Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2007Engel im Gucci-Look
Absurditäten in Zeiten des Kapitalismus: Andrej Kurkow, der im Westen meistverkaufte ukrainische Autor, empfiehlt dem Leser: Hilf dir, dann hilft dir Gott.
Die Ukraine ist zwar nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber doch ein Land, in dem alles möglich ist. Da streuen Lastwagen im Herbst malerisch Laub auf die Straßen, weil die Städter im letzten Winter alle Bäume abgesägt haben. Von geheimnisvollen Telefonzellen aus kann man ins Jenseits telefonieren oder "eine neue Route des Extremtourismus" namens "Russisches Roulette" ausprobieren. Unter Umständen wird einem auch im Lokal die Asche Verstorbener serviert, oder man soll an der Grenze seine frisch implantierte Leber wieder hergeben. All das passiert im Erzählungsband "Herbstfeuer" des 1961 in Petersburg geborenen Andrej Kurkow. Der russisch schreibende, in Kiew und London lebende Romancier und Drehbuchautor ist heute der im Westen meistverkaufte ukrainische Schriftsteller.
Es ist eine Spezialität von dessen komischer, absurder Erzählkunst, die Dinge einfach darzustellen und im Plauderton vorzutragen. Gern fangen die Geschichten so an: "Vom Himmel torkelten die Flocken, weich und träge wie ein von der ukrainischen Gastfreundschaft überwältigter irischer Tourist." Keine großen Tiere, aber viele kleine Leute gibt es darin. Man stellt sie sich unwillkürlich wie Figuren auf naiven Bildern vor. Doch die Harmlosigkeit täuscht. In lakonischem Ton wird von Mord und Totschlag, Mafia und Organhandel, Tschernobyl und ungebremstem Kapitalismus berichtet. Erzählpanoramen bietet Kurkow nicht. Nur die Gegenwart zählt. Das entspricht den Verhältnissen in der Ukraine. Man muss sich selbst helfen.
Das tut auch Oma Olja in der symbolträchtigen Titelerzählung "Herbstfeuer", die wörtlich übersetzt "Aus Sicht des Grases" hieße. Oljas Mann Fjodor hat den Kapitalismus entdeckt. Er bedient sich nicht nur wie alle anderen zum Eigenbedarf am Fischteich der örtlichen Kolchose, sondern will, gegen Oljas Willen, durch Trockenfisch reich werden. Eines Tages verschwindet ihr Mann spurlos. Monate später klettert ein vermeintlicher Einbrecher nachts über den Zaun. Olja ersticht ihn - natürlich ist es Fjodor - mit der Heugabel. Ihr größtes Problem besteht nun darin, den Leichnam loszuwerden. In "Weihnachtsüberraschung" organisiert ein dubioser Afghanistan-Veteran in der Ukraine Touren "vom dreitägigen Gefängnisaufenthalt (. . .) bis zur Missionierungsreise katholischer Priester von den Philippinen . . ." Der von dörflicher Weihnachtsfolklore sanft eingelullte Ich-Erzähler wähnt sich auf einmal in der Todeszone von Tschernobyl.
Bisweilen anklingende Märchentöne ironisiert Kurkow flugs durch Einsprengsel aus der Warenwelt: Bei einer tollkühnen Zeppelinfahrt helfen zwei Engel im schneeweißen Gucci-Look bei einer Geburt, und dank eines neuen Telefonanbieters kann ein Junge seiner toten Freundin ins Jenseits folgen. Absurdes Theater ist die letzte Geschichte: Auf einem Klavierfriedhof trauern ein paar Männer um die "große russische Kultur". Einer davon ist der unglückliche Kulturminister, den soeben eine "Anordnung über die Zusammenlegung des Kulturministeriums mit dem Ministerium für Konsumentenschutz und über die Liquidierung aller dem Kulturministerium unterstellten Einrichtungen" erreicht hat.
Schade, dass vieles von dem, was Kurkow in Andeutungen verpackt, für den westlichen Leser unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben könnte. Es ist ein echtes Problem in der Ukraine (wenn auch nicht nur dort), dass Restaurants, Apotheken, Supermärkte wie Pilze aus dem Boden schießen (und ja auch alle etwas verkaufen wollen), aber das Engagement vor der Ladentür aufhört und schon gar niemand in die Produktion investieren will. Die grotesken Erlebnistouren in ehemalige Lager und Gefängnisse gibt es wirklich, ebenso wie ausländische Kirchen und Sekten, die im großen Stil missionieren und fleißig leer stehende Kirchen aufkaufen.
Keine Frage, Andrej Kurkow weiß unterhaltsam und kurzweilig zu erzählen. Offen bleibt allerdings, warum die Protagonisten immer gar so kleine Lichter, "Gras" sozusagen, sein müssen. Ob Bauer, Politiker, Schriftsteller - alle sind irgendwie unglücklich involviert und scheinen eher aus Notwehr zu handeln. Wer zieht eigentlich die Strippen in diesem Spiel?
JUDITH LEISTER
Andrej Kurkow: "Herbstfeuer". Erzählungen.
Aus dem Russischen übersetzt von Angelika Schneider. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 233 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Absurditäten in Zeiten des Kapitalismus: Andrej Kurkow, der im Westen meistverkaufte ukrainische Autor, empfiehlt dem Leser: Hilf dir, dann hilft dir Gott.
Die Ukraine ist zwar nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, aber doch ein Land, in dem alles möglich ist. Da streuen Lastwagen im Herbst malerisch Laub auf die Straßen, weil die Städter im letzten Winter alle Bäume abgesägt haben. Von geheimnisvollen Telefonzellen aus kann man ins Jenseits telefonieren oder "eine neue Route des Extremtourismus" namens "Russisches Roulette" ausprobieren. Unter Umständen wird einem auch im Lokal die Asche Verstorbener serviert, oder man soll an der Grenze seine frisch implantierte Leber wieder hergeben. All das passiert im Erzählungsband "Herbstfeuer" des 1961 in Petersburg geborenen Andrej Kurkow. Der russisch schreibende, in Kiew und London lebende Romancier und Drehbuchautor ist heute der im Westen meistverkaufte ukrainische Schriftsteller.
Es ist eine Spezialität von dessen komischer, absurder Erzählkunst, die Dinge einfach darzustellen und im Plauderton vorzutragen. Gern fangen die Geschichten so an: "Vom Himmel torkelten die Flocken, weich und träge wie ein von der ukrainischen Gastfreundschaft überwältigter irischer Tourist." Keine großen Tiere, aber viele kleine Leute gibt es darin. Man stellt sie sich unwillkürlich wie Figuren auf naiven Bildern vor. Doch die Harmlosigkeit täuscht. In lakonischem Ton wird von Mord und Totschlag, Mafia und Organhandel, Tschernobyl und ungebremstem Kapitalismus berichtet. Erzählpanoramen bietet Kurkow nicht. Nur die Gegenwart zählt. Das entspricht den Verhältnissen in der Ukraine. Man muss sich selbst helfen.
Das tut auch Oma Olja in der symbolträchtigen Titelerzählung "Herbstfeuer", die wörtlich übersetzt "Aus Sicht des Grases" hieße. Oljas Mann Fjodor hat den Kapitalismus entdeckt. Er bedient sich nicht nur wie alle anderen zum Eigenbedarf am Fischteich der örtlichen Kolchose, sondern will, gegen Oljas Willen, durch Trockenfisch reich werden. Eines Tages verschwindet ihr Mann spurlos. Monate später klettert ein vermeintlicher Einbrecher nachts über den Zaun. Olja ersticht ihn - natürlich ist es Fjodor - mit der Heugabel. Ihr größtes Problem besteht nun darin, den Leichnam loszuwerden. In "Weihnachtsüberraschung" organisiert ein dubioser Afghanistan-Veteran in der Ukraine Touren "vom dreitägigen Gefängnisaufenthalt (. . .) bis zur Missionierungsreise katholischer Priester von den Philippinen . . ." Der von dörflicher Weihnachtsfolklore sanft eingelullte Ich-Erzähler wähnt sich auf einmal in der Todeszone von Tschernobyl.
Bisweilen anklingende Märchentöne ironisiert Kurkow flugs durch Einsprengsel aus der Warenwelt: Bei einer tollkühnen Zeppelinfahrt helfen zwei Engel im schneeweißen Gucci-Look bei einer Geburt, und dank eines neuen Telefonanbieters kann ein Junge seiner toten Freundin ins Jenseits folgen. Absurdes Theater ist die letzte Geschichte: Auf einem Klavierfriedhof trauern ein paar Männer um die "große russische Kultur". Einer davon ist der unglückliche Kulturminister, den soeben eine "Anordnung über die Zusammenlegung des Kulturministeriums mit dem Ministerium für Konsumentenschutz und über die Liquidierung aller dem Kulturministerium unterstellten Einrichtungen" erreicht hat.
Schade, dass vieles von dem, was Kurkow in Andeutungen verpackt, für den westlichen Leser unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben könnte. Es ist ein echtes Problem in der Ukraine (wenn auch nicht nur dort), dass Restaurants, Apotheken, Supermärkte wie Pilze aus dem Boden schießen (und ja auch alle etwas verkaufen wollen), aber das Engagement vor der Ladentür aufhört und schon gar niemand in die Produktion investieren will. Die grotesken Erlebnistouren in ehemalige Lager und Gefängnisse gibt es wirklich, ebenso wie ausländische Kirchen und Sekten, die im großen Stil missionieren und fleißig leer stehende Kirchen aufkaufen.
Keine Frage, Andrej Kurkow weiß unterhaltsam und kurzweilig zu erzählen. Offen bleibt allerdings, warum die Protagonisten immer gar so kleine Lichter, "Gras" sozusagen, sein müssen. Ob Bauer, Politiker, Schriftsteller - alle sind irgendwie unglücklich involviert und scheinen eher aus Notwehr zu handeln. Wer zieht eigentlich die Strippen in diesem Spiel?
JUDITH LEISTER
Andrej Kurkow: "Herbstfeuer". Erzählungen.
Aus dem Russischen übersetzt von Angelika Schneider. Diogenes Verlag, Zürich 2007. 233 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Christian Thomas stellt in der Reihe der "kleinen Ukraine-Bibliothek" die 2009 erschienene Erzählungssammlung "Herbstfeuer" von Andrej Kurkow vor. Mit bizarren, grotesken und phantastischen Geschichten warte der Autor auf, erfahren wir, mal eine weihnachtliche Geburt, mal ein Schriftsteller, der die Reaktionen auf seinen Tod miterleben möchte, immer begleitet von zwei Engeln, die dem Rezensenten absolut lebensecht erscheinen. Detailreich und trotz aller Phantastik nah an der ukrainischen gesellschaftlichen Realität und ihren Problemen seit dem Ende der Sowjetunion, findet Thomas diese "Nekrologe auf eine Übergangszeit" und empfiehlt gleich noch weitere Bücher von Kurkow.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Andrej Kurkow hat diese gewissen Nebensätze, die so lakonisch sind, dass man von ihm sogar die Gebrauchsanweisung eines Rasenmähers lesen würde.« Bettina Göcmener / Die Welt Die Welt