Herbst, das ist die Zeit, in der man den Sommer noch nicht vergessen hat, aber darüber nachdenkt, was man gern zu Weihnachten geschenkt bekommen möchte. Und für jeden Tag dieser Dazwischenzeit gibt es eine kurze Geschichte: von berufsmüden Kobolden, frierenden Krokodilen, verliebten Fröschen, harmlosen Alpträumen und unterm Laub versteckten Geheimnissen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Die geheimen Sehnsüchte der Nagetiere
Verspielt und unerschöpflich: Solotareffs "Herbstgeschichten"
Von hintersinnigen, humorvollen Kindergeschichten, aus denen man auch etwas lernen kann, wird gerne gesagt, sie seien mit einem Augenzwinkern geschrieben. Auch die "Herbstgeschichten" von Grégoire Solotareff sind hintersinnig, humorvoll und lehrreich. Aber sie treffen den Leser wie der Augenaufschlag eines Kindergartenkindes, das von irgendeiner Arbeit aufschaut und einen mit unverwandtem, konzentrierten Blick erwischt.
Wir schätzen Grégoire Solotareff als Bilderbuchkünstler, der leuchtende, energische Bilder zu Geschichten malt, die meist von großen Tieren handeln und ein bißchen therapeutisch sind. Mit seinen "Herbstgeschichten" aber wird klar, daß wir Solotareff bisher kaum kannten. Auf den ersten Blick sind sie nicht weiter auffällig: Geschichten von Mäusen, Eichhörnchen und Kobolden sind ja keine Seltenheit in der Kinderliteratur. Fast könnte man es perfide nennen, wie Solotareff das sattsam bekannte Genre der Kleintiergeschichte ausnutzt, um seine Botschaften verdeckt zu transportieren; fast - wenn die Texte nicht so liebenswert wären. Außerdem gibt es gar keine richtigen Botschaften. Manchmal eine Erkenntnis, manchmal ein kleiner Schreck des Verstehens.
Es ist ein Kalenderbuch: Angefangen mit dem 23. September, gibt es für jeden Herbsttag eine Geschichte, höchstens zwei Seiten lang, mit Datum. Sie knüpfen nicht aneinander an, spielen aber im selben Milieu: unter den kleinen Tieren, die im Herbst im Laub herumstöbern, angereichert mit ein paar Kobolden und hier und da einer Hexe. Solotareff erhält ihnen ihre Umgebung, läßt sie aber mit einer umwerfenden Selbstverständlichkeit wie erwachsene Menschen auftreten. Das ist überraschend in einer Bilderbuchwelt voller großer Tiere - allen voran der Bären -, die sich meist wie kleine Kinder verhalten. Der kindliche Blickwinkel wird so um etwas Wesentliches erweitert: die Freuden und Nöte, die Sehnsüchte, Ungewißheiten und inneren Feste der Großen.
Gerade im Herbst sind ja die meisten Tage Alltage. Und an den Feiertagen hat man oft schlechte Laune. "Ein wahrlich blödes Allerheiligen" ist der Titel für die Geschichte zum ersten November. Sie erzählt vom Kröterich Arno, der sich endlich ein Herz faßt und seine Angebetete Julia einlädt, seinen tollen Whirlpool mitzubenutzen. Sie kommt auch, aber die Sache geht ärgerlich aus. Auch andere Tiere sind oft mißmutig, und man versteht, warum. Einige wenige glückliche Wesen gibt es, der Rest ist auf der Suche. Wir lernen Paare kennen, resignierte, frischverliebte und solche dazwischen. Da ist Mina, deren Mann Franz wieder einmal ihren Geburtstag vergessen hat. Still sitzt sie abends mit ihm bei der Versöhnungs-Moossuppe in der Kneipe, und plötzlich weiß man: Es sind die Kinder, die den beiden Mäusen fehlen, Kinder sollten sie haben. Es wird viel darüber nachgedacht, welche Leute zusammenpassen. Ein wichtiges Thema ist auch die Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit. Es drängt sich bei oft gejagten Tieren auf, erst recht, wenn sie einem gepflegten, wohlgenährten Haustier begegnen. Man hat dann einander nicht viel zu sagen.
So geht der Herbst ins Land, mit halbwegs normalen Ereignissen und solchen, wie sie auf den Zeitungsseiten mit den "Vermischten Meldungen" stehen. Gegen Weihnachten lernen wir einen sehr lässigen Weihnachtsmann kennen. Solotareff erzählt mit einem reichen, neu-alt gemischten Wortschatz und im knappen Parlando, von Werner Leonhard meisterhaft übersetzt. Wenige Bücher sind so verspielt und unerschöpflich. Zum Glück sollen noch drei kommen: für den Winter, den Frühling und den Sommer.
MONIKA OSBERGHAUS
Grégoire Solotareff: "Herbstgeschichten". Aus dem Französischen von Werner Leonhard. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2001. 192 S., geb., 22,- DM. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verspielt und unerschöpflich: Solotareffs "Herbstgeschichten"
Von hintersinnigen, humorvollen Kindergeschichten, aus denen man auch etwas lernen kann, wird gerne gesagt, sie seien mit einem Augenzwinkern geschrieben. Auch die "Herbstgeschichten" von Grégoire Solotareff sind hintersinnig, humorvoll und lehrreich. Aber sie treffen den Leser wie der Augenaufschlag eines Kindergartenkindes, das von irgendeiner Arbeit aufschaut und einen mit unverwandtem, konzentrierten Blick erwischt.
Wir schätzen Grégoire Solotareff als Bilderbuchkünstler, der leuchtende, energische Bilder zu Geschichten malt, die meist von großen Tieren handeln und ein bißchen therapeutisch sind. Mit seinen "Herbstgeschichten" aber wird klar, daß wir Solotareff bisher kaum kannten. Auf den ersten Blick sind sie nicht weiter auffällig: Geschichten von Mäusen, Eichhörnchen und Kobolden sind ja keine Seltenheit in der Kinderliteratur. Fast könnte man es perfide nennen, wie Solotareff das sattsam bekannte Genre der Kleintiergeschichte ausnutzt, um seine Botschaften verdeckt zu transportieren; fast - wenn die Texte nicht so liebenswert wären. Außerdem gibt es gar keine richtigen Botschaften. Manchmal eine Erkenntnis, manchmal ein kleiner Schreck des Verstehens.
Es ist ein Kalenderbuch: Angefangen mit dem 23. September, gibt es für jeden Herbsttag eine Geschichte, höchstens zwei Seiten lang, mit Datum. Sie knüpfen nicht aneinander an, spielen aber im selben Milieu: unter den kleinen Tieren, die im Herbst im Laub herumstöbern, angereichert mit ein paar Kobolden und hier und da einer Hexe. Solotareff erhält ihnen ihre Umgebung, läßt sie aber mit einer umwerfenden Selbstverständlichkeit wie erwachsene Menschen auftreten. Das ist überraschend in einer Bilderbuchwelt voller großer Tiere - allen voran der Bären -, die sich meist wie kleine Kinder verhalten. Der kindliche Blickwinkel wird so um etwas Wesentliches erweitert: die Freuden und Nöte, die Sehnsüchte, Ungewißheiten und inneren Feste der Großen.
Gerade im Herbst sind ja die meisten Tage Alltage. Und an den Feiertagen hat man oft schlechte Laune. "Ein wahrlich blödes Allerheiligen" ist der Titel für die Geschichte zum ersten November. Sie erzählt vom Kröterich Arno, der sich endlich ein Herz faßt und seine Angebetete Julia einlädt, seinen tollen Whirlpool mitzubenutzen. Sie kommt auch, aber die Sache geht ärgerlich aus. Auch andere Tiere sind oft mißmutig, und man versteht, warum. Einige wenige glückliche Wesen gibt es, der Rest ist auf der Suche. Wir lernen Paare kennen, resignierte, frischverliebte und solche dazwischen. Da ist Mina, deren Mann Franz wieder einmal ihren Geburtstag vergessen hat. Still sitzt sie abends mit ihm bei der Versöhnungs-Moossuppe in der Kneipe, und plötzlich weiß man: Es sind die Kinder, die den beiden Mäusen fehlen, Kinder sollten sie haben. Es wird viel darüber nachgedacht, welche Leute zusammenpassen. Ein wichtiges Thema ist auch die Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit. Es drängt sich bei oft gejagten Tieren auf, erst recht, wenn sie einem gepflegten, wohlgenährten Haustier begegnen. Man hat dann einander nicht viel zu sagen.
So geht der Herbst ins Land, mit halbwegs normalen Ereignissen und solchen, wie sie auf den Zeitungsseiten mit den "Vermischten Meldungen" stehen. Gegen Weihnachten lernen wir einen sehr lässigen Weihnachtsmann kennen. Solotareff erzählt mit einem reichen, neu-alt gemischten Wortschatz und im knappen Parlando, von Werner Leonhard meisterhaft übersetzt. Wenige Bücher sind so verspielt und unerschöpflich. Zum Glück sollen noch drei kommen: für den Winter, den Frühling und den Sommer.
MONIKA OSBERGHAUS
Grégoire Solotareff: "Herbstgeschichten". Aus dem Französischen von Werner Leonhard. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2001. 192 S., geb., 22,- DM. Ab 6 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main