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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2019

Sinnlich beginnt die Wissenschaft
Der letzte Universalist: David Cahan legt eine längst fällige große Biographie von Hermann von Helmholtz vor

Heute ist Hermann von Helmholtz wohl am ehesten noch als Namengeber bekannt. Straßen, Plätze, Schulen sowie wissenschaftliche Auszeichnungen und Einrichtungen, darunter Deutschlands größte Wissenschaftsorganisation, sind nach ihm benannt. Hinter der Präsenz seines Namens steht Helmholtz' Bedeutung für die Begründung der modernen Naturwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert. Die Physiologie und die Physik bereicherte er um grundlegende Erkenntnisse. Vor allem seine Formulierung des Energieerhaltungssatzes war bahnbrechend. Er gab der These, dass Energie umgewandelt, aber (in abgeschlossenen Systemen) nicht erzeugt und vernichtet werden kann, eine allgemein gültige, nämlich mathematische Fassung. Er war maßgeblich am institutionellen Ausbau der Naturwissenschaften beteiligt und prägte ihr heutiges Selbstverständnis. Als Naturwissenschaftler dachte er über die Erkenntnisbedingungen der Wissenschaften nach, wobei seine wahrnehmungstheoretischen und geometrischen Arbeiten wegweisend waren. Er beschäftigte sich überdies mit wissenschaftstheoretischen, ästhetischen und bildungspolitischen Fragen. Helmholtz wurde zu Lebzeiten von seinem britischen Kollegen James Clerk Maxwell als "intellectual giant" bezeichnet. In der Tat war er vermutlich der letzte große Wissenschaftler, der weit über die sich damals schon zusammenziehenden Ränder seiner Fächer hinausblickte.

Der international renommierte Helmholtz-Forscher David Cahan hat jetzt eine Biographie verfasst, die Helmholtz als diesen "Giganten" wiedererstehen lässt. Nach Leo Königsbergers 1902 erschienener dreibändiger Darstellung von Helmholtz' Werk und Leben liegt damit endlich eine umfassende Biographie vor, die heutigen wissenschaftlichen Standards entspricht, zugleich aber auch für diejenigen verständlich geschrieben ist, die nicht schon mit den Details von Helmholtz' Leistungen vertraut sind.

Rechtzeitig vor dem 200. Geburtstag von Helmholtz, der 2021 zu begehen sein wird, kann man also in die Welt des wohl berühmtesten deutschen Wissenschaftlers der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eintauchen, an seinen ersten, schon bald sensationellen Entdeckungen und Erfolgen teilnehmen, ihn bei seinem Streben nach fachlicher Anerkennung beobachten, auf seinen zahllosen Reisen zu Kollegen im In- und Ausland begleiten und seinen zunehmenden Einfluss innerhalb und außerhalb der Wissenschaft bewundern. Großen Raum nehmen die Berichte über Helmholtz' Vorträge ein, die einen hervorragenden Einblick in die Entwicklung seiner Wissenschaftsauffassung bieten und mit denen er wie kaum ein anderer Naturforscher seiner Zeit zur Popularisierung der Wissenschaft beigetragen hat. Cahan bettet Helmholtz' Wirken nicht nur in die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte ein, sondern setzt es auch ins Verhältnis zu seinen privaten Beziehungen, in deren Zentrum seine eigene Familie und die freundschaftlichen Kontakte zu seinen (ausschließlich männlichen) Kollegen standen.

Dass diese beeindruckende Gesamtdarstellung in englischer Sprache erscheint, passt zumindest zum Gewicht, das Großbritannien in Helmholtz' ausgedehntem internationalen Netzwerk von wissenschaftlichen Kontakten einnahm. Insbesondere mit englischen Physikern, darunter Michael Faraday, James Clerk Maxwell und William Thomson (Lord Kelvin), pflegte er einen engen Austausch.

Cahan geht von drei intellektuellen Leitmotiven aus, die bestimmend für Helmholtz' Werk seien: das Streben nach Einheit der Wissenschaft, die Aufmerksamkeit für die Quellen und Methoden des Wissens sowie die Wertschätzung der Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Insofern Cahan diese Motive nicht nur thematisch ins Zentrum seiner Biographie rückt, sondern sie noch einmal, wenn auch modifiziert, zur Anwendung zu bringen sucht, leben Helmholtz' Bemühungen in seiner Biographie fort.

Das Streben nach Einheit der Wissenschaft suchte den schon eingetretenen Zerfall in die beiden Lager der Geistes- und Naturwissenschaften zu überbrücken. Nach Helmholtz befassen sich die Naturwissenschaften mit der äußeren, streng kausal verfassten Natur, die Geisteswissenschaften mit den Hervorbringungen des freien menschlichen Geistes. Weil beide aber gemeinsam daran arbeiten, "den Geist herrschend zu machen über die Welt", seien sie dazu verpflichtet, ihre Erkenntnisse untereinander auszutauschen und allgemein zugänglich zu machen. Hieran anknüpfend, sucht Cahan in seiner Biographie die Verbindungen zwischen den verschiedenen, teilweise weit auseinanderliegenden Forschungsgebieten von Helmholtz herauszuarbeiten - etwa zwischen Physiologie und nicht-euklidischen Geometrien oder zwischen Elektrodynamik und chemischer Thermodynamik. In seiner Darstellung von Helmholtz' Werk soll noch einmal die Einheit aufscheinen, die dieser selbst für die Wissenschaft angestrebt hat.

Als Beispiel für Helmholtz' eigenen Beitrag zur Einheit der Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert können seine Überlegungen zu den Quellen und Methoden des Wissens gelten. Seine wahrnehmungstheoretischen Arbeiten demonstrieren nicht nur, wie weitgehend die Sinnlichkeit bereits Gegenstand der Wissenschaft war, sondern auch umgekehrt, in welchem Umfang die wissenschaftliche Erfahrung in sinnlicher Wahrnehmung gründete. Seine monumentalen Monographien zur physiologischen Optik und zu den Tonempfindungen entwickelten umfassende Analysen der menschlichen Wahrnehmung, deren er sich bei seinen erkenntnistheoretischen Arbeiten und seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen zur Entstehung neuen Wissens bedienen konnte.

So sehr es Cahan gelingt, dabei Zusammenhänge herauszuarbeiten, so sehr scheint ihm doch die Tragweite zu entgehen, mit der Helmholtz' Auffassungen zu den Quellen und Methoden des Wissens einem substantiellen Wandel unterzogen waren. Setzte Helmholtz anfänglich die Erkenntnisse seiner wissenschaftlichen Analyse dem subjektiven Zeugnis der Wahrnehmung entgegen, rückten in späteren Arbeiten beide Aspekte näher zusammen, womit sich die Gewissheit der wissenschaftlichen Wahrheit aufzulösen begann.

Im Wandel von Helmholtz' Wissenschaftsauffassung reflektiert sich ein Umbruchgeschehen, in dem sich einerseits Kennzeichen der heutigen Naturwissenschaft herausbilden, andererseits aber auch Bestimmungen der Wissenschaft noch relevant sind, die seither an Einfluss verloren haben. Die Lektüre von Cahans Biographie lädt dazu ein, Helmholtz' Werk auch nach seiner Aktualität und seinen Grenzen zu befragen. Die Relativierung des Gewissheitsanspruches hat seit Helmholtz weithin Einzug in die Wissenschaften gehalten. Helmholtz ist der heutigen Welt auch in seiner Überzeugung verwandt, dass Wissen nicht allein als abgehobene Erkenntnis, sondern ebenso in seiner Anwendung zur Verbesserung der Lebensbedingungen bedeutsam ist, was im neunzehnten Jahrhundert längst noch nicht selbstverständlich war. Man staunt nicht nur über den Anteil der praktisch verwertbaren Erkenntnisse in Helmholtz' Werk, sondern auch über sein persönliches Engagement für die Verbindung von Wissenschaft und Industrie, das in seiner Präsidentschaft der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt gipfelte.

Befremdlich mutet heute dagegen das physikalistische Naturbild von Helmholtz an, der meinte, aus kleinsten mechanischen Bewegungen alle Phänomene herleiten zu können. Er glaubte an eine Natur, die vom ganz Kleinen bis ins ganz Große anschaulich verfasst ist. Doch nur wenige Jahrzehnte nach seinem Tod im Jahr 1894 hat die Wissenschaft in ihren der Lebenswelt abgewandten, aber fundamentalen Dimensionen die Bildhaftigkeit verloren. Cahan sieht bereits durch das Aufkommen der Avantgarde und des Modernismus ein kulturelles Klima herannahen, in dem Helmholtz' Weltauffassung keinen Platz mehr hatte. Der Gigant rückte bereits in die Ferne.

GREGOR SCHIEMANN.

David Cahan: "Helmholtz". A Life in Science.

University of Chicago Press, Chicago 2018. 944 S., Abb., geb., 45,90 [Euro].

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