Produktdetails
- Piper Taschenbuch
- Verlag: Piper
- Seitenzahl: 494
- Abmessung: 28mm x 121mm x 190mm
- Gewicht: 402g
- ISBN-13: 9783492229579
- Artikelnr.: 24290759
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998Ein Prinz mit Laufmasche
Iris Murdoch trocknet die Tränen und bleibt trotz allem guter Dinge / Von Pascal Mercier
Die beiden Romane von Iris Murdoch handeln von Menschen, die erfahren, daß sie nicht aus einem Guß sind. Sie finden in sich Risse, und sie sind verzweifelt darüber, daß es hinter ihrer sprunghaften inneren Vielfalt keine Instanz gibt, die Regie führen und Einheit stiften könnte.
Bradley Pearson, die Hauptfigur im Roman "Der schwarze Prinz", verdiente sein Geld als Finanzbeamter, doch fühlte er sich als Schriftsteller. Er schrieb wenig und hatte keinen Erfolg. Ein Leben lang wartete er darauf, etwas Großes zu schreiben, etwas, was seinen hohen Erwartungen an die Kunst gerecht würde. Im Alter von achtundfünfzig Jahren will er London verlassen und am Meer endlich seinen großen Roman schreiben.
Da ruft ihn Arnold Baffin, sein jüngerer Rivale, der mit routinierten, flachen Büchern Erfolge feiert, zu Hilfe: Er glaubt irrtümlich, seine Frau umgebracht zu haben. "Der schwarze Prinz" ist die Geschichte der Verwicklungen, die sich aus diesem Hilferuf ergeben. Es sind nicht irgendwelche Verwicklungen, sondern Geschehnisse, die Pearsons Leben zerstören. An ihrem Ende steht erneut ein Hilferuf, dieses Mal derjenige der Frau von Baffin: Sie hat ihren Mann umgebracht, und jetzt ist es ein wirklicher Mord. Pearson will die Frau schützen und stolpert in eine Falle: Er wird für den Täter gehalten und lebenslänglich ins Gefängnis geschickt.
In seiner Zelle schreibt er - an Stelle des geplanten Romans - die Geschichte auf, die vom ersten, scheinbaren, zum zweiten, wirklichen Mord führte. "Ich habe versucht", sagt er, "in meiner Geschichte weise kunstvoll und kunstvoll weise zu sein und die Wahrheit zu sagen, wie ich sie verstehe . . . Gute Kunst spricht Wahrheit, ja ist Wahrheit, vielleicht die einzige Wahrheit."
Pearson gibt seinem Bericht den Untertitel "Ein Hohelied der Liebe". Diese Worte gelten vor allem dem Schlüsselereignis des Buches: Pearson verliebt sich in die Tochter seines Rivalen Baffin, ein Mädchen von Anfang zwanzig. Sie trägt den Jungennamen Julian und ist in der Geschichte auf vielfache Weise mit Hamlet verwoben, der dem Roman den Titel gibt. Eine schwarze Strumpfhose, schwarze Samtschuhe mit silbernen Schnallen und ein schwarzes Wams hatte sie getragen, als sie in der Schule den dänischen Prinzen spielte. Es ist der Gedanke an diese Erscheinung, die Pearsons Liebe auslöst, und später ist es wiederum diese Kleidung, welche die ungewöhnliche Liebe zwischen den beiden besiegelt. (Ein Stoff für mancherlei Deutungen.)
Was als erstes beeindruckt: mit welcher Leichtigkeit Iris Murdoch in eine männliche Figur hineinschlüpft. Das ist eine gewaltige Leistung der Einbildungskraft. Pearson durchlebt alle Stadien des Verliebtseins. Er erfährt, mit welcher Rasanz sich seine Stimmungen und Gedanken verändern - wie zerbrechlich unsere Gefühle, und gerade die kostbarsten unter ihnen, sind. Und er erlebt, wie groß die Kluft in ihm ist zwischen Nachdenken, Vorsatz und Tun. Diese Kluft hat Iris Murdoch zum architektonischen Prinzip ihres Buches gemacht. Denn es ist nicht einfach eine Dokumentation der dramatischen Ereignisse, die Pearson zu Papier bringt. Das Erzählen ist der Versuch, Klarheit über sich selbst zu gewinnen: zum einen durch minuziöses Erinnern all dessen, was sich in seiner Innenwelt zugetragen hat, zum anderen durch einen Prozeß des Nachdenkens, in dem er Abstand zu dem Geschehenen gewinnt und sich seines Lebens und seiner Beziehung zur Kunst vergewissert. Iris Murdoch spielt virtuos mit Nähe und Distanz zum Geschehen und mit den Unterschieden in Tonlage und Erzählmelodie, die dadurch entstehen.
Überraschend ist zunächst, daß Pearson im Nachwort zu seinem Bericht einen inneren Zusammenhang zwischen seiner Liebe zu Julian und dem Mord sieht, für den er irrtümlich ins Gefängnis kommt. Denn äußerlich gesehen haben die beiden Dinge nichts miteinander zu tun: Baffins Frau schlägt zu, weil ihr Mann sie wegen Pearson einstmaliger Gattin verlassen will. Erst nach mehrmaliger Lektüre (und Iris Murdochs Bücher liest man mehr als einmal) beginnt man zu verstehen: Die Liebe zu Julian hat Pearson so grundlegend verändert, daß sie zum Bezugspunkt für schlechterdings alles geworden ist, sogar für das Buch: "In gewisser Weise war und ist sie das Buch, ist sie ihre eigene Geschichte."
Nach dem Spiel mit Nähe und Distanz gibt es am Ende ein ebenso virtuoses Spiel mit der Erzählperspektive: Iris Murdoch läßt vier Figuren aus der Geschichte heraustreten und zu Pearsons Bericht Stellung nehmen. Über mehrere hundert Seiten hat man Pearson zugehört, und seine Genauigkeit des Erzählens, gepaart mit dem kritischen Abstand zu sich selbst, ließ unweigerlich die Überzeugung entstehen, daß sich die Dinge wirklich so zugetragen haben. Es ist für den Leser erschütternd, daß aus den vier neu aufbrechenden Perspektiven heraus alles in Frage gestellt wird: Pearsons Selbsteinschätzung, seine Beziehungen zu den anderen, ja sogar seine Unschuld. Der Kommentar des Herausgebers von Pearsons Text - eine letzte selbständige Perspektive - weckt zwar Zweifel am Gewicht der verstörenden Nachworte.
Trotzdem bleiben die Dinge für den Leser bis zuletzt in der Schwebe: Iris Murdoch hat das Kunststück vollbracht, den vier, sich kraß widersprechenden Nachworten durch einen jeweils eigenen Wortschatz und einen unverwechselbaren Tonfall eine Selbständigkeit und Widerstandsfähigkeit zu verleihen, die nicht mehr ganz außer Kraft zu setzen sind. Man verteidigt Pearson gegen die anderen, kämpft mit den Zweifeln, die sie säen, nicht die Oberflächlichkeit und Perfidie ihrer Kommentare. Das zwingt einen zum Nachdenken, vor allem über das eine: Was sich zwischen Menschen zuträgt, ist nie eindeutig. Einen Standpunkt außerhalb subjektiver Einschätzungen kann es da nicht geben. Es gibt keine wahre Geschichte über menschliche Beziehungen, die über einzelne, von eigensüchtigen Motiven gefärbte Geschichten hinausginge und als Maßstab dienen könnte. Ich kenne wenige Bücher, die diesen Gedanken erzählerisch so brillant inszenieren wie "Der schwarze Prinz".
Die Zerrissenheit der Menschen und die Schwierigkeit, zu wissen, wer man eigentlich ist, ist auch das Thema von Murdochs Roman "Henry und Cato". Er ist ganz anders erzählt als der erste, konventioneller, wenn man so will. Es gibt einen auktorialen Erzähler, und die Figuren werden parallel geführt. Die erzählerische Kamera schwenkt in kunstvoller, oft überraschender Weise von der einen Figur zur anderen und baut so langsam eine Welt auf. Erzählt wird die Geschichte der ehemaligen Jugendfreunde Henry und Cato, deren Wege sich nach vielen Jahren wieder kreuzen. Henry, der einst vor der erdrückenden Übermacht seines älteren Bruders nach Amerika geflohen war, kehrt nach dessen Tod als Erbe auf das elterliche Gut in England zurück, wo seine ihm stets fremde Mutter mit einem verhinderten Dichter lebt.
Was wird er mit dem neuen Besitz und seinem unerwarteten Reichtum machen? Über lange Zeit sieht es so aus, als würde er alles verkaufen und verschenken wollen. Die Leseerfahrung ist zunächst verwirrend: Man versteht diesen Entschluß nicht, denn Henrys Kommentare sind spärlich und passen nicht zum Bild, das man von der Figur bekommen hat. Wenn er von gewollter Armut spricht oder menschenfreundlich argumentiert, klingt es hohl. Deshalb greift man zu Erklärungen über unausgesprochene Motive: Rache, späte Befreiung vom großen Bruder, Abrechnung mit einer gefühlskalten Mutter. Bis man aufgibt und sieht: Was Iris Murdoch hier porträtiert, ist ein Mann, dessen Unglück darin besteht, sich in seinem Wollen und Tun vollständig undurchsichtig zu sein. Die erzählerische Leistung besteht darin, diese innere Undurchsichtigkeit in scharfen Konturen sichtbar zu machen, ohne sie in psychologischen Kommentaren, die nur flach ausfallen könnten, beim Namen zu nennen.
So ist es auch mit Henrys sonderbarer Beziehung zu einer Frau, die dem Leser lange Zeit als die ehemalige Geliebte des großen Bruders gilt. Man versteht nicht, wie Henry meinen kann, diese Frau könnte - jenseits der erotischen Anziehungskraft - zu einem Teil seines Lebens werden. Man versteht es nicht, weil Henry es nicht versteht. Erst als die Wahrheit über die Frau ans Licht kommt, zerbricht die Beziehung, und Henry wird frei für die Liebe zum einstmaligen Nachbarskind, eine Liebe, welche das erstarrte Verhältnis zur Mutter aufzubrechen und ihn schließlich doch auf dem englischen Gut festzuhalten vermag.
Zuerst dachte ich: Das geht zu schnell und ist ein unpassendes Happy-End. Wiederum war es beim zweiten Lesen, daß sich der Eindruck veränderte: Daß es zu schnell geht, ist die Pointe, und es handelt sich nur scheinbar um ein Happy-End. In Wirklichkeit bleibt Iris Murdoch beim Thema der Zerrissenheit der Menschen. Henry ist sich trotz glücklicher Empfindungen in der neuen Beziehung so fremd wie in allen vorherigen. Und eigentlich steckt noch mehr dahinter: Iris Murdoch stellt den Gedanken des Glücks insgesamt auf den Prüfstand.
Was kann Glück sein, wenn wir nicht mehr sind als ein Kaleidoskop von flüchtigem Erleben, in dem sich jedesmal, wenn wir durch die äußeren Umstände durchgeschüttelt werden, ein ganz anderes Bild von uns selbst ergibt? In "Der schwarze Prinz" steht: "Jeder Mensch, auch der größte, kann in einem einzigen Augenblick zerbrochen werden und hat keine Zuflucht. Jede Theorie, die das leugnet, ist eine Lüge . . . In Wahrheit kann man weiter nichts tun als die Tränen trocknen und den endlosen Kampf um die Freiheit kämpfen."
Religion und Kunst sind Antworten auf die menschliche Zerrissenheit. Iris Murdoch, die in Oxford viele Jahre Philosophie unterrichtete, hat darüber nicht nur erzählerisch, sondern auch theoretisch nachgedacht (zuletzt in dem Penguin Book "Metaphysics as a Guide to Morals" von 1992). Und einige von diesen Gedanken fließen in die zweite Hauptfigur des Romans ein, in den Priester Cato, der den Glauben verliert. "Eines Morgens erwachte Cato mit der sicheren Überzeugung, daß er sich geirrt hatte und daß es keinen Gott gab."
Dieser Verlust ist auf vertrackte und (wiederum gewollt) undurchsichtige Weise mit der Liebe zu Joe, einem schönen Jungen, verwoben. Die Liebe zerbricht in genau dem Moment, wo Cato (auch) ihretwegen die Soutane ablegt. Es ist ein Bruch mit dramatischen Folgen, die den Roman im letzten Drittel zu einer Kriminalgeschichte werden lassen. Denn Joe, der den Anblick des Paters in Zivil nicht erträgt, nimmt ihn als Geisel, um vom reichen Henry Geld zu erpressen. Als auch Catos Schwester zur Geisel wird, gelingt Cato die Befreiung, und er erschlägt den geliebten Jungen. Eine Geschichte also, die vom Absturz eines einst Gläubigen in eine gewalttätige, wenn auch gerechtfertigte Tat handelt. Eine Geschichte auch, die fehlenden Mut zum Thema hat, denn Joes Geiselnahme erweist sich nachträglich als Bluff, der durch eine mutige Haltung vielleicht aufgeflogen wäre, ohne daß Blut hätte fließen müssen.
Catos Glaubensverlust beschäftigt Iris Murdoch bis zum Schluß. Was macht Cato mit der zurückgebliebenen Leere, die durch den Totschlag noch größer und bedrückender geworden ist? Der Roman endet mit einem der vielen Gespräche zwischen Cato und seinem geistlichen Mentor, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Iris Murdoch hat nicht den Fehler gemacht, sie zu abstrakten philosophischen Gesprächen werden zu lassen. Sie sind voll von ironischen, ja schnoddrigen Pointen, und plötzlich fallen Sätze von großer Tiefe wie: "Wo die Bilder enden, stürzt man in den Abgrund, aber es ist der Abgrund des Glaubens. Wenn einem nichts mehr bleibt, ist einem nichts geblieben als die Hoffnung." In solchen Sätzen wird eine der Leitfragen sichtbar, welche die Philosophin Murdoch beschäftigten: Was könnte es heißen, nach dem Zerbrechen der christlichen Bilderwelt und jenseits der darin verwurzelten Dogmen noch ein Christ zu sein?
Auch wenn "Henry und Cato" einfacher gestrickt ist als "Der schwarze Prinz": Dieses Buch ist ein gutes Beispiel für das, was ein Roman ist, im Unterschied zu einer langen Erzählung. Eine Autorin schafft durch Sätze eine Welt, in der man sich einrichtet. Das Erzählen kreist die Figuren ein, macht sie dichter und verleiht ihnen Tiefe. Es ist ein altmodisches Erzählen, das sich Zeit nimmt und vom Leser erwartet, daß er sich auf dieses Tempo einläßt. Beide Bücher erinnern an den klassischen englischen Roman. Jane Austen, George Eliot und Charles Dickens sind nicht weit. Und manchmal habe ich gedacht: Iris Murdoch ist eine Art englischer Balzac, nur reflektierter.
Dem Deuticke Verlag ist zu danken, daß er uns diese beiden großen Romane aus den siebziger Jahren in schöner Aufmachung und guter, teilweise brillanter Übersetzung in Erinnerung gebracht hat.
Iris Murdoch: "Der schwarze Prinz". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Schaffer-de-Vries. 528 S., geb., 48,- DM.
Iris Murdoch: "Henry und Cato". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Mechthild Sandberg-Ciletti. 494 S., geb., 39,- DM. Beide Bücher Deuticke Verlag, Wien/München 1998.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Iris Murdoch trocknet die Tränen und bleibt trotz allem guter Dinge / Von Pascal Mercier
Die beiden Romane von Iris Murdoch handeln von Menschen, die erfahren, daß sie nicht aus einem Guß sind. Sie finden in sich Risse, und sie sind verzweifelt darüber, daß es hinter ihrer sprunghaften inneren Vielfalt keine Instanz gibt, die Regie führen und Einheit stiften könnte.
Bradley Pearson, die Hauptfigur im Roman "Der schwarze Prinz", verdiente sein Geld als Finanzbeamter, doch fühlte er sich als Schriftsteller. Er schrieb wenig und hatte keinen Erfolg. Ein Leben lang wartete er darauf, etwas Großes zu schreiben, etwas, was seinen hohen Erwartungen an die Kunst gerecht würde. Im Alter von achtundfünfzig Jahren will er London verlassen und am Meer endlich seinen großen Roman schreiben.
Da ruft ihn Arnold Baffin, sein jüngerer Rivale, der mit routinierten, flachen Büchern Erfolge feiert, zu Hilfe: Er glaubt irrtümlich, seine Frau umgebracht zu haben. "Der schwarze Prinz" ist die Geschichte der Verwicklungen, die sich aus diesem Hilferuf ergeben. Es sind nicht irgendwelche Verwicklungen, sondern Geschehnisse, die Pearsons Leben zerstören. An ihrem Ende steht erneut ein Hilferuf, dieses Mal derjenige der Frau von Baffin: Sie hat ihren Mann umgebracht, und jetzt ist es ein wirklicher Mord. Pearson will die Frau schützen und stolpert in eine Falle: Er wird für den Täter gehalten und lebenslänglich ins Gefängnis geschickt.
In seiner Zelle schreibt er - an Stelle des geplanten Romans - die Geschichte auf, die vom ersten, scheinbaren, zum zweiten, wirklichen Mord führte. "Ich habe versucht", sagt er, "in meiner Geschichte weise kunstvoll und kunstvoll weise zu sein und die Wahrheit zu sagen, wie ich sie verstehe . . . Gute Kunst spricht Wahrheit, ja ist Wahrheit, vielleicht die einzige Wahrheit."
Pearson gibt seinem Bericht den Untertitel "Ein Hohelied der Liebe". Diese Worte gelten vor allem dem Schlüsselereignis des Buches: Pearson verliebt sich in die Tochter seines Rivalen Baffin, ein Mädchen von Anfang zwanzig. Sie trägt den Jungennamen Julian und ist in der Geschichte auf vielfache Weise mit Hamlet verwoben, der dem Roman den Titel gibt. Eine schwarze Strumpfhose, schwarze Samtschuhe mit silbernen Schnallen und ein schwarzes Wams hatte sie getragen, als sie in der Schule den dänischen Prinzen spielte. Es ist der Gedanke an diese Erscheinung, die Pearsons Liebe auslöst, und später ist es wiederum diese Kleidung, welche die ungewöhnliche Liebe zwischen den beiden besiegelt. (Ein Stoff für mancherlei Deutungen.)
Was als erstes beeindruckt: mit welcher Leichtigkeit Iris Murdoch in eine männliche Figur hineinschlüpft. Das ist eine gewaltige Leistung der Einbildungskraft. Pearson durchlebt alle Stadien des Verliebtseins. Er erfährt, mit welcher Rasanz sich seine Stimmungen und Gedanken verändern - wie zerbrechlich unsere Gefühle, und gerade die kostbarsten unter ihnen, sind. Und er erlebt, wie groß die Kluft in ihm ist zwischen Nachdenken, Vorsatz und Tun. Diese Kluft hat Iris Murdoch zum architektonischen Prinzip ihres Buches gemacht. Denn es ist nicht einfach eine Dokumentation der dramatischen Ereignisse, die Pearson zu Papier bringt. Das Erzählen ist der Versuch, Klarheit über sich selbst zu gewinnen: zum einen durch minuziöses Erinnern all dessen, was sich in seiner Innenwelt zugetragen hat, zum anderen durch einen Prozeß des Nachdenkens, in dem er Abstand zu dem Geschehenen gewinnt und sich seines Lebens und seiner Beziehung zur Kunst vergewissert. Iris Murdoch spielt virtuos mit Nähe und Distanz zum Geschehen und mit den Unterschieden in Tonlage und Erzählmelodie, die dadurch entstehen.
Überraschend ist zunächst, daß Pearson im Nachwort zu seinem Bericht einen inneren Zusammenhang zwischen seiner Liebe zu Julian und dem Mord sieht, für den er irrtümlich ins Gefängnis kommt. Denn äußerlich gesehen haben die beiden Dinge nichts miteinander zu tun: Baffins Frau schlägt zu, weil ihr Mann sie wegen Pearson einstmaliger Gattin verlassen will. Erst nach mehrmaliger Lektüre (und Iris Murdochs Bücher liest man mehr als einmal) beginnt man zu verstehen: Die Liebe zu Julian hat Pearson so grundlegend verändert, daß sie zum Bezugspunkt für schlechterdings alles geworden ist, sogar für das Buch: "In gewisser Weise war und ist sie das Buch, ist sie ihre eigene Geschichte."
Nach dem Spiel mit Nähe und Distanz gibt es am Ende ein ebenso virtuoses Spiel mit der Erzählperspektive: Iris Murdoch läßt vier Figuren aus der Geschichte heraustreten und zu Pearsons Bericht Stellung nehmen. Über mehrere hundert Seiten hat man Pearson zugehört, und seine Genauigkeit des Erzählens, gepaart mit dem kritischen Abstand zu sich selbst, ließ unweigerlich die Überzeugung entstehen, daß sich die Dinge wirklich so zugetragen haben. Es ist für den Leser erschütternd, daß aus den vier neu aufbrechenden Perspektiven heraus alles in Frage gestellt wird: Pearsons Selbsteinschätzung, seine Beziehungen zu den anderen, ja sogar seine Unschuld. Der Kommentar des Herausgebers von Pearsons Text - eine letzte selbständige Perspektive - weckt zwar Zweifel am Gewicht der verstörenden Nachworte.
Trotzdem bleiben die Dinge für den Leser bis zuletzt in der Schwebe: Iris Murdoch hat das Kunststück vollbracht, den vier, sich kraß widersprechenden Nachworten durch einen jeweils eigenen Wortschatz und einen unverwechselbaren Tonfall eine Selbständigkeit und Widerstandsfähigkeit zu verleihen, die nicht mehr ganz außer Kraft zu setzen sind. Man verteidigt Pearson gegen die anderen, kämpft mit den Zweifeln, die sie säen, nicht die Oberflächlichkeit und Perfidie ihrer Kommentare. Das zwingt einen zum Nachdenken, vor allem über das eine: Was sich zwischen Menschen zuträgt, ist nie eindeutig. Einen Standpunkt außerhalb subjektiver Einschätzungen kann es da nicht geben. Es gibt keine wahre Geschichte über menschliche Beziehungen, die über einzelne, von eigensüchtigen Motiven gefärbte Geschichten hinausginge und als Maßstab dienen könnte. Ich kenne wenige Bücher, die diesen Gedanken erzählerisch so brillant inszenieren wie "Der schwarze Prinz".
Die Zerrissenheit der Menschen und die Schwierigkeit, zu wissen, wer man eigentlich ist, ist auch das Thema von Murdochs Roman "Henry und Cato". Er ist ganz anders erzählt als der erste, konventioneller, wenn man so will. Es gibt einen auktorialen Erzähler, und die Figuren werden parallel geführt. Die erzählerische Kamera schwenkt in kunstvoller, oft überraschender Weise von der einen Figur zur anderen und baut so langsam eine Welt auf. Erzählt wird die Geschichte der ehemaligen Jugendfreunde Henry und Cato, deren Wege sich nach vielen Jahren wieder kreuzen. Henry, der einst vor der erdrückenden Übermacht seines älteren Bruders nach Amerika geflohen war, kehrt nach dessen Tod als Erbe auf das elterliche Gut in England zurück, wo seine ihm stets fremde Mutter mit einem verhinderten Dichter lebt.
Was wird er mit dem neuen Besitz und seinem unerwarteten Reichtum machen? Über lange Zeit sieht es so aus, als würde er alles verkaufen und verschenken wollen. Die Leseerfahrung ist zunächst verwirrend: Man versteht diesen Entschluß nicht, denn Henrys Kommentare sind spärlich und passen nicht zum Bild, das man von der Figur bekommen hat. Wenn er von gewollter Armut spricht oder menschenfreundlich argumentiert, klingt es hohl. Deshalb greift man zu Erklärungen über unausgesprochene Motive: Rache, späte Befreiung vom großen Bruder, Abrechnung mit einer gefühlskalten Mutter. Bis man aufgibt und sieht: Was Iris Murdoch hier porträtiert, ist ein Mann, dessen Unglück darin besteht, sich in seinem Wollen und Tun vollständig undurchsichtig zu sein. Die erzählerische Leistung besteht darin, diese innere Undurchsichtigkeit in scharfen Konturen sichtbar zu machen, ohne sie in psychologischen Kommentaren, die nur flach ausfallen könnten, beim Namen zu nennen.
So ist es auch mit Henrys sonderbarer Beziehung zu einer Frau, die dem Leser lange Zeit als die ehemalige Geliebte des großen Bruders gilt. Man versteht nicht, wie Henry meinen kann, diese Frau könnte - jenseits der erotischen Anziehungskraft - zu einem Teil seines Lebens werden. Man versteht es nicht, weil Henry es nicht versteht. Erst als die Wahrheit über die Frau ans Licht kommt, zerbricht die Beziehung, und Henry wird frei für die Liebe zum einstmaligen Nachbarskind, eine Liebe, welche das erstarrte Verhältnis zur Mutter aufzubrechen und ihn schließlich doch auf dem englischen Gut festzuhalten vermag.
Zuerst dachte ich: Das geht zu schnell und ist ein unpassendes Happy-End. Wiederum war es beim zweiten Lesen, daß sich der Eindruck veränderte: Daß es zu schnell geht, ist die Pointe, und es handelt sich nur scheinbar um ein Happy-End. In Wirklichkeit bleibt Iris Murdoch beim Thema der Zerrissenheit der Menschen. Henry ist sich trotz glücklicher Empfindungen in der neuen Beziehung so fremd wie in allen vorherigen. Und eigentlich steckt noch mehr dahinter: Iris Murdoch stellt den Gedanken des Glücks insgesamt auf den Prüfstand.
Was kann Glück sein, wenn wir nicht mehr sind als ein Kaleidoskop von flüchtigem Erleben, in dem sich jedesmal, wenn wir durch die äußeren Umstände durchgeschüttelt werden, ein ganz anderes Bild von uns selbst ergibt? In "Der schwarze Prinz" steht: "Jeder Mensch, auch der größte, kann in einem einzigen Augenblick zerbrochen werden und hat keine Zuflucht. Jede Theorie, die das leugnet, ist eine Lüge . . . In Wahrheit kann man weiter nichts tun als die Tränen trocknen und den endlosen Kampf um die Freiheit kämpfen."
Religion und Kunst sind Antworten auf die menschliche Zerrissenheit. Iris Murdoch, die in Oxford viele Jahre Philosophie unterrichtete, hat darüber nicht nur erzählerisch, sondern auch theoretisch nachgedacht (zuletzt in dem Penguin Book "Metaphysics as a Guide to Morals" von 1992). Und einige von diesen Gedanken fließen in die zweite Hauptfigur des Romans ein, in den Priester Cato, der den Glauben verliert. "Eines Morgens erwachte Cato mit der sicheren Überzeugung, daß er sich geirrt hatte und daß es keinen Gott gab."
Dieser Verlust ist auf vertrackte und (wiederum gewollt) undurchsichtige Weise mit der Liebe zu Joe, einem schönen Jungen, verwoben. Die Liebe zerbricht in genau dem Moment, wo Cato (auch) ihretwegen die Soutane ablegt. Es ist ein Bruch mit dramatischen Folgen, die den Roman im letzten Drittel zu einer Kriminalgeschichte werden lassen. Denn Joe, der den Anblick des Paters in Zivil nicht erträgt, nimmt ihn als Geisel, um vom reichen Henry Geld zu erpressen. Als auch Catos Schwester zur Geisel wird, gelingt Cato die Befreiung, und er erschlägt den geliebten Jungen. Eine Geschichte also, die vom Absturz eines einst Gläubigen in eine gewalttätige, wenn auch gerechtfertigte Tat handelt. Eine Geschichte auch, die fehlenden Mut zum Thema hat, denn Joes Geiselnahme erweist sich nachträglich als Bluff, der durch eine mutige Haltung vielleicht aufgeflogen wäre, ohne daß Blut hätte fließen müssen.
Catos Glaubensverlust beschäftigt Iris Murdoch bis zum Schluß. Was macht Cato mit der zurückgebliebenen Leere, die durch den Totschlag noch größer und bedrückender geworden ist? Der Roman endet mit einem der vielen Gespräche zwischen Cato und seinem geistlichen Mentor, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Iris Murdoch hat nicht den Fehler gemacht, sie zu abstrakten philosophischen Gesprächen werden zu lassen. Sie sind voll von ironischen, ja schnoddrigen Pointen, und plötzlich fallen Sätze von großer Tiefe wie: "Wo die Bilder enden, stürzt man in den Abgrund, aber es ist der Abgrund des Glaubens. Wenn einem nichts mehr bleibt, ist einem nichts geblieben als die Hoffnung." In solchen Sätzen wird eine der Leitfragen sichtbar, welche die Philosophin Murdoch beschäftigten: Was könnte es heißen, nach dem Zerbrechen der christlichen Bilderwelt und jenseits der darin verwurzelten Dogmen noch ein Christ zu sein?
Auch wenn "Henry und Cato" einfacher gestrickt ist als "Der schwarze Prinz": Dieses Buch ist ein gutes Beispiel für das, was ein Roman ist, im Unterschied zu einer langen Erzählung. Eine Autorin schafft durch Sätze eine Welt, in der man sich einrichtet. Das Erzählen kreist die Figuren ein, macht sie dichter und verleiht ihnen Tiefe. Es ist ein altmodisches Erzählen, das sich Zeit nimmt und vom Leser erwartet, daß er sich auf dieses Tempo einläßt. Beide Bücher erinnern an den klassischen englischen Roman. Jane Austen, George Eliot und Charles Dickens sind nicht weit. Und manchmal habe ich gedacht: Iris Murdoch ist eine Art englischer Balzac, nur reflektierter.
Dem Deuticke Verlag ist zu danken, daß er uns diese beiden großen Romane aus den siebziger Jahren in schöner Aufmachung und guter, teilweise brillanter Übersetzung in Erinnerung gebracht hat.
Iris Murdoch: "Der schwarze Prinz". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Stefanie Schaffer-de-Vries. 528 S., geb., 48,- DM.
Iris Murdoch: "Henry und Cato". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Mechthild Sandberg-Ciletti. 494 S., geb., 39,- DM. Beide Bücher Deuticke Verlag, Wien/München 1998.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main