Am 1. August 1975 wurde in Helsinki die Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnet. Die Geschichte der Ost-West-Beziehungen seit den fünfziger Jahren, der KSZE-Prozeß, die Auflösung des Warschauer Pakts, die Transformation der NATO und die neue Rolle der UNO.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.09.2000In mildem Lichte
Die Sowjetunion im Kalten Krieg: Selbst Gorbatschow ist kritischer als Wilfried Loth
Wilfried Loth: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1999. 317 Seiten, 19,90 Mark.
Der Streit um die Ursachen des Kalten Krieges ist ebenso alt wie die globale Auseinandersetzung zwischen den beiden "Supermächten" selbst. Mehrere Schulen "revisionistischer" Zeithistoriker und Politikwissenschaftler bekämpften die "traditionelle" These, die Sowjetunion habe den Konflikt durch ihre expansive Politik ausgelöst, auf die der Westen mit "containment" reagieren mußte. Nach Ansicht der Revisionisten bestanden die Konfliktursachen in den Bestrebungen der Vereinigten Staaten nach globaler wirtschaftlicher Dominanz und in der Unfähigkeit des Westens, die defensiven sowjetischen Absichten zu erkennen.
Wilfried Loth vertritt seit mehr als 20 Jahren moderat revisionistische Positionen und hat damit nicht unwesentlich die Interpretation des Kalten Krieges mitbestimmt. Sein Buch "Helsinki" bietet einen Gesamtüberblick über die Ost-West-Auseinandersetzung, insbesondere auf dem Feld der Sicherheitspolitik bis zum Zerfall des Ostblocks. Nach wie vor erscheint die Sowjetunion bei ihm in mildem Licht als unsichere, defensiv eingestellte und weitgehend entspannungsbereite Großmacht. Immer wieder ist von "sowjetischen Entspannungsoffensiven" die Rede. Als Teil einer solchen gelten Loth die Stalin-Noten von 1952, mit denen der Generalissimus vermeintlich freie Wahlen und ein neutrales Gesamtdeutschland anbot. Die damit verbundene Preisgabe des SED-Regimes wäre allerdings nicht zuletzt ein Verrat an "heiligen Gütern" des Weltkommunismus gewesen, wie Gerhard Wettig und andere zu Recht einwenden.
Auf noch brüchigeres Eis begibt sich Loth mit der Behauptung, der Ausbau der innerdeutschen Grenze und der Aufbau einer DDR-Armee seien als Defensivmaßnahmen Stalins zu verstehen, um die "offensichtlich nicht mehr zu verhindernde westdeutsche Armee in Schach" zu halten. Dagegen spricht die Tatsache, daß bereits unmittelbar im Gründungsprozeß der DDR mit der Bildung zentralgeleiteter und nach militärischen Gesichtspunkten organisierter Polizeiformationen begonnen wurde.
Kennedy wird dafür gerügt, daß er 1962 den Aufbau der sowjetischen Raketenstellungen auf Kuba nicht hinnahm. Die sowjetische Aktion wertet Loth zwar als "überdimensioniert", die Kriegsgefahr sei aber "von den Angriffsabsichten der amerikanischen Militärs und ihrer Unterstützer" ausgegangen. In der Entscheidung zur Intervention des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei 1968 sieht er "weniger eine Bekräftigung der Hegemonie der Sowjetunion über die Staaten des Warschauer Paktes . . . als vielmehr einen Sieg des kommunistischen Apparates über die Politik".
Auch die deutsch-deutschen Beziehungen werden vor dem Hintergrund sowjetischer Entspannungsbemühungen behandelt. Die dabei gebotenen Erklärungen wirken teilweise geradezu grotesk: So hätte die Bekanntgabe einiger von der SED gewährter Reiseerleichterungen der Regierung Brandt/Scheel "möglicherweise . . . über die Hürde des Mißtrauensvotums" Ende April 1972 geholfen. Vom Stimmenkauf durch das DDR-Ministerium für Staatssicherheit hat Loth noch nichts gehört.
Für die nach dem KSZE-Gipfel konstatierten "amerikanischen Abweichungen vom Entspannungskurs" macht Loth vor allem das "ungeschickte" Vorgehen Carters verantwortlich, der sich von "düsteren Warnungen" vor einer sowjetischen Hochrüstung habe beeindrucken lassen. Selbst den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan sah die Weltöffentlichkeit laut Loth zu Unrecht als Ausweis sowjetischen Expansionsstrebens an, vielmehr sei die sowjetische Politik auch in Zentralasien eher defensiv angelegt gewesen.
Anders als Helmut Schmidt vermutete, hätten der sowjetischen Führung Erstschlagüberlegungen im Zusammenhang mit der Stationierung von SS-20-Raketen völlig ferngelegen. Statt dessen wäre der Austausch der überalterten SS 4 und SS 5 in ihren Augen ein "ganz normaler Vorgang" gewesen. Sogar Gorbatschow beschönigt in seinen "Erinnerungen" die Aufrüstungsentscheidung Breschnews sehr viel weniger: ein "unter dem Druck des militärisch-industriellen Komplexes" zustande gekommenes "unverzeihliches Abenteuer" ohne vorherige "Analyse der politischen und strategischen Folgen".
Reagan wird von Loth auf sicherheitspolitischem Gebiet "geringe Sachkenntnis", verbunden "mit ausgesprochener Neigung zu öffentlicher Selbstdarstellung", bescheinigt. Kontrastiert mit dem finsteren kalifornischen Cowboy, erscheint Gorbatschow natürlich als Lichtgestalt, vor allem, wenn man außer acht läßt, daß die vom sowjetischen Parteichef proklamierte "Freiheit der Wahl" nur für die anderen Ostblockstaaten, nicht aber für die kolonialen Erwerbungen Sowjetrußlands galt. Auch von der politischen Verantwortung Gorbatschows für die blutigen Aktionen seiner Sondertruppen im Baltikum ist keine Rede.
STEFFEN ALISCH
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Sowjetunion im Kalten Krieg: Selbst Gorbatschow ist kritischer als Wilfried Loth
Wilfried Loth: Helsinki, 1. August 1975. Entspannung und Abrüstung. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 1999. 317 Seiten, 19,90 Mark.
Der Streit um die Ursachen des Kalten Krieges ist ebenso alt wie die globale Auseinandersetzung zwischen den beiden "Supermächten" selbst. Mehrere Schulen "revisionistischer" Zeithistoriker und Politikwissenschaftler bekämpften die "traditionelle" These, die Sowjetunion habe den Konflikt durch ihre expansive Politik ausgelöst, auf die der Westen mit "containment" reagieren mußte. Nach Ansicht der Revisionisten bestanden die Konfliktursachen in den Bestrebungen der Vereinigten Staaten nach globaler wirtschaftlicher Dominanz und in der Unfähigkeit des Westens, die defensiven sowjetischen Absichten zu erkennen.
Wilfried Loth vertritt seit mehr als 20 Jahren moderat revisionistische Positionen und hat damit nicht unwesentlich die Interpretation des Kalten Krieges mitbestimmt. Sein Buch "Helsinki" bietet einen Gesamtüberblick über die Ost-West-Auseinandersetzung, insbesondere auf dem Feld der Sicherheitspolitik bis zum Zerfall des Ostblocks. Nach wie vor erscheint die Sowjetunion bei ihm in mildem Licht als unsichere, defensiv eingestellte und weitgehend entspannungsbereite Großmacht. Immer wieder ist von "sowjetischen Entspannungsoffensiven" die Rede. Als Teil einer solchen gelten Loth die Stalin-Noten von 1952, mit denen der Generalissimus vermeintlich freie Wahlen und ein neutrales Gesamtdeutschland anbot. Die damit verbundene Preisgabe des SED-Regimes wäre allerdings nicht zuletzt ein Verrat an "heiligen Gütern" des Weltkommunismus gewesen, wie Gerhard Wettig und andere zu Recht einwenden.
Auf noch brüchigeres Eis begibt sich Loth mit der Behauptung, der Ausbau der innerdeutschen Grenze und der Aufbau einer DDR-Armee seien als Defensivmaßnahmen Stalins zu verstehen, um die "offensichtlich nicht mehr zu verhindernde westdeutsche Armee in Schach" zu halten. Dagegen spricht die Tatsache, daß bereits unmittelbar im Gründungsprozeß der DDR mit der Bildung zentralgeleiteter und nach militärischen Gesichtspunkten organisierter Polizeiformationen begonnen wurde.
Kennedy wird dafür gerügt, daß er 1962 den Aufbau der sowjetischen Raketenstellungen auf Kuba nicht hinnahm. Die sowjetische Aktion wertet Loth zwar als "überdimensioniert", die Kriegsgefahr sei aber "von den Angriffsabsichten der amerikanischen Militärs und ihrer Unterstützer" ausgegangen. In der Entscheidung zur Intervention des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei 1968 sieht er "weniger eine Bekräftigung der Hegemonie der Sowjetunion über die Staaten des Warschauer Paktes . . . als vielmehr einen Sieg des kommunistischen Apparates über die Politik".
Auch die deutsch-deutschen Beziehungen werden vor dem Hintergrund sowjetischer Entspannungsbemühungen behandelt. Die dabei gebotenen Erklärungen wirken teilweise geradezu grotesk: So hätte die Bekanntgabe einiger von der SED gewährter Reiseerleichterungen der Regierung Brandt/Scheel "möglicherweise . . . über die Hürde des Mißtrauensvotums" Ende April 1972 geholfen. Vom Stimmenkauf durch das DDR-Ministerium für Staatssicherheit hat Loth noch nichts gehört.
Für die nach dem KSZE-Gipfel konstatierten "amerikanischen Abweichungen vom Entspannungskurs" macht Loth vor allem das "ungeschickte" Vorgehen Carters verantwortlich, der sich von "düsteren Warnungen" vor einer sowjetischen Hochrüstung habe beeindrucken lassen. Selbst den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan sah die Weltöffentlichkeit laut Loth zu Unrecht als Ausweis sowjetischen Expansionsstrebens an, vielmehr sei die sowjetische Politik auch in Zentralasien eher defensiv angelegt gewesen.
Anders als Helmut Schmidt vermutete, hätten der sowjetischen Führung Erstschlagüberlegungen im Zusammenhang mit der Stationierung von SS-20-Raketen völlig ferngelegen. Statt dessen wäre der Austausch der überalterten SS 4 und SS 5 in ihren Augen ein "ganz normaler Vorgang" gewesen. Sogar Gorbatschow beschönigt in seinen "Erinnerungen" die Aufrüstungsentscheidung Breschnews sehr viel weniger: ein "unter dem Druck des militärisch-industriellen Komplexes" zustande gekommenes "unverzeihliches Abenteuer" ohne vorherige "Analyse der politischen und strategischen Folgen".
Reagan wird von Loth auf sicherheitspolitischem Gebiet "geringe Sachkenntnis", verbunden "mit ausgesprochener Neigung zu öffentlicher Selbstdarstellung", bescheinigt. Kontrastiert mit dem finsteren kalifornischen Cowboy, erscheint Gorbatschow natürlich als Lichtgestalt, vor allem, wenn man außer acht läßt, daß die vom sowjetischen Parteichef proklamierte "Freiheit der Wahl" nur für die anderen Ostblockstaaten, nicht aber für die kolonialen Erwerbungen Sowjetrußlands galt. Auch von der politischen Verantwortung Gorbatschows für die blutigen Aktionen seiner Sondertruppen im Baltikum ist keine Rede.
STEFFEN ALISCH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Steffen Alisch kann sich mit diesem Band nicht anfreunden. Zwar respektiert er grundsätzlich Loths "moderat revisionistische Positionen", die als Ursache des Kalten Krieges vor allem die Dominanzbestrebungen der USA ausmachen. Loths Thesen im vorliegenden Band findet der Rezensent jedoch mehr als fragwürdig. Er listet zahlreiche Behauptungen Loths auf, zu denen er selbst jeweils Gegenargumente anzubringen weiß. So äußert sich Alisch skeptisch zu Loths Interpretation, Stalin habe 1952 "freie Wahlen und ein neutrales Gesamtdeutschland" angeboten, was nach Ansicht des Rezensenten allein schon deshalb unglaubwürdig ist, weil dies zu einem Ende des SED-Regimes geführt hätte. Auch die These, "der Ausbau der innerdeutschen Grenze und der Aufbau der DDR-Armee" sei eine defensive Maßnahme und Reaktion auf die westdeutsche Armee gewesen, weiß Alisch zu widerlegen. Geradezu "grotesk" findet der Rezensent Loths Behauptung, die Reiseerleichterungen der SED hätten Brandt und Scheel 1972 über das Misstrauensvotum hinweggeholfen. Alisch erinnert hier an den Stimmenkauf durch die Stasi, von dem Loth offenbar "noch nichts gehört hat". Sogar der Einmarsch in Afghanistan und die Stationierung der SS-20-Rakteten werde vom Autor als defensive Maßnahme interpretiert. Selbst Gorbatschow habe dies "sehr viel weniger" beschönigt, so Alisch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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