England hat einen historischen Sommer hinter sich, die Nation ist gespalten, Angst macht sich breit. In diesem Herbst ist Daniel ein Jahrhundert alt. Elisabeth, Anfang dreißig, kennt ihn von früher, der Nachbar hat sie als Kind mit der Kunst bekannt gemacht. Jetzt besucht sie ihn im Altersheim, liest ihm Bücher vor und fragt sich, was die Zukunft bringen mag ... Der erste Roman aus Ali Smiths Jahreszeitenquartett erzählt von einer Welt, die immer abgeschotteter und exklusiver wird. Und er erzählt vom Altern, von der Zeit und von der Liebe. Von uns.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Johannes Kaiser hält Ali Smiths neuen Roman für ein "Juwel britischer Literatur". Berührend und poetisch findet er, wie die Autorin das Sterben eines Mannes aus Sicht seiner viel jüngeren Lebensfreundin schildert. Dass Smith Aktuelles, wie die Brexit-Debatte oder das Erstarken rassistischer Tendenzen in Großbritannien auf bissige Weise mit in den Text einbindet, gefällt Kaiser gut. Wortspiele, farbige Bilder, Shakespeare-Bezüge und eine gelungene Übersetzung runden den insgesamt positiven Eindruck ab, den Kaiser von diesem Roman bekommt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2019Ein Zaun wächst hoch
Mehr als ein Brexit-Roman: Ali Smiths "Herbst" erzählt von der Schönheit eines gelebten Lebens im Angesicht der Verunsicherung.
Von Elena Witzeck
Zwei Leben. Eines, das auf sein Ende zugeht und von der Erinnerung zehrt. Eines, das gerade so richtig loslegen könnte, frei und fertig für die Welt, das aber die Last der Zukunft trägt und mitverfolgen muss, wie aus einer Gesellschaft der Freigeister eine voller Niedertracht und Egoismus wird, wie die Pedanterie von Behörden das Dasein bestimmt. Es gibt nur einen Raum, in dem sie gemeinsam vorwärts- und zurückblicken können, wo ihre Erinnerungen ineinanderschwappen und das Erspürte genauso viel Raum bekommt wie das tatsächlich Erlebte: das Krankenzimmer des Alten.
Mr Gluck wird Elisabeths Nachbar, als sie, zehn Jahre alt, mit ihrer Mutter umzieht. Es heißt, er sei uralt, aber wie er die Beine unterschlägt, am Kanal entlangspaziert und sich seiner Uhr mit einem gezielten Wurf entledigt, nur weil ihm danach ist, wie er Geschichten entwirft - all das lässt sein wahres Alter erahnen. Er lenkt Elisabeths Blick von der überforderten Mutter auf Literatur und Kunst, die er ihr beschreibt, und er zeigt ihr ein erträglicheres Bild der Welt. "Niemand sprach wie Daniel. Niemand schwieg wie Daniel."
Aber man kann diese Geschichte von Ali Smith, der in Cambridge lebenden schottischen Autorin, nicht anhand ihrer äußeren Handlung begreifen. "Herbst" ist keine Erzählung mit Ursprung und Ziel, keine merkwürdige Liebes- oder Coming-of-Age-Geschichte und viel mehr als ein "Brexit-Roman" - dieses neue Genre britischer Literatur, das die Leute lesen, um zu verstehen, was ihnen im Alltag unerklärlich bleibt, ein Begriff, der es natürlich auch auf den Klappentext von "Herbst" geschafft hat, jetzt, wo der Roman auf Deutsch erschienen ist.
Der Sommer, in dem das Vereinigte Königreich für den Austritt aus der EU stimmte, scheint lange her. Es war der Sommer 2016, als Smith begann, an einem größeren Projekt zu arbeiten. Vier Bücher in vier Jahren, ein Jahreszeitenquartett. "Herbst" ist der erste Band, und dass er erst jetzt (in behutsamer Übersetzung von Silvia Morawetz) auf Deutsch vorliegt, nachdem auf Englisch schon zwei weitere Bände erschienen sind, Regierungen ausgewechselt, ungezählte neue Brexit-Szenarien in Umlauf gebracht und wieder verworfen wurden, könnte man nachlässig nennen, denn immerhin heißt es bei Smith: "Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten das Richtige und andere hätten das Falsche getan." Da werden Unterhausabgeordnete umgebracht, da bemerkt die Protagonistin, es sei "das Ende des Gesprächs", und überlegt, wann genau sich alle geändert haben und wie lange das schon so geht. Lange.
Aber dann ist man wieder froh, diesen Roman nicht 2016 gelesen zu haben, in der Verwirrung der ersten Zeit, und überhaupt, bis man verstanden hat, wer da wann spricht und träumt, wo die Zeit den alten Mann und die mittellose Kunstgeschichtsdozentin wieder zusammenführt, ist man schon fast bei der Hälfte des Romans angelangt. Smith spielt mit den Zeitebenen, mit dem inneren Erleben. Ihre Beschreibungen der gesellschaftlichen Spaltung haben immer wieder etwas dystopisch Überzeichnetes: Spanische Urlauber werden, gerade am Flughafen gelandet, lautstark beschimpft und zur Umkehr aufgefordert. Ist das die Welt der Abschottung, die uns erwartet? Oder das Anstehen am Postamt, der Wahnsinn der Brexit-Bürokraten: Weil ihre Augen zu klein sind und ihr Kopf die falsche Form hat, erlebt Elisabeth kafkaeske Szenen, wartet Monate auf ihren Pass. Und an der Grenze wächst der Maschendrahtzaun.
Ali Smith stand schon viermal auf der Shortlist des Man Booker Prize. Das hat mit der Kraft ihrer Sprache zu tun, mit einem Denken in Bildern und Refrains, in Satzfragmenten, das die Unruhe ihrer Protagonisten beschreibt. "Don Juan. Momentan. Blödian. Lebensbahn. Veteran im Liebeswahn. Zu profan. Mein lieber Schwan": Wie ein alter Mensch mit geschlossenen Augen sein Leben durchforstet, wie er seine Jugend zurückholt und die Frau, die ihn nie erhörte, die vergessene und nun von Smith wiederentdeckte Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty, die früh an Krebs starb, wie sich alles in seinem Kopf verwebt und trotz äußerer Verunsicherung ein bestechend schönes Bild entsteht, das ist große Schreibkunst.
Man kann den Brexit literarisch verhandeln, Anlass gibt es genug. Man kann aber auch über das, was uns zusammenhält, schreiben und das, was uns trennt, in einer Chronik unserer Zeit und damit mehr sagen. Momentan schreibt Smith an "Summer", dem Finale des Jahreszeitenquartetts, angekündigt für Sommer 2020.
Ali Smith: "Herbst". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr als ein Brexit-Roman: Ali Smiths "Herbst" erzählt von der Schönheit eines gelebten Lebens im Angesicht der Verunsicherung.
Von Elena Witzeck
Zwei Leben. Eines, das auf sein Ende zugeht und von der Erinnerung zehrt. Eines, das gerade so richtig loslegen könnte, frei und fertig für die Welt, das aber die Last der Zukunft trägt und mitverfolgen muss, wie aus einer Gesellschaft der Freigeister eine voller Niedertracht und Egoismus wird, wie die Pedanterie von Behörden das Dasein bestimmt. Es gibt nur einen Raum, in dem sie gemeinsam vorwärts- und zurückblicken können, wo ihre Erinnerungen ineinanderschwappen und das Erspürte genauso viel Raum bekommt wie das tatsächlich Erlebte: das Krankenzimmer des Alten.
Mr Gluck wird Elisabeths Nachbar, als sie, zehn Jahre alt, mit ihrer Mutter umzieht. Es heißt, er sei uralt, aber wie er die Beine unterschlägt, am Kanal entlangspaziert und sich seiner Uhr mit einem gezielten Wurf entledigt, nur weil ihm danach ist, wie er Geschichten entwirft - all das lässt sein wahres Alter erahnen. Er lenkt Elisabeths Blick von der überforderten Mutter auf Literatur und Kunst, die er ihr beschreibt, und er zeigt ihr ein erträglicheres Bild der Welt. "Niemand sprach wie Daniel. Niemand schwieg wie Daniel."
Aber man kann diese Geschichte von Ali Smith, der in Cambridge lebenden schottischen Autorin, nicht anhand ihrer äußeren Handlung begreifen. "Herbst" ist keine Erzählung mit Ursprung und Ziel, keine merkwürdige Liebes- oder Coming-of-Age-Geschichte und viel mehr als ein "Brexit-Roman" - dieses neue Genre britischer Literatur, das die Leute lesen, um zu verstehen, was ihnen im Alltag unerklärlich bleibt, ein Begriff, der es natürlich auch auf den Klappentext von "Herbst" geschafft hat, jetzt, wo der Roman auf Deutsch erschienen ist.
Der Sommer, in dem das Vereinigte Königreich für den Austritt aus der EU stimmte, scheint lange her. Es war der Sommer 2016, als Smith begann, an einem größeren Projekt zu arbeiten. Vier Bücher in vier Jahren, ein Jahreszeitenquartett. "Herbst" ist der erste Band, und dass er erst jetzt (in behutsamer Übersetzung von Silvia Morawetz) auf Deutsch vorliegt, nachdem auf Englisch schon zwei weitere Bände erschienen sind, Regierungen ausgewechselt, ungezählte neue Brexit-Szenarien in Umlauf gebracht und wieder verworfen wurden, könnte man nachlässig nennen, denn immerhin heißt es bei Smith: "Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten das Richtige und andere hätten das Falsche getan." Da werden Unterhausabgeordnete umgebracht, da bemerkt die Protagonistin, es sei "das Ende des Gesprächs", und überlegt, wann genau sich alle geändert haben und wie lange das schon so geht. Lange.
Aber dann ist man wieder froh, diesen Roman nicht 2016 gelesen zu haben, in der Verwirrung der ersten Zeit, und überhaupt, bis man verstanden hat, wer da wann spricht und träumt, wo die Zeit den alten Mann und die mittellose Kunstgeschichtsdozentin wieder zusammenführt, ist man schon fast bei der Hälfte des Romans angelangt. Smith spielt mit den Zeitebenen, mit dem inneren Erleben. Ihre Beschreibungen der gesellschaftlichen Spaltung haben immer wieder etwas dystopisch Überzeichnetes: Spanische Urlauber werden, gerade am Flughafen gelandet, lautstark beschimpft und zur Umkehr aufgefordert. Ist das die Welt der Abschottung, die uns erwartet? Oder das Anstehen am Postamt, der Wahnsinn der Brexit-Bürokraten: Weil ihre Augen zu klein sind und ihr Kopf die falsche Form hat, erlebt Elisabeth kafkaeske Szenen, wartet Monate auf ihren Pass. Und an der Grenze wächst der Maschendrahtzaun.
Ali Smith stand schon viermal auf der Shortlist des Man Booker Prize. Das hat mit der Kraft ihrer Sprache zu tun, mit einem Denken in Bildern und Refrains, in Satzfragmenten, das die Unruhe ihrer Protagonisten beschreibt. "Don Juan. Momentan. Blödian. Lebensbahn. Veteran im Liebeswahn. Zu profan. Mein lieber Schwan": Wie ein alter Mensch mit geschlossenen Augen sein Leben durchforstet, wie er seine Jugend zurückholt und die Frau, die ihn nie erhörte, die vergessene und nun von Smith wiederentdeckte Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty, die früh an Krebs starb, wie sich alles in seinem Kopf verwebt und trotz äußerer Verunsicherung ein bestechend schönes Bild entsteht, das ist große Schreibkunst.
Man kann den Brexit literarisch verhandeln, Anlass gibt es genug. Man kann aber auch über das, was uns zusammenhält, schreiben und das, was uns trennt, in einer Chronik unserer Zeit und damit mehr sagen. Momentan schreibt Smith an "Summer", dem Finale des Jahreszeitenquartetts, angekündigt für Sommer 2020.
Ali Smith: "Herbst". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
272 S., geb., 22,- [Euro].
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»Ali Smith findet prächtige, farbmächtige Bilder für den Zustand ihrer Protagonisten. Ein berührendes, umwerfendes Juwel britischer Literatur, beeindruckend übersetzt von Silvia Morawetz.« Johannes Kaiser / Deutschlandfunk Kultur