhard wird dafür Horst Engelhard).
Simon war als Richter lange zuständig für Urheberrecht und gewerblichen Rechtsschutz; er hat auch dazu veröffentlicht. Das wird nur ganz am Rand gestreift und auf eine Blödel-Ebene gehoben; Simon bringt Miederwarenmuster nach Hause oder "widmete sich der künstlerischen Eigenart des Igels Mecki". Spätestens seit der Piratenpartei wäre es wirklich interessant zu wissen, was Helmut Simon zum Urheberrecht sagt. Teilweise, wenn Simon auch einmal zu Wort kommt, wird es interessant. Mit dem konservativen BGH-Präsidenten Hermann Weinkauff und dem sehr konservativen Bundesverfassungsrichter Gebhard Müller verstand sich Simon sehr gut, ebenso mit Roman Herzog und am meisten mit Heiner Geißler, was Helmut Kohl (noch als Ministerpräsident) mit "da kommen die beiden Linken" kommentierte. Von Rupert Scholz, auch ein engagierter Protestant, hält Simon weniger; da hätte man gerne mehr gewusst. Immerhin wird dem Leser deutlich, dass Helmut Simon über ein Charisma verfügt, dem man sich schwer entziehen kann. Und zudem ist er ein guter Jurist. Dazu gehört auch die präzise Fragestellung. Simons erste Frage an die Autoren, als er vom Biographievorhaben hörte, lautete: "Und was befähigt Sie dazu?" Das fragt man sich nach der Lektüre auch.
Almut und Wolf Röse, Helmut Simon. Recht bändigt Gewalt. Eine autorisierte Biographie. Wichern-Verlag, Berlin 2011, 29, 90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Durch eine Sauna-Bekanntschaft ist ein Buch über den Verfassungsrichter Helmut Simon entstanden - und so liest es sich auch / Von Martin Otto
Die Biographie des Juristen Helmut Simon, der am Neujahrstag dieses Jahres das neunzigste Lebensjahr vollendete, nötigt auch demjenigen großen Respekt ab, der Simons pointierte linksprotestantische Ansichten nicht alle teilt. Geboren in einfachen bäuerlichen Verhältnissen des Bergischen Landes, macht er als Erster in der Familie das Abitur. Während des Zweiten Weltkriegs wird er zur Marine eingezogen; zuletzt ist er bei der Bordflak Oberleutnant zur See. Er studiert ab 1945 Jura in Bonn und evangelische Theologie in Basel; die Begegnung mit Karl Barth prägt ihn für sein Leben. Nach der Promotion 1953 beginnt eine Juristenkarriere aus dem Bilderbuch: Richter am Landgericht Düsseldorf, 1958 "wissenschaftlicher Hilfsarbeiter" am Bundesgerichtshof, 1960 Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, 1965 Richter am Bundesgerichtshof, 1970 Bundesverfassungsrichter. Das bleibt er als Mitglied des Ersten Senats bis 1987; zu den zahlreichen Entscheidungen, an denen er beteiligt war, gehört die "Brokdorf"-Entscheidung 1985, mit der die Versammlungsfreiheit gestärkt wurde.
Doch die Aufzählung wäre unvollständig ohne das große gesellschaftliche Engagement in der evangelischen Kirche, so von 1987 bis 1989 als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Dass eine so herausragende Richterpersönlichkeit eine Biographie verdient, bedarf keiner weiteren Diskussion. Dass dabei auch eine subjektive Perspektive reizvoll sein kann, hat Simons Richterkollege Ernst-Wolfgang Böckenförde bewiesen, von dem ein lesenswertes biographisches Interview erschien. Bei Helmut Simon wurde ein anderer Weg gewählt, nämlich die "autorisierte Biographie". Dieses Genre ist gewöhnlich eher zweifelhaften Prominenten und Politikern vorbehalten. Vielleicht hat man sich im, der evangelischen Kirche eng verbundenen Berliner Wichern-Verlag aber auch gar nichts dabei gedacht. Dieses Gefühl wird den Leser während der Lektüre nicht verlassen. Man erfährt ziemlich früh, dass Helmut Simon bislang unveröffentlichte Lebenserinnerungen verfasst hat. Die "autorisierte Biographie" ist aber größtenteils, wie das Autorenpaar freimütig einräumt, nach einer Sauna-Bekanntschaft mit Helmut Simon entstanden. Aus ihrer Bewunderung für Simon machen die Autoren kein Geheimnis. Dagegen ist nichts einzuwenden, doch manchmal wäre weniger mehr gewesen.
Warum muss die von Simon mitverfasste brandenburgische Landesverfassung von 1992 in einem zweifelhaften Superlativ, der unschöne Erinnerungen weckt, ganz unironisch als "freiheitlichste aller Landesverfassungen" bezeichnet werden? Andernorts heißt es, die Grundrechte in Weimar seien nur Programmsätze gewesen; das ist in der Form einfach falsch. Die Autoren sind keine Juristen und kommen aus der Freiburger "Kreativbranche"; sie wollen Simon als den Antityp des kalten Karrierejuristen, als warmherzigen "Querkopf", darstellen. Es gibt viele Einblicke in die Familie Simon, die oft besser dort geblieben wären, so der drollige Spruch eines Enkels, mit seinem Opa "als Skelett schmusen" zu wollen. Das Bild des "guten Mannes von Karlsruhe" führt zu unfreiwillig komischen Verrenkungen, wenn etwa beschrieben wird, wie Simons in einem Sommerurlaub 1974 "Bundespräsident" üben oder er trotz schweren Gewissenskämpfen das Bundesverdienstkreuz annimmt oder der SPD beitritt. Über die Wehrmacht liest man, offenbar Simons Schilderung folgend, fast nur Gutes; an Bord gibt es "kritischere Töne", und zudem lernt er in der Offiziersmesse den rechten Umgang mit Messer und Gabel.
Ärgerlich wird der gewollt "lockere" Ton des Buches dann, wenn zeithistorische Exkurse versucht werden. Da wird Konrad Adenauer zu einem "ungekrönten absolutistischen Monarchen", für den es "keine wirkliche Freiheit von Wissenschaft und Kunst gab", dessen "Demokratieverständnis eher rudimentär" war und der "eher eine Nachkriegspolitik nach Gutsherrenart betrieben hatte". "Ein Herr Lemmer" wird zu jemandem, der 1968 die Berliner aufhetzt - wissen die Autoren nicht, dass Ernst Lemmer einer der schärfsten deutschlandpolitischen Kritiker von Konrad Adenauer in der CDU war, zudem ein Freund Gustav Heinemanns? Dass Hans Globke für die Verschärfung der Nürnberger Gesetze eingetreten sei, ist so auch nicht zutreffend, obwohl Globke sicher kein Widerstandskämpfer war. Richtig ärgerlich ist es aber, wenn seitenweise pseudowissenschaftliche Zahlenspielereien betrieben werden, welche Bedeutung etwa die Quersumme von Simons Geburtsdatum haben könne. Und anderes dafür ausgespart bleibt. Seinen Doktorvater, wahrscheinlich der Staatskirchenrechtler Ulrich Scheuner, erfährt man nicht. Auch andere Juristen wie Ernst Friesenhahn oder Richard Thoma kommen über die Rolle von Statisten nicht hinaus, wahrscheinlich, weil die Namen den Autoren nichts sagen (aus dem Bundesjustizminister Hans Engelhard wird dafür Horst Engelhard).
Simon war als Richter lange zuständig für Urheberrecht und gewerblichen Rechtsschutz; er hat auch dazu veröffentlicht. Das wird nur ganz am Rand gestreift und auf eine Blödel-Ebene gehoben; Simon bringt Miederwarenmuster nach Hause oder "widmete sich der künstlerischen Eigenart des Igels Mecki". Spätestens seit der Piratenpartei wäre es wirklich interessant zu wissen, was Helmut Simon zum Urheberrecht sagt. Teilweise, wenn Simon auch einmal zu Wort kommt, wird es interessant. Mit dem konservativen BGH-Präsidenten Hermann Weinkauff und dem sehr konservativen Bundesverfassungsrichter Gebhard Müller verstand sich Simon sehr gut, ebenso mit Roman Herzog und am meisten mit Heiner Geißler, was Helmut Kohl (noch als Ministerpräsident) mit "da kommen die beiden Linken" kommentierte. Von Rupert Scholz, auch ein engagierter Protestant, hält Simon weniger; da hätte man gerne mehr gewusst. Immerhin wird dem Leser deutlich, dass Helmut Simon über ein Charisma verfügt, dem man sich schwer entziehen kann. Und zudem ist er ein guter Jurist. Dazu gehört auch die präzise Fragestellung. Simons erste Frage an die Autoren, als er vom Biographievorhaben hörte, lautete: "Und was befähigt Sie dazu?" Das fragt man sich nach der Lektüre auch.
Almut und Wolf Röse, Helmut Simon. Recht bändigt Gewalt. Eine autorisierte Biographie. Wichern-Verlag, Berlin 2011, 29, 90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass und wie die Verfassungsrechtssprechung die gesellschaftliche Entwicklung positiv beeinflussen kann, wird Reinhard Gaier wieder klar, als er die in diesem Buch enthaltenen "Lebensskizzen" des langjährigen Buundesverfassungsrichters Helmut Simon liest. Die von Almut Röse und Wolf Röse besorgte Biografie Simons selbst, gibt er zu, steckt voller Mängel (welche, will er hier nicht sagen!). Simons prinzipielle Ausführungen zur Verfassung jedoch, so versichert der Rezensent, lohnen allein, das Buch zur Hand zu nehmen. Unter anderem, erklärt er, um zu sehen und zu staunen, wie sich parteipolitisches Engagement (Simon war überzeugter Sozialdemokrat) und unabhängige Rechtsprechung miteinander vertragen können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.10.2012Auch ein Jurist darf politisch denken
Ein wunderbarer Anhang zu einer misslungenen Biografie: Die „Lebensskizzen“ des ehemaligen Verfassungsrichters Helmut Simon
Helmut Simon war nahezu 18 Jahre – von 1970 bis 1987 – Richter des Bundesverfassungsgerichts. Über ihn, der Anfang dieses Jahres seinen neunzigsten Geburtstag beging, ist im Februar eine „autorisierte Biografie“ erschienen. Vor einigen Wochen hat der Rechtswissenschaftler Martin Otto in einem Zeitungsartikel zahlreiche Fehler und Defizite des Buches aufgezeigt. Damit hat er recht. Den Autoren, Almut und Wolf Röse, mag, wer großzügig ist, die Mängel nachsehen, die bisweilen zu unfreiwilliger Komik führen. Sie sind keine Juristen und gestehen zudem freimütig ein, mit diesem Buch ihr „literarisches Debüt“ zu geben. Keine Nachsicht verdient hingegen der Verlag, der das Buchprojekt, wenn überhaupt, allenfalls nachlässig betreut hat. Helmut Simon hätte Besseres verdient.
Trotzdem sollte man zu diesem Buch greifen und es nicht verärgert vorschnell aus der Hand legen. Es zu lesen lohnt sich – und dies ist als nachdrückliche Empfehlung zu verstehen. Denn in dem Buch ist ein wahrer Schatz verborgen: die von Helmut Simon selbst verfassten „Lebensskizzen“. Hier erfährt man in klarer Sprache, welche Prinzipien den großen Verfassungsrechtler bei seiner richterlichen Tätigkeit leiteten. Es ist ein zutiefst humanistisches Menschenbild, gespeist aus den Gedanken eines entschlossenen Christen und eines überzeugten Sozialdemokraten. In Helmut Simons Leben und Werk mischen sich beide Quellen zu einem Strom, der die miefigen, freiheitsabgewandten Positionen der ersten Nachkriegsjahrzehnte ebenso zur Seite schiebt wie den damit einhergehenden, so Simons Worte, „erbarmungslosen Leistungs- und Selektionsdruck“.
Als charakterfeste Persönlichkeit hat Helmut Simon seine Standpunkte nicht nur juristisch überzeugend begründet, sondern auch aufrecht gegen viele Widerstände und persönliche Angriffe verteidigt. Er hat gezeigt, dass die Entscheidung für eine politische Partei alles andere als die willentliche Aufgabe oder gar den zwangsweisen Verlust richterlicher Unabhängigkeit bedeutet. Wer wie Helmut Simon seine richterlichen Pflichten kennt und um seine Verantwortung im demokratischen Rechtsstaat weiß, diese ernst nimmt und beachtet, ist niemals als Parteisoldat dem tagespolitischen Geschäft verpflichtet. Gerade in Zeiten, in denen das Überwinden von Ideologien mit Beliebigkeit verwechselt und durch ein diffuses Spiel vorgeblicher Wertekategorien ersetzt wird, ist diese Erkenntnis wichtig. Helmut Simon hat in schwierigen Zeiten zum Nutzen eines freiheitlichen, demokratischen und sozialen Staates erfolgreich gewirkt. In Zeiten, in denen sich dieses Land mit den großen Kontroversen um die neue Ostpolitik und den Schwangerschaftsabbruch (Paragraf 218 StGB), mit dem RAF-Terror, mit den Protesten gegen Nachrüstung und Atomkraftwerke auseinandersetzen musste.
Entscheidungen wie der von Helmut Simon als Berichterstatter maßgeblich getragene Brokdorf-Beschluss sind feste Bastionen gegen Angriffe auf die Freiheitsrechte unserer Verfassung. Sie tragen maßgeblich zu einem politischen Klima bei, das auch in kritischen Phasen frei von repressiven Tendenzen und illiberalen Ansätzen bleibt. Derzeit wird das Wirken des Bundesverfassungsgerichts oftmals kritisiert: Es messe, so heißt es, Europa an Kategorien vergangener Jahrhunderte. Die Lektüre der Gedanken von Helmut Simon lohnt gerade deshalb umso mehr, zeigen diese doch, dass die Verfassungsrechtsprechung unentbehrliche Beiträge zur gesellschaftlichen Fortentwicklung leisten kann.
REINHARD GAIER
Almut Röse, Wolf Röse: Helmut Simon. Recht bändigt Gewalt. Eine autorisierte Biografie. Wichern-Verlag, Berlin 2012. 404 Seiten, 29,90 Euro.
Reinhard Gaier ist seit 2004 Richter des Ersten Senats am Bundesverfassungsgericht.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein wunderbarer Anhang zu einer misslungenen Biografie: Die „Lebensskizzen“ des ehemaligen Verfassungsrichters Helmut Simon
Helmut Simon war nahezu 18 Jahre – von 1970 bis 1987 – Richter des Bundesverfassungsgerichts. Über ihn, der Anfang dieses Jahres seinen neunzigsten Geburtstag beging, ist im Februar eine „autorisierte Biografie“ erschienen. Vor einigen Wochen hat der Rechtswissenschaftler Martin Otto in einem Zeitungsartikel zahlreiche Fehler und Defizite des Buches aufgezeigt. Damit hat er recht. Den Autoren, Almut und Wolf Röse, mag, wer großzügig ist, die Mängel nachsehen, die bisweilen zu unfreiwilliger Komik führen. Sie sind keine Juristen und gestehen zudem freimütig ein, mit diesem Buch ihr „literarisches Debüt“ zu geben. Keine Nachsicht verdient hingegen der Verlag, der das Buchprojekt, wenn überhaupt, allenfalls nachlässig betreut hat. Helmut Simon hätte Besseres verdient.
Trotzdem sollte man zu diesem Buch greifen und es nicht verärgert vorschnell aus der Hand legen. Es zu lesen lohnt sich – und dies ist als nachdrückliche Empfehlung zu verstehen. Denn in dem Buch ist ein wahrer Schatz verborgen: die von Helmut Simon selbst verfassten „Lebensskizzen“. Hier erfährt man in klarer Sprache, welche Prinzipien den großen Verfassungsrechtler bei seiner richterlichen Tätigkeit leiteten. Es ist ein zutiefst humanistisches Menschenbild, gespeist aus den Gedanken eines entschlossenen Christen und eines überzeugten Sozialdemokraten. In Helmut Simons Leben und Werk mischen sich beide Quellen zu einem Strom, der die miefigen, freiheitsabgewandten Positionen der ersten Nachkriegsjahrzehnte ebenso zur Seite schiebt wie den damit einhergehenden, so Simons Worte, „erbarmungslosen Leistungs- und Selektionsdruck“.
Als charakterfeste Persönlichkeit hat Helmut Simon seine Standpunkte nicht nur juristisch überzeugend begründet, sondern auch aufrecht gegen viele Widerstände und persönliche Angriffe verteidigt. Er hat gezeigt, dass die Entscheidung für eine politische Partei alles andere als die willentliche Aufgabe oder gar den zwangsweisen Verlust richterlicher Unabhängigkeit bedeutet. Wer wie Helmut Simon seine richterlichen Pflichten kennt und um seine Verantwortung im demokratischen Rechtsstaat weiß, diese ernst nimmt und beachtet, ist niemals als Parteisoldat dem tagespolitischen Geschäft verpflichtet. Gerade in Zeiten, in denen das Überwinden von Ideologien mit Beliebigkeit verwechselt und durch ein diffuses Spiel vorgeblicher Wertekategorien ersetzt wird, ist diese Erkenntnis wichtig. Helmut Simon hat in schwierigen Zeiten zum Nutzen eines freiheitlichen, demokratischen und sozialen Staates erfolgreich gewirkt. In Zeiten, in denen sich dieses Land mit den großen Kontroversen um die neue Ostpolitik und den Schwangerschaftsabbruch (Paragraf 218 StGB), mit dem RAF-Terror, mit den Protesten gegen Nachrüstung und Atomkraftwerke auseinandersetzen musste.
Entscheidungen wie der von Helmut Simon als Berichterstatter maßgeblich getragene Brokdorf-Beschluss sind feste Bastionen gegen Angriffe auf die Freiheitsrechte unserer Verfassung. Sie tragen maßgeblich zu einem politischen Klima bei, das auch in kritischen Phasen frei von repressiven Tendenzen und illiberalen Ansätzen bleibt. Derzeit wird das Wirken des Bundesverfassungsgerichts oftmals kritisiert: Es messe, so heißt es, Europa an Kategorien vergangener Jahrhunderte. Die Lektüre der Gedanken von Helmut Simon lohnt gerade deshalb umso mehr, zeigen diese doch, dass die Verfassungsrechtsprechung unentbehrliche Beiträge zur gesellschaftlichen Fortentwicklung leisten kann.
REINHARD GAIER
Almut Röse, Wolf Röse: Helmut Simon. Recht bändigt Gewalt. Eine autorisierte Biografie. Wichern-Verlag, Berlin 2012. 404 Seiten, 29,90 Euro.
Reinhard Gaier ist seit 2004 Richter des Ersten Senats am Bundesverfassungsgericht.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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