Produktdetails
  • Verlag: Kindler
  • Seitenzahl: 576
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 992g
  • ISBN-13: 9783463403090
  • Artikelnr.: 24841388
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Das Lachen des bösen Onkels im Puppentheater
Widersprüche unterm Vergrößerungsglas: Robert Fergusons großartige Biographie von Henrik Ibsen / Von Heinrich Detering

Männer des Werkes ganz und gar": In einem Essay zu Ibsens hundertstem Geburtstag hat Thomas Mann mit dieser Formel Ibsen und Wagner zu erfassen versucht, und er hat diese "Werkmenschen" den Künstlern des "Lebens" gegenübergestellt, als deren Inbegriff ihm Goethe galt. Einem Biographen müßte dieses Diktum zu denken geben: Wie wäre die Lebensgeschichte eines Werkmenschen zu erzählen? Und wie erst die eines Menschen wie Ibsen, dessen Ziel darin bestand, "sein Leben auf einen Zustand nahezu idealer Gleichförmigkeit zu reduzieren"?

Der Versuch ist erstaunlich oft unternommen worden. Die erste Biographie über Ibsen entstand, mit tatkräftiger Hilfe des Porträtierten selbst, schon zu Lebzeiten; die bisher letzte hat Michael Meyer 1969 veröffentlicht, eine gründliche Darstellung Ibsens in seiner Zeit. Robert Ferguson - Verfasser eines Buches über Henry Miller und einer exzellenten Hamsun-Biographie, obendrein Ibsen-Übersetzer - konzentriert sich soweit wie möglich auf den Mann selbst. Damit gelingt ihm das Kunststück, uns mit der Geschichte eines ungelebten Lebens über mehr als fünfhundert Seiten in Spannung zu halten.

Dabei ist sein Held auf den ersten Blick alles andere als einnehmend, sicher nicht weniger egozentrisch als seine Rivalen Strindberg und Hamsun, die ihrerseits aus seiner Verhöhnung einen nicht geringen Teil ihrer Selbstgewißheit bezogen. Aber sonderbar - je länger man diesem Ekel unter Fergusons Vergrößerungsglas zusieht, desto anziehender, ja anrührender erscheint es. Die äußerlich ereignisarme Biographie läßt unter diesem Blick eine Dramatik des Innenlebens erkennen, als deren Gestaltung sich weite Teile des dramatischen Werks lesen lassen - des Lebenswerks, das sich einem Werkleben verdankt.

An Entschlußkraft immerhin fehlt es dem Helden von Anfang an nicht. Sobald er kann, bricht der Sohn eines bankrotten Alkoholikers alle häuslichen Bindungen ab und flieht aus der Kleinstadt; danach wird er fünfundzwanzig Jahre lang keinen Brief nach Hause schicken und Besuche auch dann meiden, wenn er sich ganz in der Nähe aufhält. Unter denen, die er zurückläßt, ist auch der uneheliche Sohn, den er als Achtzehnjähriger mit einem Dienstmädchen aus der Nachbarschaft gezeugt hat und von dessen Bekanntwerden er fortan die Zerstörung seiner sorgfältig aufgebauten Existenz fürchtet. Jahrelang werden den aufstrebenden Theatermann außer der Schuld auch die Schulden bedrängen; weil er seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommt, wird er zur Zwangsarbeit verurteilt, und nur um Haaresbreite entgeht er dem Gefängnis.

Der junge Dichter, der noch nicht weiß, ob seine Stärken eher in der Novelle, im Drama oder doch im Gedicht liegen, bildet sich durch Brotarbeiten. Als Theaterkritiker in Kristiania und dann als Dramaturg in Bergen erlernt er das Handwerkszeug der "pièce bien faite" und des Vaudeville. Hier sammelt er auch unschätzbare praktische Erfahrungen mit Schauspielern und Bühnentechnik; beidem verdanken seine eigenen Stücke einen erheblichen Teil ihrer Bühnenwirksamkeit und seine Lebensumstände eine erhebliche Steigerung von Einkommen und Sozialprestige. Doch die Angst vor dem Rückfall, vor der sozialen Stigmatisierung wird ihn nicht verlassen. Wenn der berühmt gewordene Dramatiker, ausgestattet mit königlichen Stipendien, die Welt bereist, führt er gelegentlich einen nicht erworbenen Doktortitel; als er dann endlich die Ehrendoktorwürde erhält, läßt er sich umgehend mit dem Diplom in der Hand malen, hängt das Bild über seinen Schreibtisch und unterschreibt fortan als "Dr. Ibsen".

Während eines längeren Aufenthalts in Rom faßt der knapp Vierzigjährige den Entschluß, aus seinen Nöten eine Tugend zu machen, legt die verräterische und darum unpassende Verkleidung des bäurischen Bohemien ab und erfindet die öffentliche Figur Henrik Ibsen - das Bild zum Werk. Das bislang zurückgekämmte Haar wird mächtig auftoupiert und der Vollbart des Anarchisten zum dandyhaften Backenbart beschnitten (ein glattrasierter Ibsen wäre schlechterdings unvorstellbar); die dunklen Jacken werden ersetzt durch den ordensgeschmückten Gehrock des Bourgeois, die verschlossenen Gesichtszüge verzieht er zur habituell trotzigen Grimasse; und dem so entstandenen Image verhilft er mittels sorgsam erstellter Porträtaufnahmen zum erwünschten Bekanntheitsgrad.

Um diese Zeit ist der Aufsteiger aus der Provinz längst über Norwegen hinaus ein gefeierter Dichter, und seine Heimat sieht er nur noch bei seinen seltenen Besuchen. Siebenundzwanzig Jahre lang lebt er in Italien und Deutschland im selbstgewählten "Exil", an seiner Überzeugung, daheim verkannt zu werden, ändert auch das staatliche Dichterstipendium nichts, mit dem er diese Aufenthalte erst finanzieren kann. Ein Vierteljahrhundert schon ist seit seinem ersten Stück vergangen, und mit "Peer Gynt", "Brand" und "Kaiser und Galiläer" scheint er auf dem Höhepunkt seines Lebenswerkes zu stehen. Und da, plötzlich, verschwindet er von der Bildfläche und macht Pause. Als er nach vier Jahren wieder aus der Versenkung zurückkehrt, hat er ein ganz neues Theater erfunden. Mit den "Stützen der Gesellschaft" eröffnet er die Serie jener zwölf Gesellschafts- und Künstlerdramen, die seinen Namen in alle Welt tragen werden. Mit diesem zweiten Teil seines Lebenswerkes wird aus dem angesehenen norwegischen Dichter der bis heute neben Shakespeare meistgespielte Dramatiker der Weltliteratur. "Nora" und "Hedda Gabler", "Die Wildente" und "Gespenster", "Baumeister Solness" und "John Gabriel Borkman": einen Kosmos der Seelenlandschaften öffnen diese Schauspiele, eine Welt der ungewissen Identitäten, voller Zweideutigkeiten und geheimer Bezüge, ein Kampfplatz von Klassen und Generationen, ein bis ins Dokumentarische exaktes Gegenwartsdrama, ausgespannt zwischen Himmel und Hölle und vor ins Unermeßliche verschwimmenden Horizonten.

Der Mann Ibsen, den die Neugierigen zu sehen bekommen und den sich noch Thomas Mann schaudernd als "schlimm-verschmitzten alten Hexenmeister" vorstellt, bietet freilich einen unerwarteten Anblick. Fast unisono berichten Zeugen, die durch Länder und Jahrzehnte getrennt sind, von ihren immer gleich befremdlichen Begegnungen mit dem Menschen, dessen Bildnis sie doch so gut gekannt hatten. Jedesmal erscheint er da als gehemmter und bis zur Lächerlichkeit stolzer, ängstlicher und hochfahrender kleiner Mann mit einer eitlen Frisur, einer ins Absurde gesteigerten Pedanterie und Pünktlichkeit, Orden auf der Brust und finsterem Blick, nach Alkoholgenuß wütend bis zu Tätlichkeiten - ein geiziger und verbissener Einzelgänger, übrigens ungewöhnlich kleinwüchsig; ein Gnom, bemerkt ein Besucher, "ohne Hintern und ohne Brust". Manche freilich fügen alldem noch hinzu, der forcierte Hochmut des Sonderlings habe seine Zartheit und Gebrechlichkeit um so anrührender durchscheinen lassen. Und ein einziger widerspricht sogar der selbst von Nahestehenden aufrechterhaltenen Behauptung, Ibsen sei unfähig gewesen zu lachen: Er hat einmal heimlich beobachtet, wie Ibsen selbstvergessen lachte - in der Kindervorstellung eines Puppentheaters.

Kaum zu glauben, lautet der manchmal heimliche, manchmal laute Seufzer der erwartungsvollen Besucher, daß das der Verfasser von Ibsens Dramen sein soll. Dabei hat er so unerbittlich gearbeitet an seinem respektgebietenden Bild. Damit niemand etwas zu spotten hat, geht er Gesprächen möglichst aus dem Weg; und wenn es sich nicht umgehen läßt, dann bleibt er so kurz und abstrakt wie möglich. Selbst die Liebe zu Frau und Kind äußert sich am leidenschaftlichsten in der brieflichen Mahnung, doch bitte nicht zu dünn bekleidet spazierenzugehen. Da die kleinste Unordnung der Beginn der Katastrophe sein könnte, verläßt er das Haus jeden Mittag um dieselbe Minute und nie, ohne den obligatorischen Blick auf das Thermometer am Fenster geworfen zu haben. Noch einer der letzten Besucher wird beobachten, wie der Greis auf dem Tischchen vor sich fünf banale Gebrauchsgegenstände in einer Reihe anordnet: Schlüssel, Uhr, Taschentuch, zwei Etuis; immer wieder, unaufhörlich.

Aus lauter Angst vor der Lächerlichkeit macht er sich lächerlich. Immer ist er - mit Fergusons prägnanter Formulierung - "verzweifelt darauf bedacht, daß man ihn beachtet, und voller Angst, gesehen zu werden". Ein allseits beliebter Anlaß zum Spott ist beispielsweise sein Ordensfimmel. Auf nichts in der Welt ist der Sohn des Bankrotteurs so begierig wie auf Orden, und wenn ein Staatsoberhaupt einmal zu zögernd oder begriffsstutzig sein sollte, versucht er selbst nachzuhelfen. Die endlich ergatterten Auszeichnungen trägt er bei jeder Gelegenheit, nimmt sie in die Sommerfrische mit (mit der Begründung, man wisse schließlich nie, wann man sie einmal gebrauchen könnte); unangekündigte Besucher stellen verblüfft fest, daß er sie auch zu Hause angelegt hat. Dabei kommt es nicht zuletzt darauf an, wie groß und bunt der Orden ausfällt, weshalb denn auch der riesige, mit arabischen Schriftzeichen geschmückte Stern des Großtürken, obschon nur dritter Klasse, sein Liebling ist.

An solchen Symbolen hängt das Bild, das er anderen bieten will - aber mehr noch dasjenige, auf das er selbst sich verpflichtet hat. So schreibt er seine Dramen stets im Kreuzfeuer zweier Gemälde: Im Rücken droht das Bild seines Erzrivalen Strindberg, und über ihm an der Wand prunkt das monumentale Ibsen-Porträt mit Ehrendoktor-Urkunde und Ordensband. Das mächtige Bild scheint den schmächtigen Mann zu erdrücken. Gerade diesen Druck aber wollte er spüren.

Und dann, nach Jahrzehnten erfolgreicher Selbstkasteiung, vergißt der Erfolgreiche sich doch. Als er öffentlich schon wie das Denkmal seiner selbst erscheint, verliert er die Fassung. Er, dessen "ideale", also vor allem geistige Ehe mit der ihm tapfer ergebenen Suzannah zur Formalität geworden ist und dessen Briefe von floskelhafter Förmlichkeit starren, schreibt plötzlich an junge Mädchen Sätze wie diesen: "Eine Stimme in meinem Inneren schreit nach Ihnen." Es ist nicht frei von Peinlichkeit zu sehen, wie hier neuromantische Inszenierung, pubertäres Pathos und die Gequältheit eines kreuzunglücklichen Lebens sich vermischen. Bis zu symbolischen Eheschließungen treibt der Alternde seine überhitzten und keuschen Affären; der Moralist spielt den bösen Onkel. Und wie immer macht der bürgerliche Bürgerschreck auch aus diesem Regelverstoß eine Inszenierung: Wenn seine Ehefrau mit dem einzigen gemeinsamen Sohn verreist ist - was nun häufiger und länger der Fall ist -, dann zeigt er sich stolz mit der jungen Ersatzgattin bei öffentlichen Anlässen. Ist aber das Verhältnis erst einmal so weit gediehen, weiß er nicht, wohin mit sich und ihr und wie er sich das alles vom Leibe halten soll; denn irgendwelche körperlichen Ausschweifungen hat er doch um Himmels willen nicht im Sinn gehabt. Am Ende ist es vielleicht nur um die Gewinnung von Erlebnisstoff für den "Baumeister Solness" gegangen; das muß den höflich wieder auf Distanz gebrachten jungen Damen Trost genug sein.

Wenn der von seinen eigenen Inszenierungen Überforderte nach solchen sonderbaren Eskapaden die gedemütigte Ehefrau um Verzeihung bitten will, dann tut er auch das im Gewand eines neuen Dramas. Daß damit außer ihm selbst auch die um Vergebung Angeflehte öffentlich bloßgestellt wird, hat er nicht gewollt, aber in Kauf genommen. Die von Thomas Mann bewunderte "schaurig gehauchte Beichte des Werkmenschen" - auch sie wird im "Werk" abgelegt; wie sonst hätte er sich aussprechen sollen?

Lebenslang hatte der Schreiber seine Lebensfähigkeit aus seinem Schreiben bezogen; noch im Jahr vor seinem Tod hört der Arzt den Gelähmten eines Nachts im Schlaf schreien: "Ich schreibe, es geht mir ausgezeichnet." Immer ist seine Willensstärke gleichbedeutend gewesen mit dem Willen zum Werk. Es hat ihm alles ersetzen müssen, was ihm sonst vorenthalten blieb und was er selbst sich vorenthielt - menschliche Nähe, religiösen Trost, Glück. Deshalb ging es ihm, wie Ferguson nüchtern konstatiert, "nicht darum, sich von seinen inneren Konflikten zu befreien, sondern darum, sie zu kultivieren". Sie sind die nicht versiegende Quelle seiner Dramen. Solange er sich quält, hat er zu schreiben.

Und an Qualen ist Ibsens ungelebtes Leben reich. Zu seinen Obsessionen, den Albträumen seiner Nächte und Werke, gehört außer Inzest, Kindstod und sadistischen Phantasien auch die Angst davor, bei lebendigem Leib zu versteinern; wie sein schaudernder früher Bewunderer Hans Christian Andersen lebt er außerdem in der Furcht, lebendig begraben zu werden. Die größte und dauerhafteste seiner Ängste aber gilt dem, wovon er mehr als die meisten Zeitgenossen versteht, den Verlockungen und Schrecknissen des Unbewußten, der Triebe, des Körpers. Der Hausarzt Dr. Bull hat, nach mehr als tausend Visiten bei seinem berühmtesten Patienten, einen nüchternen Bericht über seine Eindrücke verfaßt. Darin vermerkt er Ibsens unüberwindliche Angst, vor seinem Arzt, ja auch nur vor sich selbst sein Geschlecht zu entblößen. Tatsächlich, der Dichter, der wie kein zweiter die Macht der verdrängten Sexualität geschildert hat und dessen analytische Dramendialoge sich wie Vorwegnahmen von Freuds "talking cure" lesen - er hat für sein Geschlechtsorgan kein Wort. Daß Ferguson es fertigbringt, uns den sterbenskranken alten Mann so nackt zu zeigen, ohne auch nur für eine Sekunde schäbig oder sentimental zu werden, läßt den menschlichen Takt und den literarischen Rang dieser Biographie ermessen.

Seine Ängste und Obsessionen, seine inneren Spannungen halten Ibsens Schreiben in Gang. Und wo sie nicht ausreichen, da stellt er, mehr oder minder gewaltsam, äußere her. Tatsächlich sind die Selbstwidersprüche, die der vermeintliche Prinzipienreiter mutwillig erzeugt, derart eklatant, daß man über die Entschlossenheit staunen muß, mit der George Bernard Shaw es auf dem Höhepunkt des englischen Ibsen-Kults fertigbrachte, eine Weltanschauung daraus zu machen. "The Quintessence of Ibsenism" ist eine Art Mischung aus Sozialdemokratie und individuellem Anarchismus. Wirklich hat Ibsen sich wiederholt zum Anarchismus bekannt - oder jedenfalls zu diesem Wort, dessen nähere Bestimmung er sich vorbehält und dann schweigend übergeht -, sich von diesem Bekenntnis aber nicht im mindesten daran gehindert gefühlt, als begeisterter Monarchist aufzutreten. Für das Kampfblatt des sozialistischen Revolutionärs Marcus Thrane schreibt der junge Ibsen so lange anonyme Artikel, bis es ihm zu bunt und riskant wird. Von den Oberhäuptern der Staaten, deren Auflösung er propagiert, nimmt er tief gebeugt Orden entgegen und hängt dem Traum vom Bündnis zwischen Skalden und Fürsten nach. Der gottesfürchtige Atheist will in seinem zehnaktigen Monsterdrama "Kaiser und Galiläer", in einer schönen Paradoxie, dem eigenen Atheismus eine heilsgeschichtliche Funktion zuschreiben und bringt in "Brand" einen mit Gott ringenden Pfarrer auf die Bühne; woraufhin er sich zu versichern beeilt, auf den Beruf des Helden komme es nicht an. Der Geschäftssinn des Antikapitalisten wird von Intendanten und Verlegern bewundert und gefürchtet. Nach einigen Erfolgen am Aktienmarkt präsentiert sich der Kritiker der Geldwirtschaft keck als "Kapitalist".

Der "Volksfeind", der diesen Dramentitel eine Zeitlang ganz trotzig-autobiographisch meint, ergeht sich in wüsten Beschimpfungen der Demokratie als Pöbelherrschaft, schließt sich, wo er einmal in Schwung ist, auch den soeben modisch werdenden eugenischen Wahnvorstellungen an und schwärmt von der Züchtung höheren Menschenmaterials. Später wird er vor sozialistischen Arbeitern versichern, niemand stünde seinem Herzen so nahe wie die Arbeiterklasse als die wahre Aristokratie - um auch hier alsbald auf Distanz zu gehen und sich evolutionstheoretischen Spekulationen und theosophischen Offenbarungen zuzuwenden.

Solche wechselnden Verlautbarungen haben Ibsen bei zeitgenössischen Bewunderern den Ruf einer "Sphinx" eingetragen, hinter deren orakelhaften Vieldeutigkeit sich geheime Einsichten verbergen müßten. Weniger Wohlwollende haben seine Schwankungen als Opportunismus gedeutet und Ibsens Eigensinn dabei ebenso beharrlich unterschätzt wie sein Talent, es sich so schwer wie möglich zu machen. Seine Position ist die Opposition - je länger, desto rückhaltloser. Er liebt den Aufruhr, den seine Kehrtwendungen erzeugen, weil er die "communis opinio" haßt; und die haßt er am meisten, wenn sie seinen eigenen Text spricht. Deshalb tritt beispielsweise 1898 der Schöpfer Noras, dieser Ikone der Frauenbewegung, bei einer Ehrung ausgerechnet durch den "Verein für die Sache der Frau" mit Anlauf in den Fettnapf, den er selbst zu diesem Zweck aufgestellt hat. Zunächst erklärt er sich außerstande zu verstehen, was "die Sache der Frau" sei, dann vermutet er, falls es etwas Derartiges geben sollte, habe es gewiß mit Mutterschaft zu tun; und damit "ein Hoch auf den Verein für die Sache der Frau!"

Ferguson zeigt, wie diese Knalleffekte und Theaterdonner von zwei mächtigen Kräften angetrieben werden, die sich gegenseitig steigern: einem unstillbaren Geltungsbedürfnis, das Ibsen um die jeweilige Publikumsgunst buhlen läßt, und einem gleichzeitigen Selbsthaß, der sich als Abscheu gegenüber allem Bestehenden äußert. Eben weil Ibsen "everybody's darling" sein will, erklärt er sich zum "Volksfeind"; ein umgekehrter Opportunist. Das letzte verständliche Wort des Sterbenden lautet: "tvertimot" - also "im Gegenteil" oder, ganz wörtlich, "strikt dagegen". An den meisten Bewegungen seiner Epoche hat dieser lebende Selbstwiderspruch irgendwie teilgenommen, keiner kam er näher als auf halbe Distanz - also nahe genug, um dabeigewesen zu sein, weit genug, um nicht dazuzugehören. In welches Lager er sich auch zu begeben schien, am Ende war es nur das neue Trainingslager eines Schriftstellers.

Gerade dank dieser konsequenten Inkonsequenz aber ist das alternde Orakel zum Übervater einer neuen Generation geworden. Protagonisten einer Moderne, die den Naturalismus längst hinter sich gelassen hat, verehren dessen einstigen Anführer als ihren Propheten. Munch entwirft die Bühnenbilder für die symbolistischen Alterswerke und porträtiert Ibsen als geisterhafte Erscheinung in der Albtraumwelt der Großstadt; wenig später wird Rilke ihn im "Malte Laurids Brigge" als Apotheose des Dichters feiern und Sigmund Freud den Dramatiker Ibsen zum Bruder des Psychoanalytikers erklären. Noch zu Lebzeiten erreicht den Kranken die enthusiastische Rezension, die ein blutjunger Ire über sein letztes Drama geschrieben hat. Der Verfasser nennt Henrik Ibsen "einen der größten Männer der Welt, vor dem die Kritik nur eine schwächliche Figur machen kann", und schickt ihm den Artikel "in Hoffnung und Liebe, Ihr sehr ergebener James Joyce".

Ein Leben ohne Werk, ein Leben einfach so - vermutlich hätte Ibsen es sich nicht einmal vorstellen können. Darum erzählt Ferguson die Geschichte von Leben und Werk so, daß das "und" inklusiv erscheint: Stets sind seine Kapitelüberschriften zweiteilig, folgt auf die Bezeichnung eines Lebensabschnitts der Titel des entsprechenden Werks. Indem Ferguson die Geschichte von Ibsens Selbststilisierungen rekonstruiert, erzählt er zugleich von den Stilisierungen seiner Texte, auch hier bis hinein in die ganz auf Wirkung kalkulierte Rätselhaftigkeit. Ibsens Absicht nach soll die öffentliche Figur, die er unter seinem Namen auftreten läßt, nichts anderes sein als die Verkörperung dieser Texte.

Vielleicht hat es am Ende wirklich keinen Ibsen mehr gegeben, der außerhalb des Werks und unabhängig davon existiert hätte. Aber indem Ferguson diese Verschlingung nachzeichnet, zeigt sein Psychogramm eines Werkmenschen, wie das Aufgehen des Ichs im Text gescheitert ist. Allein die ungewollten Risse in diesem Bild bringen noch den Menschen zur Geltung, den das Werk vergessen machen sollte: die Peinlichkeiten, die Kälte, die Angst. Es sind nur diese Leerstellen, diese Narben und Wunden, an denen sichtbar wird, was den Menschen von seinem Werk trennt. Sie gezeigt zu haben ist ein trauriger und schöner Liebesdienst, den der Biograph seinem Helden erweist.

Robert Ferguson: "Henrik Ibsen". Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Michael Schmidt. Kindler Verlag, München 1998. 576 S., geb., 88,- DM.

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