Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2006Das Leben - vergänglich
John Berger stellt sich zum Achtzigsten unheimlichen Begegnungen
Vielleicht, so vermutet John Berger im ersten Kapitel seines neuen Buches, zeigen sich die Toten in Lissabon eher als anderswo; vielleicht, so der Erzähler von "Hier, wo wir uns begegnen", der an einem heißen Tag im Mai in Lissabon auf seine vor fünfzehn Jahren verstorbene Mutter trifft, mache die unvergeßliche Musik des Fado die portugiesische Hauptstadt zu einem besonderen "Haltepunkt für Tote". Die alte Frau sitzt unter ihrem aufgespannten Schirm auf einer Bank, und es gehört zu den charakteristischen Eigenschaften von Bergers Sensibilität, daß er - Augenblicke, bevor er sie schließlich erkennt - zuerst noch die Stille wahrnimmt, die seine Mutter umgibt.
Bergers Aufmerksamkeit richtet sich seit jeher nicht allein auf das Sichtbare, sondern auch auf dessen Aura, auf das Unsichtbare neben den Dingen, das doch untrennbar mit ihnen verbunden ist und sich nur dem inneren Auge zeigt. In "Hier, wo wir uns begegnen", seinem faszinierenden, die eigene Biographie umspielenden Erinnerungsbuch, läßt Berger Vergangenheit und Gegenwart zu Momenten von rätselhafter Zeitlosigkeit zusammenfließen, die ihren Ursprung in der vom Bewußtsein belebten Stille zu haben scheinen.
"Mit fünf oder sechs Jahren habe ich angefangen, mich vor dem Tod meiner Eltern zu fürchten", bekannte Berger in "Begegnungen und Abschiede", seinem 1991 veröffentlichten Essayband, in dem er auch das Sterben seiner Mutter beschrieb. Jetzt, im jüngsten Buch, beschreibt der Sohn, wie sie sich von der Parkbank erhebt und, außerhalb der Zeit, auf ihren Sohn zugeht. Und John Berger, der am gestrigen Sonntag achtzig Jahre geworden ist, empfängt sie so selbstverständlich wie einen willkommenen, der Stille des Schlafs entsprungenen Traum.
Berger spaziert mit seiner Mutter durch Lissabon und kauft auf einem Fischmarkt die Zutaten für ein Lieblingsgericht seines toten Vaters; in Genf hat er ein Rendezvous mit seiner Tochter Katya und besucht mit ihr Borges' Grab. Katya, so erinnert sich Berger, hatte sich mit seiner Mutter zu deren Lebzeiten gut verstanden, "denn schweigend waren sie beide tief davon überzeugt, daß der Sinn des Lebens nicht dort zu finden war, wohin man die Augen der Menschen lenkt. Nur im Verborgenen ist er zu finden", ergänzt Berger, der die Folge der scheinbar in sich abgeschlossenen Kapitel seines Buches äußerst hintergründig miteinander verknüpft: Nur das Verborgene, so einer der versteckten Fäden, die "Hier, wo wir uns begegnen" zusammenhalten, verleiht dem Sichtbaren seine wahre Gestalt.
In Krakau, im Londoner Stadtteil Islington und in der Grotte Chauvet in der französischen Ardèche, in Madrid ebenso wie im Südosten von Polen, wo sich für den Erzähler am Ufer des Flusses Szum abermals die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischt und die Erinnerungen an das Haus im Osten von London aufleben, in dem der 1926 geborene Berger die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte: In "Hier, wo wir uns begegnen" durchmißt John Berger den weiten Raum des Sichtbaren, an dessen vielfältigen Erscheinungen sich seine Identität prismatisch bricht, und spürt dabei den tiefgehenden Erfahrungen seines Lebens nach. Der Szum ist wie der Fluß, der durch den Garten seines Elternhauses floß und die offenen Wunden des von den Schrecken des Ersten Weltkrieges traumatisierten Vaters wusch. "In seinem Leben war der Fluß über Jahre hinweg das Beste gewesen und das wollte er mit mir teilen", schreibt Berger, der zu Hause in Highams Park, am Ufer des Ching, über den eine kleine Zugbrücke führte, dem Vater mit der ganzen unbändigen Stärke eines Kindes zur Seite stand.
"Immer wenn er die Zugbrücke hinunterließ, borgte er sich meine Unschuld und erinnerte sich an seine eigene, die - mit Ausnahme jener Samstagnachmittage - verloren war", so Berger, dessen Schilderung der prägenden Beziehung zu seinem Vater zu den eindringlichsten Erfahrungen des Buches zählt. "An diesen Samstagnachmittagen begann eine Unternehmung, die meinen Vater und mich bis zu seinem Tode verband und die ich nun alleine fortsetze."
Bergers Romane - darunter der 1972 mit dem Booker Prize ausgezeichnete "G.", die Trilogie "Von ihrer Hände Arbeit" und "King", die Geschichte zweier gealterter Obdachloser - sind von der gleichen "widerständigen Kraft der alltäglichen Zärtlichkeit", die Berger an den Bildern Vincent van Goghs bewundert; seine zahlreichen Essays, darunter "Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso", bezeugen einen ähnlich starken "Sinn für die Rätsel des Lebens", das gleiche von unaufgeregter Neugier und nachdenklicher Skepsis geleitete Mitgefühl, das John Berger vor allem im Ausdruck des von Velazquez gemalten Äsop erkennt. Der Anteilnahme, mit der er beispielsweise in "SauErde" die karge Existenz französischer Bauern beschreibt oder in "Geschichte eines Landarztes" das tägliche Leben in einer ländlichen Gegend am Rand der kapitalistischen Gesellschaft Englands, unterliegt dieselbe Ethik disziplinierter Menschlichkeit, die auch zwischen den Zeilen von Bergers neuem Buch aufscheint und den darin beschriebenen realen oder auch nur imaginären Begegnungen Präsenz und Wahrheit schenkt. In Krakau trifft er den in Neuseeland gestorbenen Ken, in Islington besucht er seinen Freund Hubert, um den vergessenen Namen eines Mädchens zu erfahren, das beide in den vierziger Jahren gekannt hatten.
Ken war einer der einflußreichsten Menschen in Bergers Leben, von ihm hatte er als Jugendlicher gelernt, "Grenzen zu überschreiten" und Bücher nicht allein mit den Augen, sondern mit der Wachheit und Empfindsamkeit aller Sinne zu lesen; mit Hubert, dessen Haus seit dem Tod seiner Frau von einer beredten Stille erfüllt ist, hatte Berger in den vierziger Jahren an derselben Kunstschule studiert. "Hubert", bemerkt er in einer der zahlreichen Charakterskizzen, die über die bloße Beobachtung des einzelnen hinausgehen und "Hier, wo wir uns begegnen" weniger zu einer selbstbezogenen Autobiographie als zu einer universalen Enzyklopädie menschlicher Erfahrung machen, "hatte schon immer zum Schweigen geneigt - als ob das Leben an einem Faden hinge, den ein dummes Wort durchtrennen könnte." Das Schweigen, die Stille, das Atmen, der Tod: Die behutsame Geste, mit der John Berger hier die Bilder seines Lebens berührt, stößt immer wieder durch die Membran der Sprache und tastet jenseits von ihr nach der wortlosen Existenz.
"Jedes Bild", so Berger in "Das Kunstwerk. Der Ort der Malerei", seinem Anfang der achtziger Jahre entstandenen Essay über das Verhältnis zwischen einem Gemälde und dem Raum, in dem es betrachtet wird, "beginnt mit dem Wort ,hier'." Jedes Bild, ergänzt er in "Begegnungen und Abschiede", biete eine greifbare, augenblickliche, unverbrüchliche, kontinuierliche Gegenwart. In "Hier, wo wir uns begegnen" - "Here Is Where We Meet": Schon der Titel evoziert die "sinnliche Spannung" der Körperlichkeit, die Berger in seinen Essays als ursprüngliche Qualität eines Bildes beschreibt - überführt er die Literatur in die Sphäre der Malerei; Bergers Prosa strebt anstrengungslos nach der gleichen Visualität und Greifbarkeit, die die Arbeit eines jeden Malers bedingt, und bewahrt die Gegenwart des Vergänglichen mit den Augen der Kunst.
Seine Mutter erhebt sich in Lissabon von der Bank und tritt langsam auf ihn zu; in einem Hotel in Madrid steigt sein kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verstorbener Lehrer langsam eine Treppe herab und ist jenseits von Zeit und Erinnerung eine visuelle Erfahrung von unmittelbarer Präsenz. Das Leben - vergänglich: So mahnen die Beschreibungen einiger Früchte, die Berger nach der Art eines Vanitas-Stillebens in die Mitte seines Buchs eingefügt hat. Bilder jedoch, davon erzählt schließlich nicht zuletzt das schöne Kapitel über die vor mehr als dreißigtausend Jahren entstandenen Malereien in der Tropfsteinhöhle bei Vallon-Pont d'Arc, überdauern die Zeit wie ein Fels. "Die Felszeichnungen", heißt es in "Hier, wo wir uns begegnen", John Bergers außergewöhnlichem und eigentlich sogar recht bedeutendem Buch, "sind, wo sie sind, damit sie im Dunkel existieren. Sie waren für das Dunkel gedacht, und sie wurden im Dunkel verborgen, damit das, was sie verkörpern, alles Sichtbare überdauern konnte und - vielleicht - ein Überleben verspricht."
THOMAS DAVID
John Berger: "Hier, wo wir uns begegnen". Aus dem Englischen übersetzt von Hans Jürgen Balmes. Carl Hanser Verlag, München 2006. 223 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John Berger stellt sich zum Achtzigsten unheimlichen Begegnungen
Vielleicht, so vermutet John Berger im ersten Kapitel seines neuen Buches, zeigen sich die Toten in Lissabon eher als anderswo; vielleicht, so der Erzähler von "Hier, wo wir uns begegnen", der an einem heißen Tag im Mai in Lissabon auf seine vor fünfzehn Jahren verstorbene Mutter trifft, mache die unvergeßliche Musik des Fado die portugiesische Hauptstadt zu einem besonderen "Haltepunkt für Tote". Die alte Frau sitzt unter ihrem aufgespannten Schirm auf einer Bank, und es gehört zu den charakteristischen Eigenschaften von Bergers Sensibilität, daß er - Augenblicke, bevor er sie schließlich erkennt - zuerst noch die Stille wahrnimmt, die seine Mutter umgibt.
Bergers Aufmerksamkeit richtet sich seit jeher nicht allein auf das Sichtbare, sondern auch auf dessen Aura, auf das Unsichtbare neben den Dingen, das doch untrennbar mit ihnen verbunden ist und sich nur dem inneren Auge zeigt. In "Hier, wo wir uns begegnen", seinem faszinierenden, die eigene Biographie umspielenden Erinnerungsbuch, läßt Berger Vergangenheit und Gegenwart zu Momenten von rätselhafter Zeitlosigkeit zusammenfließen, die ihren Ursprung in der vom Bewußtsein belebten Stille zu haben scheinen.
"Mit fünf oder sechs Jahren habe ich angefangen, mich vor dem Tod meiner Eltern zu fürchten", bekannte Berger in "Begegnungen und Abschiede", seinem 1991 veröffentlichten Essayband, in dem er auch das Sterben seiner Mutter beschrieb. Jetzt, im jüngsten Buch, beschreibt der Sohn, wie sie sich von der Parkbank erhebt und, außerhalb der Zeit, auf ihren Sohn zugeht. Und John Berger, der am gestrigen Sonntag achtzig Jahre geworden ist, empfängt sie so selbstverständlich wie einen willkommenen, der Stille des Schlafs entsprungenen Traum.
Berger spaziert mit seiner Mutter durch Lissabon und kauft auf einem Fischmarkt die Zutaten für ein Lieblingsgericht seines toten Vaters; in Genf hat er ein Rendezvous mit seiner Tochter Katya und besucht mit ihr Borges' Grab. Katya, so erinnert sich Berger, hatte sich mit seiner Mutter zu deren Lebzeiten gut verstanden, "denn schweigend waren sie beide tief davon überzeugt, daß der Sinn des Lebens nicht dort zu finden war, wohin man die Augen der Menschen lenkt. Nur im Verborgenen ist er zu finden", ergänzt Berger, der die Folge der scheinbar in sich abgeschlossenen Kapitel seines Buches äußerst hintergründig miteinander verknüpft: Nur das Verborgene, so einer der versteckten Fäden, die "Hier, wo wir uns begegnen" zusammenhalten, verleiht dem Sichtbaren seine wahre Gestalt.
In Krakau, im Londoner Stadtteil Islington und in der Grotte Chauvet in der französischen Ardèche, in Madrid ebenso wie im Südosten von Polen, wo sich für den Erzähler am Ufer des Flusses Szum abermals die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischt und die Erinnerungen an das Haus im Osten von London aufleben, in dem der 1926 geborene Berger die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte: In "Hier, wo wir uns begegnen" durchmißt John Berger den weiten Raum des Sichtbaren, an dessen vielfältigen Erscheinungen sich seine Identität prismatisch bricht, und spürt dabei den tiefgehenden Erfahrungen seines Lebens nach. Der Szum ist wie der Fluß, der durch den Garten seines Elternhauses floß und die offenen Wunden des von den Schrecken des Ersten Weltkrieges traumatisierten Vaters wusch. "In seinem Leben war der Fluß über Jahre hinweg das Beste gewesen und das wollte er mit mir teilen", schreibt Berger, der zu Hause in Highams Park, am Ufer des Ching, über den eine kleine Zugbrücke führte, dem Vater mit der ganzen unbändigen Stärke eines Kindes zur Seite stand.
"Immer wenn er die Zugbrücke hinunterließ, borgte er sich meine Unschuld und erinnerte sich an seine eigene, die - mit Ausnahme jener Samstagnachmittage - verloren war", so Berger, dessen Schilderung der prägenden Beziehung zu seinem Vater zu den eindringlichsten Erfahrungen des Buches zählt. "An diesen Samstagnachmittagen begann eine Unternehmung, die meinen Vater und mich bis zu seinem Tode verband und die ich nun alleine fortsetze."
Bergers Romane - darunter der 1972 mit dem Booker Prize ausgezeichnete "G.", die Trilogie "Von ihrer Hände Arbeit" und "King", die Geschichte zweier gealterter Obdachloser - sind von der gleichen "widerständigen Kraft der alltäglichen Zärtlichkeit", die Berger an den Bildern Vincent van Goghs bewundert; seine zahlreichen Essays, darunter "Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso", bezeugen einen ähnlich starken "Sinn für die Rätsel des Lebens", das gleiche von unaufgeregter Neugier und nachdenklicher Skepsis geleitete Mitgefühl, das John Berger vor allem im Ausdruck des von Velazquez gemalten Äsop erkennt. Der Anteilnahme, mit der er beispielsweise in "SauErde" die karge Existenz französischer Bauern beschreibt oder in "Geschichte eines Landarztes" das tägliche Leben in einer ländlichen Gegend am Rand der kapitalistischen Gesellschaft Englands, unterliegt dieselbe Ethik disziplinierter Menschlichkeit, die auch zwischen den Zeilen von Bergers neuem Buch aufscheint und den darin beschriebenen realen oder auch nur imaginären Begegnungen Präsenz und Wahrheit schenkt. In Krakau trifft er den in Neuseeland gestorbenen Ken, in Islington besucht er seinen Freund Hubert, um den vergessenen Namen eines Mädchens zu erfahren, das beide in den vierziger Jahren gekannt hatten.
Ken war einer der einflußreichsten Menschen in Bergers Leben, von ihm hatte er als Jugendlicher gelernt, "Grenzen zu überschreiten" und Bücher nicht allein mit den Augen, sondern mit der Wachheit und Empfindsamkeit aller Sinne zu lesen; mit Hubert, dessen Haus seit dem Tod seiner Frau von einer beredten Stille erfüllt ist, hatte Berger in den vierziger Jahren an derselben Kunstschule studiert. "Hubert", bemerkt er in einer der zahlreichen Charakterskizzen, die über die bloße Beobachtung des einzelnen hinausgehen und "Hier, wo wir uns begegnen" weniger zu einer selbstbezogenen Autobiographie als zu einer universalen Enzyklopädie menschlicher Erfahrung machen, "hatte schon immer zum Schweigen geneigt - als ob das Leben an einem Faden hinge, den ein dummes Wort durchtrennen könnte." Das Schweigen, die Stille, das Atmen, der Tod: Die behutsame Geste, mit der John Berger hier die Bilder seines Lebens berührt, stößt immer wieder durch die Membran der Sprache und tastet jenseits von ihr nach der wortlosen Existenz.
"Jedes Bild", so Berger in "Das Kunstwerk. Der Ort der Malerei", seinem Anfang der achtziger Jahre entstandenen Essay über das Verhältnis zwischen einem Gemälde und dem Raum, in dem es betrachtet wird, "beginnt mit dem Wort ,hier'." Jedes Bild, ergänzt er in "Begegnungen und Abschiede", biete eine greifbare, augenblickliche, unverbrüchliche, kontinuierliche Gegenwart. In "Hier, wo wir uns begegnen" - "Here Is Where We Meet": Schon der Titel evoziert die "sinnliche Spannung" der Körperlichkeit, die Berger in seinen Essays als ursprüngliche Qualität eines Bildes beschreibt - überführt er die Literatur in die Sphäre der Malerei; Bergers Prosa strebt anstrengungslos nach der gleichen Visualität und Greifbarkeit, die die Arbeit eines jeden Malers bedingt, und bewahrt die Gegenwart des Vergänglichen mit den Augen der Kunst.
Seine Mutter erhebt sich in Lissabon von der Bank und tritt langsam auf ihn zu; in einem Hotel in Madrid steigt sein kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verstorbener Lehrer langsam eine Treppe herab und ist jenseits von Zeit und Erinnerung eine visuelle Erfahrung von unmittelbarer Präsenz. Das Leben - vergänglich: So mahnen die Beschreibungen einiger Früchte, die Berger nach der Art eines Vanitas-Stillebens in die Mitte seines Buchs eingefügt hat. Bilder jedoch, davon erzählt schließlich nicht zuletzt das schöne Kapitel über die vor mehr als dreißigtausend Jahren entstandenen Malereien in der Tropfsteinhöhle bei Vallon-Pont d'Arc, überdauern die Zeit wie ein Fels. "Die Felszeichnungen", heißt es in "Hier, wo wir uns begegnen", John Bergers außergewöhnlichem und eigentlich sogar recht bedeutendem Buch, "sind, wo sie sind, damit sie im Dunkel existieren. Sie waren für das Dunkel gedacht, und sie wurden im Dunkel verborgen, damit das, was sie verkörpern, alles Sichtbare überdauern konnte und - vielleicht - ein Überleben verspricht."
THOMAS DAVID
John Berger: "Hier, wo wir uns begegnen". Aus dem Englischen übersetzt von Hans Jürgen Balmes. Carl Hanser Verlag, München 2006. 223 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006So also könnte man sein Leben auch führen
Stil, der von innen kommt: John Bergers tagträumerische Exkursionen in der sichtbaren und der unsichtbaren Welt / Von Christoph Bartmann
Die Anzahl der Leben, die in unseres treten, ist unabsehbar”. Ohne Anschluss, auf einer ansonsten leeren Seite, steht der Satz in einer der acht essayistischen Erzählungen, aus denen John Bergers jüngstes Buch besteht. „Hier, wo wir uns begegnen”, heißt es, und der einsame Satz aus „Der Szum und der Ching” formuliert sein Programm. Von Orten und Begegnungen eines langen und allem Anschein nach erfüllten Lebens wird hier erzählt, nicht in zeitlicher Folge, sondern im Modus der Unabsehbarkeit. Nicht nur die Zahl der Leben, auch das Wo, das Wann und Wie ihres Erscheinens sind unabsehbar. Von Erscheinungen handeln denn auch die meisten dieser Erzählungen, vom unverhofften und traumgleichen Wiedereintritt einmal vertraut gewesener Personen in das gegenwärtige Leben. Keine Autobiographie hat Berger, der nun achtzigjährige Essayist und Lyriker, Kunstkritiker und Maler geschrieben, sondern eher ein Skizzenbuch voll subtiler, schwebender und sprunghafter Betrachtungen von Orten und Menschen, mit denen sein Leben in Berührung kam.
Lissabon, Genf, Krakau, Islington, die Höhlen der Ardèche, Madrid oder die in der Phantasie korrespondierenden Flüsschen Szum und Ching – der eine in Polen, der andere im Londoner Osten –, das sind Ausgangspunkte für Bergers tagträumerische Exkursionen. Berger ist ein Autor, der viel weiß, er ist ebenso belesen wie weltzugewandt, und deshalb sagt er über die Städte, die er kennt, manchmal Dinge, die den Unkundigen einschüchtern können, etwa: „Lissabons Bezug zur Welt des Sichtbaren ist unter allen Städten einzigartig.” Das kann nur behaupten, wer alle Städte gesehen hat. Wie will, fragt man sich, Berger die starke These begründen? Und siehe da, er gibt eine Antwort, die nicht enttäuscht. Die Azulejos, die weiß-blauen Kacheln an Lissabons Häuserwänden, seien mit ihren Darstellungen Flöte spielender Affen, Trauben lesender Frauen, von Kreuzrittern, Heiligen und Walfischen ein Bildarsenal der ganzen Welt. Sie schärfen, sagt Berger, „die Aufmerksamkeit für alles Sichtbare”. Die gemusterten Steine des Straßenpflasters dagegen gäben einen Hinweis darauf, „dass sie etwas verdecken und dass dank ihnen etwas Dahinterliegendes ewig unsichtbar bleibt!” Dasselbe scheint bei Bergers literarischer Welterschließung der Fall. Seine Aufmerksamkeit für das Sichtbare ist grenzenlos; man spürt die Geschultheit und Beweglichkeit seines Blicks in allem, was er schreibt. Etwa wenn er von einer Gruppe junger Manager in einem Madrider Hotel sagt, sie hätten „eine Art, sich vorzulehnen, wie einst die hölzernen Galionsfiguren der Schiffe.”
Die Toten
bleiben nicht
in ihrem Grab
Aber wie die Lissabonner Pflaster-Ornamente deutet auch Bergers Schreiben auf eine unsichtbare Welt.„Halberblicktes” nennt er einmal den Quell seiner Intuition, Folge eines Blicks, der seine Gegenstände scharf erfasst und sogleich über sie hinweg träumt. Bei aller Erdung, aller Handfestigkeit seines Umgangs mit den Dingen tut sich in seinen Geschichten ein Raum für Wunder auf. Wie soll man es anders nennen, wenn dem Erzähler mitten in Lissabon, auf einer Parkbank, die längst verstorbene Mutter begegnet? „Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab”, erklärt ihm die Mutter, nachdem sie sich bei ihm eingehängt hat. Nach ihrem Tod dürften die Toten wählen, wo sie auf der Erde leben wollen (freilich unter der Bedingung, dass sie wieder zurückfinden ins Jenseits). Sie habe sich für Lissabon entschieden, wo sie niemals war. Und so ziehen Mutter und Sohn durch die Stadt und bereden die Vergangenheit; und wenn sich die Mutter versteckt hält, was geschehen kann, setzt der Sohn sein übliches Tagwerk – schreiben, zeichnen, gehen, schauen – fort.
Berger ist ein glänzender Stadtbeobachter, kulturhistorisch beschlagen und fähig, in wenigen Sätzen etwa das Wesen der portugiesischen Saudade zu erfassen oder das Reformwerk des Marques de Pombal zu erklären. Unversehens gleitet er dann aber von solchen Gegenständen wieder hinüber in den Halbschatten, aus dem ihm seine Mutter entgegengetreten ist. Gemeinsam schlendern sie über den großen Fischmarkt am Tejo-Ufer, und die Mutter spricht zu ihm in Rätseln: „Seit ich tot bin, habe ich eine Menge gelernt. Solange du hier bist, solltest du das nutzen. In einem toten Menschen kann man nachschlagen wie in einem Wörterbuch.”
Nach ihrem Tod scheint die Mutter zur Philosophin geworden zu sein. Was immer sie sagt, es zeugt von einer Art Weisheit, wie sie unter Lebenden die Ausnahme ist. „Man ist entweder furchtlos oder frei”, widerspricht sie ihrem Sohn. „Beides ist zugleich nicht zu haben.” Auch die Philosophie könne dabei nicht entscheidend helfen. Darüber ließe sich länger streiten, aber Berger liebt das Apodiktische, den Lichtstrahl einer unvermittelten Einsicht. Der Sohn lässt sich die guten Ratschläge gern gefallen, selbst wenn es ums Schreiben geht. Dazu sei Mut erforderlich, gibt er zu bedenken, doch die Mutter, noch im Tode praktisch gesinnt, macht ihm Hoffnung: „Der Mut wird schon noch kommen. Schreib einfach deine Entdeckungen auf, und sei so freundlich, uns zu erwähnen.” Nichts anderes tut er mit seinem Erinnerungsbuch: Freundlich erwähnt er die Toten und lässt sie reden, ehe sie wieder verschwinden, wie die Mutter im Halbdunkel des Aquädukts von Aguas-Livres.
Auch die anderen Geschichten stehen mit einem Fuß im Totenreich. In Genf sucht Berger mit seiner Tochter Katya das Grab von Jorge Luis Borges auf, in Krakau begegnet ihm an einem Marktstand Ken, der 1937 sein Aushilfslehrer war und später sein Freund und Mentor wurde. In Islington steht er vor der Haustür von Hubert, mit den ihn die Erinnerung an Londoner Kunstschuljahre im Zweiten Weltkrieg verbindet, die Zeit auch der Verbindung mit Audrey, die in ihm ein „namenloses Begehren” weckte – „wo immer sich unsere Haut berührte, gab es das Versprechen auf den Horizont.” In Madrid steigt in Tweedjackett und Knickerbocker ein Mann namens Tyler die Hoteltreppe herab, zu dem Berger als Siebenjähriger in die „Grüne Hütte”, eine prep school, ging. „Dein Leben wird noch im Schlamassel enden”, hatte Tyler damals zu ihm gesagt, „weil du nicht gerade sägen kannst.”
Am polnischen Fluss Szum, an einer Ampel in Kielce, steht plötzlich Liz mit ihrem Auto neben ihm, die Geliebte aus Studientagen in London, mit der er Abende lang klassische Musik hörte und den Willen zum „Stil” erprobte (Stil und Musik, sagt Berger, seien enge Verwandte). Dann fahren sie gemeinsam zu Mirek und seiner Familie, in eine gar nicht geträumt wirkende polnische Szenerie von heute, und während Berger aus Sauerampfer und Lauch und anderem, was Wald und Garten bieten, eine Suppe kocht, schweift seine Erzählung von der Zeit mit Liz hinüber in die Gegenwart der jungen Familie und von dort wieder zurück in die polnische Geschichte.
Man kann dem Ton der Beschreibungen verfallen, die Berger von diesen Orten und Landschaften gibt, etwa von den Ebenen östlich von Berlin, von denen es heißt: „Dir fällt auf, dass alles, was vertikal aus der flachen Ebene ragt, nun anders wirkt: Holzzäune, ein aufrecht im Feld stehender Mann, gelegentlich ein Pferd, die Bäume im Wald.” An anderer Stelle stellt Berger der Stadt Genf einen Reisepass aus: „Nationalität: neutral – Geschlecht: weiblich – Alter (die Diskretion gebietet es): wirkt jünger, als sie ist –” und so fort.
Man kann sie
als Nachschlagewerke
benutzen
Es gibt eine intuitive Stimmigkeit in all diesen Beschreibungen, eine Bildlichkeit, in der das Angeschaute klar erkannt wird und zugleich wie entrückt wirkt. Man kann sich auf Bergers Beobachtungen verlassen, weil sie den Tatsachen abgewonnen sind, und doch betritt man mit ihnen einen neuen Raum. Bergers Genf wird zu einem metaphysischen Bezirk, geprägt von der Rationalität und Verschwiegenheit seiner Bewohner, und ist zugleich eine Stadt, die eben deshalb alles Wesentliche verborgen hält. In Genf hat Borges während des Ersten Weltkriegs die Schule besucht, und hierher ist er als alter Mann mit seiner jungen Frau und Schülerin María Kodama zurückgekehrt. Hier liegt er begraben, und John Berger und seine Tochter Katya versuchen an seinem Grab die angelsächsischen und altnordischen Inschriften zu entziffern. Worauf, kann man sich fragen, will diese Geschichte hinaus? Geht es in ihr um die Eigentümlichkeiten von Genf, um die Begegnung mit der Tochter oder um Borges' späte Jahre – und wie hängen die Dinge zusammen? Es ist der Geist der Alchimie, der in Bergers Erzählungen Zusammenhang auch da erzeugt, wo man ihn sonst nicht sähe.
Betrachtet man Bergers Leben, wie es dieses Buch vor Augen führt, dann tritt als eines seiner leitenden Impulse die Lebenskunst hervor. Bergers Leben wirkt so frei (und weithin furchtlos), weil er in ihm so unverkennbar seinen Stil gefunden hat. Man kann Bergers Schreiben, seine Weise, über die Welt, über Frauen und Freunde zu sprechen, ‚mondän' finden, in seiner Gewandtheit, seinem Selbstbewusstsein, seiner Urteilsfähigkeit und dem Vertrauen in die eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten – auch das Sägen hat er fortan nicht mehr verlernt. Es gibt eine Eleganz und eine Gelassenheit in diesen Erinnerungen, die den Leser sehnsüchtig stimmt – so also könnte man sein Leben auch führen.
Am besten aber beschreibt die Faszination von Bergers Welt wohl ein Wort, das er mit seiner Freundin Liz in Verbindung bringt: Stil. Sägen, kochen, reisen, lesen, zeichnen, schreiben, denken, Freundschaften pflegen, alles was Berger in diesem Buch praktiziert, ist Ausdruck von gelebtem Stil. Eines Stils, den man (natürlich) nicht kaufen kann und zu dem nach Berger eine „gewisse Leichtigkeit” gehört, die einen dennoch nicht aus der Verantwortung entlässt. „Stil ist fragil”, schreibt Berger, „er kommt von innen”. Und weiter: „Stil ist ein unsichtbares Versprechen. Und deshalb fordert und stärkt er das Talent zu Ausdauer und Geduld.”
John Berger
Hier, wo wir uns begegnen
Aus dem Englischen von Hans-Jürgen Balmes. Carl Hanser Verlag, München/ Wien 2006. 224 S., 17, 90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Stil, der von innen kommt: John Bergers tagträumerische Exkursionen in der sichtbaren und der unsichtbaren Welt / Von Christoph Bartmann
Die Anzahl der Leben, die in unseres treten, ist unabsehbar”. Ohne Anschluss, auf einer ansonsten leeren Seite, steht der Satz in einer der acht essayistischen Erzählungen, aus denen John Bergers jüngstes Buch besteht. „Hier, wo wir uns begegnen”, heißt es, und der einsame Satz aus „Der Szum und der Ching” formuliert sein Programm. Von Orten und Begegnungen eines langen und allem Anschein nach erfüllten Lebens wird hier erzählt, nicht in zeitlicher Folge, sondern im Modus der Unabsehbarkeit. Nicht nur die Zahl der Leben, auch das Wo, das Wann und Wie ihres Erscheinens sind unabsehbar. Von Erscheinungen handeln denn auch die meisten dieser Erzählungen, vom unverhofften und traumgleichen Wiedereintritt einmal vertraut gewesener Personen in das gegenwärtige Leben. Keine Autobiographie hat Berger, der nun achtzigjährige Essayist und Lyriker, Kunstkritiker und Maler geschrieben, sondern eher ein Skizzenbuch voll subtiler, schwebender und sprunghafter Betrachtungen von Orten und Menschen, mit denen sein Leben in Berührung kam.
Lissabon, Genf, Krakau, Islington, die Höhlen der Ardèche, Madrid oder die in der Phantasie korrespondierenden Flüsschen Szum und Ching – der eine in Polen, der andere im Londoner Osten –, das sind Ausgangspunkte für Bergers tagträumerische Exkursionen. Berger ist ein Autor, der viel weiß, er ist ebenso belesen wie weltzugewandt, und deshalb sagt er über die Städte, die er kennt, manchmal Dinge, die den Unkundigen einschüchtern können, etwa: „Lissabons Bezug zur Welt des Sichtbaren ist unter allen Städten einzigartig.” Das kann nur behaupten, wer alle Städte gesehen hat. Wie will, fragt man sich, Berger die starke These begründen? Und siehe da, er gibt eine Antwort, die nicht enttäuscht. Die Azulejos, die weiß-blauen Kacheln an Lissabons Häuserwänden, seien mit ihren Darstellungen Flöte spielender Affen, Trauben lesender Frauen, von Kreuzrittern, Heiligen und Walfischen ein Bildarsenal der ganzen Welt. Sie schärfen, sagt Berger, „die Aufmerksamkeit für alles Sichtbare”. Die gemusterten Steine des Straßenpflasters dagegen gäben einen Hinweis darauf, „dass sie etwas verdecken und dass dank ihnen etwas Dahinterliegendes ewig unsichtbar bleibt!” Dasselbe scheint bei Bergers literarischer Welterschließung der Fall. Seine Aufmerksamkeit für das Sichtbare ist grenzenlos; man spürt die Geschultheit und Beweglichkeit seines Blicks in allem, was er schreibt. Etwa wenn er von einer Gruppe junger Manager in einem Madrider Hotel sagt, sie hätten „eine Art, sich vorzulehnen, wie einst die hölzernen Galionsfiguren der Schiffe.”
Die Toten
bleiben nicht
in ihrem Grab
Aber wie die Lissabonner Pflaster-Ornamente deutet auch Bergers Schreiben auf eine unsichtbare Welt.„Halberblicktes” nennt er einmal den Quell seiner Intuition, Folge eines Blicks, der seine Gegenstände scharf erfasst und sogleich über sie hinweg träumt. Bei aller Erdung, aller Handfestigkeit seines Umgangs mit den Dingen tut sich in seinen Geschichten ein Raum für Wunder auf. Wie soll man es anders nennen, wenn dem Erzähler mitten in Lissabon, auf einer Parkbank, die längst verstorbene Mutter begegnet? „Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab”, erklärt ihm die Mutter, nachdem sie sich bei ihm eingehängt hat. Nach ihrem Tod dürften die Toten wählen, wo sie auf der Erde leben wollen (freilich unter der Bedingung, dass sie wieder zurückfinden ins Jenseits). Sie habe sich für Lissabon entschieden, wo sie niemals war. Und so ziehen Mutter und Sohn durch die Stadt und bereden die Vergangenheit; und wenn sich die Mutter versteckt hält, was geschehen kann, setzt der Sohn sein übliches Tagwerk – schreiben, zeichnen, gehen, schauen – fort.
Berger ist ein glänzender Stadtbeobachter, kulturhistorisch beschlagen und fähig, in wenigen Sätzen etwa das Wesen der portugiesischen Saudade zu erfassen oder das Reformwerk des Marques de Pombal zu erklären. Unversehens gleitet er dann aber von solchen Gegenständen wieder hinüber in den Halbschatten, aus dem ihm seine Mutter entgegengetreten ist. Gemeinsam schlendern sie über den großen Fischmarkt am Tejo-Ufer, und die Mutter spricht zu ihm in Rätseln: „Seit ich tot bin, habe ich eine Menge gelernt. Solange du hier bist, solltest du das nutzen. In einem toten Menschen kann man nachschlagen wie in einem Wörterbuch.”
Nach ihrem Tod scheint die Mutter zur Philosophin geworden zu sein. Was immer sie sagt, es zeugt von einer Art Weisheit, wie sie unter Lebenden die Ausnahme ist. „Man ist entweder furchtlos oder frei”, widerspricht sie ihrem Sohn. „Beides ist zugleich nicht zu haben.” Auch die Philosophie könne dabei nicht entscheidend helfen. Darüber ließe sich länger streiten, aber Berger liebt das Apodiktische, den Lichtstrahl einer unvermittelten Einsicht. Der Sohn lässt sich die guten Ratschläge gern gefallen, selbst wenn es ums Schreiben geht. Dazu sei Mut erforderlich, gibt er zu bedenken, doch die Mutter, noch im Tode praktisch gesinnt, macht ihm Hoffnung: „Der Mut wird schon noch kommen. Schreib einfach deine Entdeckungen auf, und sei so freundlich, uns zu erwähnen.” Nichts anderes tut er mit seinem Erinnerungsbuch: Freundlich erwähnt er die Toten und lässt sie reden, ehe sie wieder verschwinden, wie die Mutter im Halbdunkel des Aquädukts von Aguas-Livres.
Auch die anderen Geschichten stehen mit einem Fuß im Totenreich. In Genf sucht Berger mit seiner Tochter Katya das Grab von Jorge Luis Borges auf, in Krakau begegnet ihm an einem Marktstand Ken, der 1937 sein Aushilfslehrer war und später sein Freund und Mentor wurde. In Islington steht er vor der Haustür von Hubert, mit den ihn die Erinnerung an Londoner Kunstschuljahre im Zweiten Weltkrieg verbindet, die Zeit auch der Verbindung mit Audrey, die in ihm ein „namenloses Begehren” weckte – „wo immer sich unsere Haut berührte, gab es das Versprechen auf den Horizont.” In Madrid steigt in Tweedjackett und Knickerbocker ein Mann namens Tyler die Hoteltreppe herab, zu dem Berger als Siebenjähriger in die „Grüne Hütte”, eine prep school, ging. „Dein Leben wird noch im Schlamassel enden”, hatte Tyler damals zu ihm gesagt, „weil du nicht gerade sägen kannst.”
Am polnischen Fluss Szum, an einer Ampel in Kielce, steht plötzlich Liz mit ihrem Auto neben ihm, die Geliebte aus Studientagen in London, mit der er Abende lang klassische Musik hörte und den Willen zum „Stil” erprobte (Stil und Musik, sagt Berger, seien enge Verwandte). Dann fahren sie gemeinsam zu Mirek und seiner Familie, in eine gar nicht geträumt wirkende polnische Szenerie von heute, und während Berger aus Sauerampfer und Lauch und anderem, was Wald und Garten bieten, eine Suppe kocht, schweift seine Erzählung von der Zeit mit Liz hinüber in die Gegenwart der jungen Familie und von dort wieder zurück in die polnische Geschichte.
Man kann dem Ton der Beschreibungen verfallen, die Berger von diesen Orten und Landschaften gibt, etwa von den Ebenen östlich von Berlin, von denen es heißt: „Dir fällt auf, dass alles, was vertikal aus der flachen Ebene ragt, nun anders wirkt: Holzzäune, ein aufrecht im Feld stehender Mann, gelegentlich ein Pferd, die Bäume im Wald.” An anderer Stelle stellt Berger der Stadt Genf einen Reisepass aus: „Nationalität: neutral – Geschlecht: weiblich – Alter (die Diskretion gebietet es): wirkt jünger, als sie ist –” und so fort.
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Es gibt eine intuitive Stimmigkeit in all diesen Beschreibungen, eine Bildlichkeit, in der das Angeschaute klar erkannt wird und zugleich wie entrückt wirkt. Man kann sich auf Bergers Beobachtungen verlassen, weil sie den Tatsachen abgewonnen sind, und doch betritt man mit ihnen einen neuen Raum. Bergers Genf wird zu einem metaphysischen Bezirk, geprägt von der Rationalität und Verschwiegenheit seiner Bewohner, und ist zugleich eine Stadt, die eben deshalb alles Wesentliche verborgen hält. In Genf hat Borges während des Ersten Weltkriegs die Schule besucht, und hierher ist er als alter Mann mit seiner jungen Frau und Schülerin María Kodama zurückgekehrt. Hier liegt er begraben, und John Berger und seine Tochter Katya versuchen an seinem Grab die angelsächsischen und altnordischen Inschriften zu entziffern. Worauf, kann man sich fragen, will diese Geschichte hinaus? Geht es in ihr um die Eigentümlichkeiten von Genf, um die Begegnung mit der Tochter oder um Borges' späte Jahre – und wie hängen die Dinge zusammen? Es ist der Geist der Alchimie, der in Bergers Erzählungen Zusammenhang auch da erzeugt, wo man ihn sonst nicht sähe.
Betrachtet man Bergers Leben, wie es dieses Buch vor Augen führt, dann tritt als eines seiner leitenden Impulse die Lebenskunst hervor. Bergers Leben wirkt so frei (und weithin furchtlos), weil er in ihm so unverkennbar seinen Stil gefunden hat. Man kann Bergers Schreiben, seine Weise, über die Welt, über Frauen und Freunde zu sprechen, ‚mondän' finden, in seiner Gewandtheit, seinem Selbstbewusstsein, seiner Urteilsfähigkeit und dem Vertrauen in die eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten – auch das Sägen hat er fortan nicht mehr verlernt. Es gibt eine Eleganz und eine Gelassenheit in diesen Erinnerungen, die den Leser sehnsüchtig stimmt – so also könnte man sein Leben auch führen.
Am besten aber beschreibt die Faszination von Bergers Welt wohl ein Wort, das er mit seiner Freundin Liz in Verbindung bringt: Stil. Sägen, kochen, reisen, lesen, zeichnen, schreiben, denken, Freundschaften pflegen, alles was Berger in diesem Buch praktiziert, ist Ausdruck von gelebtem Stil. Eines Stils, den man (natürlich) nicht kaufen kann und zu dem nach Berger eine „gewisse Leichtigkeit” gehört, die einen dennoch nicht aus der Verantwortung entlässt. „Stil ist fragil”, schreibt Berger, „er kommt von innen”. Und weiter: „Stil ist ein unsichtbares Versprechen. Und deshalb fordert und stärkt er das Talent zu Ausdauer und Geduld.”
John Berger
Hier, wo wir uns begegnen
Aus dem Englischen von Hans-Jürgen Balmes. Carl Hanser Verlag, München/ Wien 2006. 224 S., 17, 90 Euro.
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'A triumph ... Sad, reflective and peppered with unforgettable images ... it makes us stop and take a breath. It makes us see the world afresh. Makes us do a double-take' Guardian