Am 12. Juli 2017 jährt sich der 200. Geburtstag von Henry David Thoreau (1817-1862), dem Aussteiger, Naturfreund, störrischen und faszinierenden Freigeist und Rebellen - der zum amerikanischen Nationalheiligen wurde. Aus diesem Anlass erscheint jetzt die erste umfassende deutsche Biographie.
Wer war dieser Mensch, der, aufgewachsen als Sohn eines Bleistiftfabrikanten, in Harvard alte Sprachen studierte und die antiken Klassiker im Original las? Seine Karriere als Lehrer aufs Spiel setzte, weil er sich weigerte, seine Schüler mit dem Rohrstock zu malträtieren. Der sich, ein 28-jähriger menschenscheuer Junggeselle, zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in eine selbstgebaute Blockhütte am Waldensee zurückzog, um außerhalb aller gesellschaftlicher Konventionen zu leben, und darüber ein Buch schrieb, das bis heute Pflichtlektüre für jeden Amerikaner geblieben ist: Walden. Der lieber ins Gefängnis ging, als die USA mit Steuergeldern für ihre Sklavenpolitik und den expandierenden Mexiko-Krieg zu unterstützen, und darüber sein Traktat »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« verfasste, das zum Kanon politischer Protestliteratur gehört, das Mahatma Gandhi als Lehrbuch an seine Schüler verteilte, das Martin Luther King und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung im Marschgepäck trugen und das die Occupy-Bewegung heute für sich entdeckt hat.
Frank Schäfers wissenschaftlich fundierte, spannend erzählte Biographie des einflussreichen Denkers, Politikers und Schriftstellers beantwortet diese Fragen. Er zeichnet das Porträt eines Mannes, dessen »Experimente« und Bücher die Welt verändert haben und heute aktueller denn je sind.
Wer war dieser Mensch, der, aufgewachsen als Sohn eines Bleistiftfabrikanten, in Harvard alte Sprachen studierte und die antiken Klassiker im Original las? Seine Karriere als Lehrer aufs Spiel setzte, weil er sich weigerte, seine Schüler mit dem Rohrstock zu malträtieren. Der sich, ein 28-jähriger menschenscheuer Junggeselle, zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in eine selbstgebaute Blockhütte am Waldensee zurückzog, um außerhalb aller gesellschaftlicher Konventionen zu leben, und darüber ein Buch schrieb, das bis heute Pflichtlektüre für jeden Amerikaner geblieben ist: Walden. Der lieber ins Gefängnis ging, als die USA mit Steuergeldern für ihre Sklavenpolitik und den expandierenden Mexiko-Krieg zu unterstützen, und darüber sein Traktat »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« verfasste, das zum Kanon politischer Protestliteratur gehört, das Mahatma Gandhi als Lehrbuch an seine Schüler verteilte, das Martin Luther King und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung im Marschgepäck trugen und das die Occupy-Bewegung heute für sich entdeckt hat.
Frank Schäfers wissenschaftlich fundierte, spannend erzählte Biographie des einflussreichen Denkers, Politikers und Schriftstellers beantwortet diese Fragen. Er zeichnet das Porträt eines Mannes, dessen »Experimente« und Bücher die Welt verändert haben und heute aktueller denn je sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2017Früh am Morgen ein Schluck kondensierter Wolke
Waldgänger, Sprachkünstler und entschiedener Lebensreformer obendrein: Neue Bücher von und über Henry David Thoreau, dessen zweihundertster Geburtstag heute begangen wird.
Selbst wenn einen Henry David Thoreaus Denkschriften, seine Aphorismen, seine Ironie und nicht einmal seine Naturbeschreibungen beeindrucken sollten, was unwahrscheinlich genug ist, käme man doch nicht umhin, den außergewöhnlichen Einfluss anzuerkennen, den er auf seine nächsten Mitmenschen ausübte. Ralph Waldo Emersons "Thoreau"-Essay, ursprünglich die Grabrede für den Freund, oder Louisa May Alcotts Kurzgedicht, das sie zu seinem Tod schrieb, gehören sicher zu den einfühlsamsten und rührendsten Dokumenten, die je über einen Menschen geschrieben wurden.
Poetische Intuition und humanistische Großzügigkeit erreichen in beiden Texten einen Grad der Anschaulichkeit, der dann doch wieder auf Thoreaus Werk zurückweist.
Spring came to us in guise forlorn;
The bluebird chants a requiem;
The willow-blossom waits for him; -
The Genius of the wood is gone.
(Das Frühjahr kam in trostlosem Gewand zu uns; / Der Hüttensänger singt ein Requiem; / Die Weidenblüte erwartet ihn; - / Der Genius des Waldes ist fort).
So wurde Thoreau von Louisa May Alcott nachgerufen, seiner wohl gelehrigsten Schülerin, die Jahre nach seinem Tod mit "Betty und ihre Schwestern" eines der berühmtesten Kinderbücher der Weltliteratur schreiben sollte.
Dass ausgerechnet zwei Vertreter des amerikanischen Transzendentalismus so mitreißende Worte fanden, ist dabei nicht verwunderlich. Neigte diese Bewegung doch dazu, den Menschen zu einem natürlich-sympathischen Möglichkeits-Wesen zu verklären. In Thoreau fand sie ihr Vorbild - und zugleich die perfekte Projektionsfläche für eine Vielzahl ihrer Seitentriebe.
Was für ein Zufall, dass Ralph Waldo Emerson, Erfinder des Transzendentalismus, im Jahr 1835, Thoreau war da noch ein Teenager, ausgerechnet in dessen Heimatstadt Concord gezogen war. Emerson erlebte Thoreau dort später als Lehrer und Bleistift-Fabrikanten, als Hausmeister und Gärtner, als Schriftsteller und Landvermesser. Zeitweilig wohnte Thoreau sogar in seinem Haus und durfte Emersons Grundstück am Walden Pond für sein berühmtes Blockhüttenexperiment des Jahres 1845 nutzen.
Thoreau war das perfekte Anschauungsmaterial für Emersons Weltsicht, der zufolge das intuitive Erfassen des Göttlichen auch in den kleinsten Regungen der Natur möglich zu sein hatte. Und Thoreau wusste tatsächlich genau, das zeigen seine Schriften, wann und wo in Concord gerade die nächste Walderdbeere reif geworden war. "Natur" hieß Emersons berühmtestes Werk, und dieses war Thoreau ebenso heilig wie die Natur selbst. Wenn Thoreau mit seinen Schülern in den Wald ging, sagte er, jetzt gehe es "in den Himmel", wobei man gerne wüsste, was genau ihm dabei vorschwebte.
Heute wird Henry Davis Thoreaus zweihundertster Geburtstag begangen. Einige erstmals veröffentlichte oder neu bearbeitete Texte wie der zweite Teil der auf mehrere Bände angelegten Tagebücher sind gerade im Verlag Matthes und Seitz erschienen, Suhrkamp hat eine neue Thoreau-Biographie von Frank Schäfer vorgelegt und Insel die Übersetzung eines schon vor zehn Jahre erschienenen amerikanischen Buchs von Susan Cheever, "American Bloomsbury", das von dem Kreis handelt, der sich um Emerson und Thoreau in Concord scharte und der bis hin zu Nathaniel Hawthorne, Edgar Allan Poe, Walt Whitman und Herman Melville reichte. Zu sagen, dass in Concord, wo einst die ersten Kämpfe des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ausgetragen wurden, die amerikanische Literatur auf den Weg gebracht wurde, ist tatsächlich nur eine geringe Übertreibung.
Insgesamt aber erweist sich die Jubiläums-Bücherparade doch als etwas enttäuschend. Viel Neues über Thoreau erfährt man in den beiden Monographien nicht. Schäfer und Cheever schmücken aus, reihen über weite Strecken die gleichen Anekdoten und Interpretationen aneinander, wobei beide an den Kapitelenden dazu neigen, recht reißerische Cliffhanger zu setzen, als bedürfe es solcher Anreize und halte ausgerechnet das Leben des passionierten Zuhausebleibers Thoreau noch unzählige Spannungsmomente bereit. Nur in zwei Fragen sind die beiden fast gegenteiliger Ansicht. "War Thoreau homosexuell?", lautet die eine, "Ist Thoreaus Bewunderung für den Sklavereigegner John Brown entschuldbar, der seine Position mit Mord und Totschlag durchzusetzen versuchte?", ist die andere, weitaus gewichtigere. Wobei beide Argumentationslinien auf zu schmaler Materialbasis ruhen, als dass der Leser geneigt wäre, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen.
Während Frank Schäfer eine Haltung des abgeklärten Bescheidwissers pflegt ("Hier zeigt sich einmal mehr, wie sich idealistische Schwärmerei und Realität vertragen. Überhaupt nicht.") und auch die Küchenpsychologie nicht scheut ("Er fordert zu viel von sich und seinen Mitmenschen"), zitiert Cheever an den entscheidenden Stellen gerne aus anerkannter Sekundärliteratur, ohne die dazugehörigen Begründungen mitzuliefern. An den besten Stellen ihres Buches gelingt es Cheever jedoch, den Leser in die freigeistige Stimmung von Concords großer Zeit hineinzuziehen - was eine dankbare Aufgabe ist, wenn etwa Nathaniel Hawthorne und der "Yankee-Platon" Emerson um dieselbe Frau werben.
Was Schäfer und Cheever bedauerlicherweise nicht einmal im Ansatz vertiefend zu erklären versuchen, ist der von beiden häufig verwendete Begriff des Transzendentalismus. Dabei hätte es gerade das Interesse vieler deutscher Leser ansprechen können, wie sich der Begriff genau zu Kants Philosophie, zum Deismus eines Barthold Hinrich Brockes - viele Naturbeobachtungen Thoreaus erinnern an ihn - oder zum Pantheismus und Symboldenken Goethes verhält. Sowohl Emerson, der offenbar kurzzeitig in Göttingen studiert hatte, als auch seine Freundin, die Journalistin und frühe Feministin Margaret Fuller, waren mit Goethe durchaus vertraut. Und Thoreau, für den dasselbe gilt, zitiert sogar schon in seinem allerersten Tagebucheintrag von 1837 ein deutsches Sprichwort. Bemerkenswert auch, dass die Eltern der eingangs zitierten Louisa May Alcott, hartgesottene Reformpädagogen, die es fertigbrachten, in zwanzig Jahren zwanzig Mal umzuziehen, neben Sokrates eine Büste Schillers in ihrem beweglichen Hausstand mitführten.
Und noch eines bleibt in beiden Büchern unterbelichtet, denn wäre es nicht an der Zeit, sich eingehender mit Thoreaus Stil und seiner Beschreibungskunst zu beschäftigen? Emerson geht bereits in seinem Essay einen guten Schritt voran, indem er am Schluss desselben die bemerkenswertesten Aphorismen Thoreaus aus den damals noch unveröffentlichten Manuskripten zusammentrug und zu der Schlussfolgerung kam: "Seine Rätsel sind lesenswert, und ich vertraue darauf, dass sie wohlüberlegt sind, auch wenn ich nicht immer die Lösung finde."
Weiter noch führt die Lektüre der erstmals ins Deutsche übersetzten, bei Jung und Jung erschienenen Reiseerzählung "Ktaadn", die durch Emersons Essay ergänzt wird und in der Thoreau die Besteigung des höchsten Berges von Maine beschreibt. Sicher, zunächst muss man sich über viele Buchseiten durch die übergenau geschilderte Anfahrt mit Eisenbahn, Dampfschiff und Pferdewagen kämpfen, wobei man berücksichtigen sollte, dass viele von Thoreaus Reiseberichten aus Vorträgen heraus entstanden sind, die eine bestimmte Form der Leserführung voraussetzten. Dann aber - der Ktaadn ist zum Großteil erklommen - wird es richtig dicht, auch wenn Thoreau und seine Begleiter auf nichts weiter als einen Schwarm Bachforellen in einem klaren Fluss stoßen. An dieser Stelle aber zeigt sich die Tiefe von Thoreaus Naturwahrnehmung. Er vergleicht die Forellen zunächst mit "leuchtenden flussgeborenen Blumen" und setzt zu einem herrlich überdrehten inneren Monolog an, der mit den Worten "Gott allein weiß warum (sie) so schön gemacht wurden, um dort zu schwimmen!" endet.
Thoreau gibt vor, endlich zu begreifen, "welche Wahrheit in den Mythen, den Sagen des Proteus und all jener schönen Meeresungeheuer steckte", er fühlt sich in die archaische Welt der antiken Dichter versetzt und schließt mit der Einschätzung, die Forellen-Szene gehorche "himmlischen Zwecken" - hier haben wir ihn wieder, den Himmelsvergleich. Thoreau träumt dann sogar von den Forellen, wähnt sich in einem Märchen. Stärker als in dieser Reiseerzählung kann man Natur kaum mythologisch verzaubern. Aber es graust Thoreau auch vor ihr, vor allem auf dem Gipfel des unbehausten Bergs: "Hier war Natur etwas Wildes und Schreckliches, trotzdem Schönes", schreibt er in auffälliger Übereinstimmung mit Kants Erhabenheitsbegriff. Dann wieder scheint er sich dort oben nur mit Humor behelfen zu können. So vergleicht er die Felsenreihe auf einem Nebenhügel mit einer grasenden Herde, die "felsiges Futter wiederkäut", oder spricht davon, zur Erfrischung am Morgen "einen Schluck kondensierter Wolke" zu sich genommen zu haben.
Am stärksten aber bleibt nach all der Jubiläumslektüre ein von vielen Zeitgenossen erstaunlich beiläufig überliefertes Bild zurück, das den als unverstellt gepriesenen Thoreau paradoxerweise als großen Versteller zeigt. In einem Tümpel stehend oder auf einem Fels sitzend verharrt er so lange in absoluter Regungslosigkeit, bis die Tiere, die er eben noch unwillentlich verscheucht hat, wieder aus ihrem Versteck hervor und in seine nächste Nähe kommen. Vielleicht ist das der wahrste Thoreau. Er, der für so vieles, von der Natur- bis zur Bürgerrechtsbewegung vereinnahmt wurde, nimmt sich vollkommen zurück, um durch teilnehmende Beobachtung und deren gewissenhafte Schilderung die Natur selbst zur Geltung kommen zu lassen.
Doch ausgerechnet in diesem Punkt hat sich unsere heutige Zeit wohl am weitesten von Thoreau entfernt. Es dominiert eine Lustlosigkeit, sich mit der Natur im Detail auseinanderzusetzen. Im Vergleich zu Thoreau wissen wir einfach zu wenig von der Natur, dieses Gefühl hatten schon seine Zeitgenossen. Wer aber würde einen Waldspaziergang mit Thoreau ausschlagen, um mit ihm über die Natur zu staunen?
UWE EBBINGHAUS
Henry David Thoreau: "Ktaadn". Mit einem Essay von Ralph Waldo Emerson.
Aus dem Englischen und hrsg. von Alexander Pechmann. Verlag Jung und Jung, Salzburg/Wien 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].
Susan Cheever: "American Bloomsbury". Ein Leben
zwischen Liebe, Inspiration und Natursehnsucht.
Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen.
Insel Verlag, Berlin 2017. 288 S., geb., 24,- [Euro].
Henry David Thoreau:
"Tagebuch II (Wasser und Feuer)".
Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Nachwort von Holger Teschke. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 377 S., geb., 26,90 [Euro].
Frank Schäfer: "Henry
David Thoreau".
Waldgänger und Rebell.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 253 S., br., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Waldgänger, Sprachkünstler und entschiedener Lebensreformer obendrein: Neue Bücher von und über Henry David Thoreau, dessen zweihundertster Geburtstag heute begangen wird.
Selbst wenn einen Henry David Thoreaus Denkschriften, seine Aphorismen, seine Ironie und nicht einmal seine Naturbeschreibungen beeindrucken sollten, was unwahrscheinlich genug ist, käme man doch nicht umhin, den außergewöhnlichen Einfluss anzuerkennen, den er auf seine nächsten Mitmenschen ausübte. Ralph Waldo Emersons "Thoreau"-Essay, ursprünglich die Grabrede für den Freund, oder Louisa May Alcotts Kurzgedicht, das sie zu seinem Tod schrieb, gehören sicher zu den einfühlsamsten und rührendsten Dokumenten, die je über einen Menschen geschrieben wurden.
Poetische Intuition und humanistische Großzügigkeit erreichen in beiden Texten einen Grad der Anschaulichkeit, der dann doch wieder auf Thoreaus Werk zurückweist.
Spring came to us in guise forlorn;
The bluebird chants a requiem;
The willow-blossom waits for him; -
The Genius of the wood is gone.
(Das Frühjahr kam in trostlosem Gewand zu uns; / Der Hüttensänger singt ein Requiem; / Die Weidenblüte erwartet ihn; - / Der Genius des Waldes ist fort).
So wurde Thoreau von Louisa May Alcott nachgerufen, seiner wohl gelehrigsten Schülerin, die Jahre nach seinem Tod mit "Betty und ihre Schwestern" eines der berühmtesten Kinderbücher der Weltliteratur schreiben sollte.
Dass ausgerechnet zwei Vertreter des amerikanischen Transzendentalismus so mitreißende Worte fanden, ist dabei nicht verwunderlich. Neigte diese Bewegung doch dazu, den Menschen zu einem natürlich-sympathischen Möglichkeits-Wesen zu verklären. In Thoreau fand sie ihr Vorbild - und zugleich die perfekte Projektionsfläche für eine Vielzahl ihrer Seitentriebe.
Was für ein Zufall, dass Ralph Waldo Emerson, Erfinder des Transzendentalismus, im Jahr 1835, Thoreau war da noch ein Teenager, ausgerechnet in dessen Heimatstadt Concord gezogen war. Emerson erlebte Thoreau dort später als Lehrer und Bleistift-Fabrikanten, als Hausmeister und Gärtner, als Schriftsteller und Landvermesser. Zeitweilig wohnte Thoreau sogar in seinem Haus und durfte Emersons Grundstück am Walden Pond für sein berühmtes Blockhüttenexperiment des Jahres 1845 nutzen.
Thoreau war das perfekte Anschauungsmaterial für Emersons Weltsicht, der zufolge das intuitive Erfassen des Göttlichen auch in den kleinsten Regungen der Natur möglich zu sein hatte. Und Thoreau wusste tatsächlich genau, das zeigen seine Schriften, wann und wo in Concord gerade die nächste Walderdbeere reif geworden war. "Natur" hieß Emersons berühmtestes Werk, und dieses war Thoreau ebenso heilig wie die Natur selbst. Wenn Thoreau mit seinen Schülern in den Wald ging, sagte er, jetzt gehe es "in den Himmel", wobei man gerne wüsste, was genau ihm dabei vorschwebte.
Heute wird Henry Davis Thoreaus zweihundertster Geburtstag begangen. Einige erstmals veröffentlichte oder neu bearbeitete Texte wie der zweite Teil der auf mehrere Bände angelegten Tagebücher sind gerade im Verlag Matthes und Seitz erschienen, Suhrkamp hat eine neue Thoreau-Biographie von Frank Schäfer vorgelegt und Insel die Übersetzung eines schon vor zehn Jahre erschienenen amerikanischen Buchs von Susan Cheever, "American Bloomsbury", das von dem Kreis handelt, der sich um Emerson und Thoreau in Concord scharte und der bis hin zu Nathaniel Hawthorne, Edgar Allan Poe, Walt Whitman und Herman Melville reichte. Zu sagen, dass in Concord, wo einst die ersten Kämpfe des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ausgetragen wurden, die amerikanische Literatur auf den Weg gebracht wurde, ist tatsächlich nur eine geringe Übertreibung.
Insgesamt aber erweist sich die Jubiläums-Bücherparade doch als etwas enttäuschend. Viel Neues über Thoreau erfährt man in den beiden Monographien nicht. Schäfer und Cheever schmücken aus, reihen über weite Strecken die gleichen Anekdoten und Interpretationen aneinander, wobei beide an den Kapitelenden dazu neigen, recht reißerische Cliffhanger zu setzen, als bedürfe es solcher Anreize und halte ausgerechnet das Leben des passionierten Zuhausebleibers Thoreau noch unzählige Spannungsmomente bereit. Nur in zwei Fragen sind die beiden fast gegenteiliger Ansicht. "War Thoreau homosexuell?", lautet die eine, "Ist Thoreaus Bewunderung für den Sklavereigegner John Brown entschuldbar, der seine Position mit Mord und Totschlag durchzusetzen versuchte?", ist die andere, weitaus gewichtigere. Wobei beide Argumentationslinien auf zu schmaler Materialbasis ruhen, als dass der Leser geneigt wäre, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen.
Während Frank Schäfer eine Haltung des abgeklärten Bescheidwissers pflegt ("Hier zeigt sich einmal mehr, wie sich idealistische Schwärmerei und Realität vertragen. Überhaupt nicht.") und auch die Küchenpsychologie nicht scheut ("Er fordert zu viel von sich und seinen Mitmenschen"), zitiert Cheever an den entscheidenden Stellen gerne aus anerkannter Sekundärliteratur, ohne die dazugehörigen Begründungen mitzuliefern. An den besten Stellen ihres Buches gelingt es Cheever jedoch, den Leser in die freigeistige Stimmung von Concords großer Zeit hineinzuziehen - was eine dankbare Aufgabe ist, wenn etwa Nathaniel Hawthorne und der "Yankee-Platon" Emerson um dieselbe Frau werben.
Was Schäfer und Cheever bedauerlicherweise nicht einmal im Ansatz vertiefend zu erklären versuchen, ist der von beiden häufig verwendete Begriff des Transzendentalismus. Dabei hätte es gerade das Interesse vieler deutscher Leser ansprechen können, wie sich der Begriff genau zu Kants Philosophie, zum Deismus eines Barthold Hinrich Brockes - viele Naturbeobachtungen Thoreaus erinnern an ihn - oder zum Pantheismus und Symboldenken Goethes verhält. Sowohl Emerson, der offenbar kurzzeitig in Göttingen studiert hatte, als auch seine Freundin, die Journalistin und frühe Feministin Margaret Fuller, waren mit Goethe durchaus vertraut. Und Thoreau, für den dasselbe gilt, zitiert sogar schon in seinem allerersten Tagebucheintrag von 1837 ein deutsches Sprichwort. Bemerkenswert auch, dass die Eltern der eingangs zitierten Louisa May Alcott, hartgesottene Reformpädagogen, die es fertigbrachten, in zwanzig Jahren zwanzig Mal umzuziehen, neben Sokrates eine Büste Schillers in ihrem beweglichen Hausstand mitführten.
Und noch eines bleibt in beiden Büchern unterbelichtet, denn wäre es nicht an der Zeit, sich eingehender mit Thoreaus Stil und seiner Beschreibungskunst zu beschäftigen? Emerson geht bereits in seinem Essay einen guten Schritt voran, indem er am Schluss desselben die bemerkenswertesten Aphorismen Thoreaus aus den damals noch unveröffentlichten Manuskripten zusammentrug und zu der Schlussfolgerung kam: "Seine Rätsel sind lesenswert, und ich vertraue darauf, dass sie wohlüberlegt sind, auch wenn ich nicht immer die Lösung finde."
Weiter noch führt die Lektüre der erstmals ins Deutsche übersetzten, bei Jung und Jung erschienenen Reiseerzählung "Ktaadn", die durch Emersons Essay ergänzt wird und in der Thoreau die Besteigung des höchsten Berges von Maine beschreibt. Sicher, zunächst muss man sich über viele Buchseiten durch die übergenau geschilderte Anfahrt mit Eisenbahn, Dampfschiff und Pferdewagen kämpfen, wobei man berücksichtigen sollte, dass viele von Thoreaus Reiseberichten aus Vorträgen heraus entstanden sind, die eine bestimmte Form der Leserführung voraussetzten. Dann aber - der Ktaadn ist zum Großteil erklommen - wird es richtig dicht, auch wenn Thoreau und seine Begleiter auf nichts weiter als einen Schwarm Bachforellen in einem klaren Fluss stoßen. An dieser Stelle aber zeigt sich die Tiefe von Thoreaus Naturwahrnehmung. Er vergleicht die Forellen zunächst mit "leuchtenden flussgeborenen Blumen" und setzt zu einem herrlich überdrehten inneren Monolog an, der mit den Worten "Gott allein weiß warum (sie) so schön gemacht wurden, um dort zu schwimmen!" endet.
Thoreau gibt vor, endlich zu begreifen, "welche Wahrheit in den Mythen, den Sagen des Proteus und all jener schönen Meeresungeheuer steckte", er fühlt sich in die archaische Welt der antiken Dichter versetzt und schließt mit der Einschätzung, die Forellen-Szene gehorche "himmlischen Zwecken" - hier haben wir ihn wieder, den Himmelsvergleich. Thoreau träumt dann sogar von den Forellen, wähnt sich in einem Märchen. Stärker als in dieser Reiseerzählung kann man Natur kaum mythologisch verzaubern. Aber es graust Thoreau auch vor ihr, vor allem auf dem Gipfel des unbehausten Bergs: "Hier war Natur etwas Wildes und Schreckliches, trotzdem Schönes", schreibt er in auffälliger Übereinstimmung mit Kants Erhabenheitsbegriff. Dann wieder scheint er sich dort oben nur mit Humor behelfen zu können. So vergleicht er die Felsenreihe auf einem Nebenhügel mit einer grasenden Herde, die "felsiges Futter wiederkäut", oder spricht davon, zur Erfrischung am Morgen "einen Schluck kondensierter Wolke" zu sich genommen zu haben.
Am stärksten aber bleibt nach all der Jubiläumslektüre ein von vielen Zeitgenossen erstaunlich beiläufig überliefertes Bild zurück, das den als unverstellt gepriesenen Thoreau paradoxerweise als großen Versteller zeigt. In einem Tümpel stehend oder auf einem Fels sitzend verharrt er so lange in absoluter Regungslosigkeit, bis die Tiere, die er eben noch unwillentlich verscheucht hat, wieder aus ihrem Versteck hervor und in seine nächste Nähe kommen. Vielleicht ist das der wahrste Thoreau. Er, der für so vieles, von der Natur- bis zur Bürgerrechtsbewegung vereinnahmt wurde, nimmt sich vollkommen zurück, um durch teilnehmende Beobachtung und deren gewissenhafte Schilderung die Natur selbst zur Geltung kommen zu lassen.
Doch ausgerechnet in diesem Punkt hat sich unsere heutige Zeit wohl am weitesten von Thoreau entfernt. Es dominiert eine Lustlosigkeit, sich mit der Natur im Detail auseinanderzusetzen. Im Vergleich zu Thoreau wissen wir einfach zu wenig von der Natur, dieses Gefühl hatten schon seine Zeitgenossen. Wer aber würde einen Waldspaziergang mit Thoreau ausschlagen, um mit ihm über die Natur zu staunen?
UWE EBBINGHAUS
Henry David Thoreau: "Ktaadn". Mit einem Essay von Ralph Waldo Emerson.
Aus dem Englischen und hrsg. von Alexander Pechmann. Verlag Jung und Jung, Salzburg/Wien 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].
Susan Cheever: "American Bloomsbury". Ein Leben
zwischen Liebe, Inspiration und Natursehnsucht.
Aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen.
Insel Verlag, Berlin 2017. 288 S., geb., 24,- [Euro].
Henry David Thoreau:
"Tagebuch II (Wasser und Feuer)".
Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. Nachwort von Holger Teschke. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 377 S., geb., 26,90 [Euro].
Frank Schäfer: "Henry
David Thoreau".
Waldgänger und Rebell.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 253 S., br., 16,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Willy Hochkeppels Haltung zu Henry David Thoreau sowie zu dessem Biografen Frank Schäfer ist zwiegespalten. Eindeutig bewundert er Thoreaus Mut, seine poetische Prosa, die harsche Zivilisationskritik, die darin zum Ausdruck kommt und sein "exzentrisches und bewegtes" Leben, welches von Schäfer sauber und gut lesbar erzählt werde. Und trotzdem entwickelt die Geschichte "keinen Sog", so der enttäuschte Rezensent. Er hätte sich eine etwas kritischere Auseinandersetzung mit den problematischen Seiten Thoreaus gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.06.2017Er aß kein Fleisch, heiratete nie
Frank Schäfer erzählt das Leben des Waldgängers und Rebellen Henry David Thoreau
„Unser Zeitalter ist retrospektiv“, räsonierte der amerikanische Dichter und Philosoph Ralph Waldo Emerson: „Es schreibt Biographien, Geschichtsbücher. Frühere Generationen schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir durch ihre Augen.“ Wie Husserl in Europa, wollte man gewissermaßen „zu den Sachen selbst“, doch ohne das europäisch „Erhabene“, man wollte, so Emerson, eine Lehre vom „Gewöhnlichen und Geringen“, eine „Philosophie der Straße“.
Ein kleiner Kreis meist liberaler unitarischer Geister in New England wollte der Vergangenheit nicht länger anhängen. Sie nannten sich vage genug „Transzendentalisten“, suchten idealistisch das Neue. 1836 erschien der Band „Nature“ von Emerson, einige Jahre darauf Henry David Thoreaus Bericht „Walden“. Die knappste Biografie Thoreaus stammt vom schon berühmten älteren Freund und Mentor Ralph Waldo Emerson: „Er aß kein Fleisch, trank keinen Wein, wußte nichts über Tabak, er hatte keinen Beruf, er heiratete nie, ging nie in die Kirche und nie zur Wahl, lehnte es ab, Steuern zu zahlen.“
1845 zog sich Henry David Thoreau, dessen zweihundertster Geburtstag am 12. Juli zu feiern ist und zu dessen Jubiläum Frank Schäfer eine neue Biografie beigesteuert hat, an einen seinem Geburtsort Concord in Massachusetts nahegelegenen Teich namens Walden zurück und baute sich dort in der Wildnis auf dem Grundstück seines Freundes und Gönners Emerson eine Hütte. Er hauste darin zwei Jahre und zwei Monate, pflanzte Bohnen und anderes an, fühlte sich autonom und keineswegs als Eremit. Er habe in seiner Hütte mehr Besucher empfangen „als zu irgendeiner anderen Zeit meines Lebens“.
Thoreau betrachtete diesen Aufenthalt als ein Experiment in Naturbeobachtung, worüber er in einer Mischung aus handfester und glänzend poetischer Prosa schrieb. Ein Hauch von Ironie, die gelegentlich sogar einem Zynismus nachgibt, fehlt nie. Thoreau ist alles andere als der Naivling, als den man ihn einst in Europa sehen wollte und glaubte vernachlässigen zu können. Sein Name fehlt nach wie vor selbst in renommierten philosophischen Nachschlagewerken. Zweifellos hatte er auch etwas von einem Waldschrat, einem Kauz und maverick, was seinem entschiedenen Individualismus zuzuschreiben ist. Wie man einige Jahre später sehen würde, war er auch ein Rebell, vielleicht ein Anarchist, jedenfalls ein Opponent jeglichen staatlichen Reglements. Dass Unbekannte für ihn seine seit vier Jahren fälligen Steuern zahlen mussten, ist indes kein schöner Zug.
Das karge Leben am Waldensee, über das Thoreau präzise Buch führte, empfand er ganz und gar nicht als karg. Wie einst Sokrates auf der Agora hätte er ausrufen können: Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf. Das erste Kapitel im Buch „Walden. Or Life in the Woods“ heißt „Economy“, was vielfach mit „Sparsamkeit“ oder „Hauswirtschaft“ verdeutscht wird; aber, wie Dieter Schulz in seinem Buch „Amerikanischer Transzendentalismus“ vermerkte, ist der Begriff Ökonomie bereits „im modernen Sinn von Kosten-Nutzen-Analyse“ zu verstehen. Thoreau wollte „das Leben in die Enge treiben und es auf die einfachste Formel bringen“. Ansonsten bekennt er: „Ich wollte immer Schriftsteller werden.“
In all seinen Natur und Wildnis verherrlichenden, schwärmerischen Schriften steckt indes, wie Frank Schäfer noch einmal deutlich macht, gleichsam als negative Dialektik Zivilisationskritik. Wie weit die ging, belegt dies schneidende Zitat aus „Walden“: „Was die Pyramiden anbelangt, so erregt an ihnen nichts so sehr das Erstaunen als die Tatsache, daß sich so viele Menschen fanden, die verkommen genug waren, ihr Leben zur Erbauung eines Grabes für irgendeinen ehrgeizigen Hansnarren herzugeben.“ Seinen unerbittlichen Affront gegen eine Regierung, die den Sklavenhandel deckte, bekundete er offen in dem Pamphlet „Resistance to Government“, das unter dem späteren Titel „Civil Disobedience“ zu einer Fibel für Aussteiger und Anarchisten wurde.
1862 erschien in der Bostoner Zeitschrift Atlantic Monthly ein schöner Aufsatz mit dem Titel „Walking“, der deutsch mit „Wandern“ oder „Spazieren“ wiedergegeben wurde. „Spazieren“ kennen wir vom Spaziergänger Rousseau, der jedoch von Thoreau nirgends erwähnt wird. Beide deutsche Worte passen nicht, denn in der Wildnis geht man nicht spazieren. „Wandern“ ist in der Regel ein längerer Gang mit einem Ziel, während „Gehen“ oder „walking“ eher zielloses Umherschweifen meint. Dieser Text ist wie viele Texte Thoreaus aus Vorträgen entstanden. Sie machten ihn zusammen mit seinen Büchern sowie Artikeln in der Hauszeitschrift Dial, die er in Vertretung der frühen Feministin Margret Fuller kurze Zeit herausgab, allmählich bekannter und wohlhabender. Zwischendurch arbeitete er auch wieder in der väterlichen Bleistiftfabrik, die er sogar zu einem profitablen Unternehmen machte. Haushalten hatte er in Walden geübt und zugleich als Selfmademan Arbeitsteilung verachten gelernt.
Die Philosophie oder Weltanschauung, die Emerson begründete und die Thoreau, sein Freund, der Prediger William Channing, und einige andere, namentlich Margaret Fuller, eine namhafte Übersetzerin deutscher Dichter, unter der kruden Bezeichnung „Transzendentalismus“ betrieben, könnte man als Hausmacherphilosophie oder mit Ludwig Marcuse als Freiluftphilosophie bezeichnen, oder wohlwollender mit Nietzsche, einem frühen Bewunderer Emersons, als gaia scientia. Thoreaus Dichterfreund Nathaniel Hawthorne verspottete das transzendentale Philosophiegebräu, und Thoreau selbst hat es vergnügt-ironisch einmal so verballhornt: „Ja, ich bin ein Mystiker, ein Transzendentalist und ein Naturwissenschaftler. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, sollte ich Ihnen gleich gesagt haben, ich sei ein Transzendentalist. Das wäre der kürzere Weg gewesen Ihnen zu sagen, daß sie meine Erklärungen nicht verstehen würden.“
Frank Schäfer lässt sich auf Definitionsübungen am amorphen, wild eklektizistischen Objekt Transzendentalismus gottlob erst gar nicht ein. Seine Biografie ist ein gut lesbarer Text, der viele, bisher kaum bekannte Details über das Leben und die intellektuelle Umwelt Thoreaus enthält. Schäfer gelingen treffende Charakterisierungen – unter anderem der bei aller gegenseitigen Bewunderung antagonistischen Naturen von Thoreau und Walt Whitman. Er durchschaut seinen Helden als einen „souveränen Synkretisten“ und ertappt den überzeugten Demokraten dabei, immer noch sehr aristokratisch zu denken. Doch warum nennt er ihn des Öfteren einen Stoiker? Und welche Scheu hält ihn davon ab, die Naturvergöttlichung der Transzendentalisten mit dem Etikett Pantheismus zu belegen? Zu hinterfragen wäre wohl auch Thoreaus forsches Diktum gewesen, die Alten vermöchten der Jugend keinen wertvollen Rat zu geben, ihre eigenen Erfahrungen seien „Stückwerk“.
Andererseits bemüht Schäfer weitaus sparsamer als frühere deutsche Biographen zeitübergreifende Bezüge mit entsprechendem Namedropping, vielmehr lässt er in zahlreichen längeren Zitaten Thoreau selbst zu Wort kommen. (Hier allerdings ist kein Übersetzer namhaft gemacht noch gibt es eine Ortsangabe der Zitate. Ein empfindliches Manko.)
Obwohl das Leben Thoreaus exzentrisch und bewegt genug war, um ein spannendes Buch daraus zu machen, entwickelt diese Biografie keinen Sog. Sie ist nur ordentlich erzählt, fällt in die üblichen Hymnen ein, stellt keine unangenehmen Fragen an den einstigen Harvard-Absolventen Thoreau und seine Freunde: etwa ob ihnen bewusst war, dass die Entzauberung der Welt durch Wissen kaum weniger trostlos ist als die Zerstörung der Natur durch Zivilisation? Fragwürdig ist auch Thoreaus wie seines Biografen Sympathie für den Abolitionisten und zugleich mörderischen Schlächter John Brown. Wie ja auch aus der Distanz von 200 Jahren sichtbar wird, dass vieles, was allgemein als Thoreaus „Suggestivkraft“ gepriesen wird, subjektives Dekret, Predigt, Spruchweisheit ohne Begründung ist.
Verglichen etwa mit Ludwig Marcuses immer noch faszinierendem Buch „Amerikanisches Philosophieren“ von 1959 wirkt Schäfers Monografie so frugal wie die Mahlzeiten Thoreaus in Walden. Gleichwohl schuldet man dem Autor Dank, dass er uns den intellektuellen Kauz und Dichter Henry David Thoreau noch einmal ganz nahegebracht hat.
WILLY HOCHKEPPEL
Er wollte „das Leben in die Enge
treiben und es auf
die einfachste Formel bringen“
Vieles ist bloß Predigt oder
Spruchweisheit
ohne Begründung
Als Jack eines Abends nach Hause kommt, liegt seine Frau erschlagen
auf dem Teppich: Ausschnitt aus „Patience“ von Daniel Clowes.
Der US-amerikanische Zeichner hat eine eigene, sehr amerikanische Version
der Ligne claire entwickelt. Gleichzeitig ist der Einfluss der EC-Comics
der Fünfzigerjahre in seinen Arbeiten spürbar. Abb.: Reprodukt
Frank Schäfer: Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell. Eine Biographie. Mit Abbildungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 253 Seiten, 16, 95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frank Schäfer erzählt das Leben des Waldgängers und Rebellen Henry David Thoreau
„Unser Zeitalter ist retrospektiv“, räsonierte der amerikanische Dichter und Philosoph Ralph Waldo Emerson: „Es schreibt Biographien, Geschichtsbücher. Frühere Generationen schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir durch ihre Augen.“ Wie Husserl in Europa, wollte man gewissermaßen „zu den Sachen selbst“, doch ohne das europäisch „Erhabene“, man wollte, so Emerson, eine Lehre vom „Gewöhnlichen und Geringen“, eine „Philosophie der Straße“.
Ein kleiner Kreis meist liberaler unitarischer Geister in New England wollte der Vergangenheit nicht länger anhängen. Sie nannten sich vage genug „Transzendentalisten“, suchten idealistisch das Neue. 1836 erschien der Band „Nature“ von Emerson, einige Jahre darauf Henry David Thoreaus Bericht „Walden“. Die knappste Biografie Thoreaus stammt vom schon berühmten älteren Freund und Mentor Ralph Waldo Emerson: „Er aß kein Fleisch, trank keinen Wein, wußte nichts über Tabak, er hatte keinen Beruf, er heiratete nie, ging nie in die Kirche und nie zur Wahl, lehnte es ab, Steuern zu zahlen.“
1845 zog sich Henry David Thoreau, dessen zweihundertster Geburtstag am 12. Juli zu feiern ist und zu dessen Jubiläum Frank Schäfer eine neue Biografie beigesteuert hat, an einen seinem Geburtsort Concord in Massachusetts nahegelegenen Teich namens Walden zurück und baute sich dort in der Wildnis auf dem Grundstück seines Freundes und Gönners Emerson eine Hütte. Er hauste darin zwei Jahre und zwei Monate, pflanzte Bohnen und anderes an, fühlte sich autonom und keineswegs als Eremit. Er habe in seiner Hütte mehr Besucher empfangen „als zu irgendeiner anderen Zeit meines Lebens“.
Thoreau betrachtete diesen Aufenthalt als ein Experiment in Naturbeobachtung, worüber er in einer Mischung aus handfester und glänzend poetischer Prosa schrieb. Ein Hauch von Ironie, die gelegentlich sogar einem Zynismus nachgibt, fehlt nie. Thoreau ist alles andere als der Naivling, als den man ihn einst in Europa sehen wollte und glaubte vernachlässigen zu können. Sein Name fehlt nach wie vor selbst in renommierten philosophischen Nachschlagewerken. Zweifellos hatte er auch etwas von einem Waldschrat, einem Kauz und maverick, was seinem entschiedenen Individualismus zuzuschreiben ist. Wie man einige Jahre später sehen würde, war er auch ein Rebell, vielleicht ein Anarchist, jedenfalls ein Opponent jeglichen staatlichen Reglements. Dass Unbekannte für ihn seine seit vier Jahren fälligen Steuern zahlen mussten, ist indes kein schöner Zug.
Das karge Leben am Waldensee, über das Thoreau präzise Buch führte, empfand er ganz und gar nicht als karg. Wie einst Sokrates auf der Agora hätte er ausrufen können: Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf. Das erste Kapitel im Buch „Walden. Or Life in the Woods“ heißt „Economy“, was vielfach mit „Sparsamkeit“ oder „Hauswirtschaft“ verdeutscht wird; aber, wie Dieter Schulz in seinem Buch „Amerikanischer Transzendentalismus“ vermerkte, ist der Begriff Ökonomie bereits „im modernen Sinn von Kosten-Nutzen-Analyse“ zu verstehen. Thoreau wollte „das Leben in die Enge treiben und es auf die einfachste Formel bringen“. Ansonsten bekennt er: „Ich wollte immer Schriftsteller werden.“
In all seinen Natur und Wildnis verherrlichenden, schwärmerischen Schriften steckt indes, wie Frank Schäfer noch einmal deutlich macht, gleichsam als negative Dialektik Zivilisationskritik. Wie weit die ging, belegt dies schneidende Zitat aus „Walden“: „Was die Pyramiden anbelangt, so erregt an ihnen nichts so sehr das Erstaunen als die Tatsache, daß sich so viele Menschen fanden, die verkommen genug waren, ihr Leben zur Erbauung eines Grabes für irgendeinen ehrgeizigen Hansnarren herzugeben.“ Seinen unerbittlichen Affront gegen eine Regierung, die den Sklavenhandel deckte, bekundete er offen in dem Pamphlet „Resistance to Government“, das unter dem späteren Titel „Civil Disobedience“ zu einer Fibel für Aussteiger und Anarchisten wurde.
1862 erschien in der Bostoner Zeitschrift Atlantic Monthly ein schöner Aufsatz mit dem Titel „Walking“, der deutsch mit „Wandern“ oder „Spazieren“ wiedergegeben wurde. „Spazieren“ kennen wir vom Spaziergänger Rousseau, der jedoch von Thoreau nirgends erwähnt wird. Beide deutsche Worte passen nicht, denn in der Wildnis geht man nicht spazieren. „Wandern“ ist in der Regel ein längerer Gang mit einem Ziel, während „Gehen“ oder „walking“ eher zielloses Umherschweifen meint. Dieser Text ist wie viele Texte Thoreaus aus Vorträgen entstanden. Sie machten ihn zusammen mit seinen Büchern sowie Artikeln in der Hauszeitschrift Dial, die er in Vertretung der frühen Feministin Margret Fuller kurze Zeit herausgab, allmählich bekannter und wohlhabender. Zwischendurch arbeitete er auch wieder in der väterlichen Bleistiftfabrik, die er sogar zu einem profitablen Unternehmen machte. Haushalten hatte er in Walden geübt und zugleich als Selfmademan Arbeitsteilung verachten gelernt.
Die Philosophie oder Weltanschauung, die Emerson begründete und die Thoreau, sein Freund, der Prediger William Channing, und einige andere, namentlich Margaret Fuller, eine namhafte Übersetzerin deutscher Dichter, unter der kruden Bezeichnung „Transzendentalismus“ betrieben, könnte man als Hausmacherphilosophie oder mit Ludwig Marcuse als Freiluftphilosophie bezeichnen, oder wohlwollender mit Nietzsche, einem frühen Bewunderer Emersons, als gaia scientia. Thoreaus Dichterfreund Nathaniel Hawthorne verspottete das transzendentale Philosophiegebräu, und Thoreau selbst hat es vergnügt-ironisch einmal so verballhornt: „Ja, ich bin ein Mystiker, ein Transzendentalist und ein Naturwissenschaftler. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, sollte ich Ihnen gleich gesagt haben, ich sei ein Transzendentalist. Das wäre der kürzere Weg gewesen Ihnen zu sagen, daß sie meine Erklärungen nicht verstehen würden.“
Frank Schäfer lässt sich auf Definitionsübungen am amorphen, wild eklektizistischen Objekt Transzendentalismus gottlob erst gar nicht ein. Seine Biografie ist ein gut lesbarer Text, der viele, bisher kaum bekannte Details über das Leben und die intellektuelle Umwelt Thoreaus enthält. Schäfer gelingen treffende Charakterisierungen – unter anderem der bei aller gegenseitigen Bewunderung antagonistischen Naturen von Thoreau und Walt Whitman. Er durchschaut seinen Helden als einen „souveränen Synkretisten“ und ertappt den überzeugten Demokraten dabei, immer noch sehr aristokratisch zu denken. Doch warum nennt er ihn des Öfteren einen Stoiker? Und welche Scheu hält ihn davon ab, die Naturvergöttlichung der Transzendentalisten mit dem Etikett Pantheismus zu belegen? Zu hinterfragen wäre wohl auch Thoreaus forsches Diktum gewesen, die Alten vermöchten der Jugend keinen wertvollen Rat zu geben, ihre eigenen Erfahrungen seien „Stückwerk“.
Andererseits bemüht Schäfer weitaus sparsamer als frühere deutsche Biographen zeitübergreifende Bezüge mit entsprechendem Namedropping, vielmehr lässt er in zahlreichen längeren Zitaten Thoreau selbst zu Wort kommen. (Hier allerdings ist kein Übersetzer namhaft gemacht noch gibt es eine Ortsangabe der Zitate. Ein empfindliches Manko.)
Obwohl das Leben Thoreaus exzentrisch und bewegt genug war, um ein spannendes Buch daraus zu machen, entwickelt diese Biografie keinen Sog. Sie ist nur ordentlich erzählt, fällt in die üblichen Hymnen ein, stellt keine unangenehmen Fragen an den einstigen Harvard-Absolventen Thoreau und seine Freunde: etwa ob ihnen bewusst war, dass die Entzauberung der Welt durch Wissen kaum weniger trostlos ist als die Zerstörung der Natur durch Zivilisation? Fragwürdig ist auch Thoreaus wie seines Biografen Sympathie für den Abolitionisten und zugleich mörderischen Schlächter John Brown. Wie ja auch aus der Distanz von 200 Jahren sichtbar wird, dass vieles, was allgemein als Thoreaus „Suggestivkraft“ gepriesen wird, subjektives Dekret, Predigt, Spruchweisheit ohne Begründung ist.
Verglichen etwa mit Ludwig Marcuses immer noch faszinierendem Buch „Amerikanisches Philosophieren“ von 1959 wirkt Schäfers Monografie so frugal wie die Mahlzeiten Thoreaus in Walden. Gleichwohl schuldet man dem Autor Dank, dass er uns den intellektuellen Kauz und Dichter Henry David Thoreau noch einmal ganz nahegebracht hat.
WILLY HOCHKEPPEL
Er wollte „das Leben in die Enge
treiben und es auf
die einfachste Formel bringen“
Vieles ist bloß Predigt oder
Spruchweisheit
ohne Begründung
Als Jack eines Abends nach Hause kommt, liegt seine Frau erschlagen
auf dem Teppich: Ausschnitt aus „Patience“ von Daniel Clowes.
Der US-amerikanische Zeichner hat eine eigene, sehr amerikanische Version
der Ligne claire entwickelt. Gleichzeitig ist der Einfluss der EC-Comics
der Fünfzigerjahre in seinen Arbeiten spürbar. Abb.: Reprodukt
Frank Schäfer: Henry David Thoreau. Waldgänger und Rebell. Eine Biographie. Mit Abbildungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 253 Seiten, 16, 95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
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»Eine sehr gut lesbare Biografie ... « Sylvia Prahl taz. die tageszeitung 20170710