"Mit diesem Buch wird erstmals Helmuth Plessners Projekt einer erweiterten transzendentalen Ästhetik in seinem frühen Hauptwerk Die Einheit der Sinne von 1923 systematisch-kritisch rekonstruiert. Lessing stellt heraus, dass es sich dabei um den eigenständigen Entwurf einer kritischen Sinnesphilosophie handelt und nicht um eine bloße Vorarbeit zu Plessners Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch. Weiter wird gezeigt, dass Plessners Projekt auf die Rehabilitierung einer "verstehenden" Naturphilosophie zielt und somit einen Beitrag zu einer hermeneutischen Philosophie ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.1998Vom Sinn der Sinne
Hans-Ulrich Lessing erinnert an Helmuth Plessners erste Theorie
Theorie der Sinne - des Hörens, Sehens und Fühlens - ist gegenwärtig en vogue. Zahlreiche Ausstellungsprojekte und Symposien in den vergangenen Jahren, aber auch viele Neuerscheinungen der jüngsten Zeit künden davon. So scheint der Boden für Hans-Ulrich Lessings Bochumer Habilitationsschrift wohl bereitet, die sich detailliert und textnah der Aufgabe einer Interpretation von Helmuth Plessners erstem Theorieentwurf "Die Einheit der Sinne - Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes" stellt.
Helmuth Plessner, stets ein Grenzgänger zwischen Philosophie und Realwissenschaften, der keiner philosophischen Schule dieses Jahrhunderts angehörte und auch keine gründete, gehört nicht in den Kanon jener Autoren, die man heutzutage in philosophischen Studien gewohnheitsmäßig anzuführen pflegt. Wenn überhaupt aus seinen Schriften zitiert wird, dann am ehesten aus seinen "Stufen des Organischen und der Mensch" von 1928 als einer der Gründungsurkunden der Philosophischen Anthropologie. Seine "Einheit der Sinne", die er 1923 als Dreißigjähriger veröffentlichte, blieb weithin "eine Terra incognita für die akademische Öffentlichkeit".
Hans-Ulrich Lessings Buch macht geltend, daß dieses Werk keineswegs als bloße Vorbereitung der "Stufen", sondern vielmehr als eigenständiger, durchaus origineller Theorieentwurf zu würdigen sei. Es stehe quer zu den bedeutendsten Theorieambitionen des zeitgenössischen Philosophierens, denn im Spannungsfeld von aufstrebender Phänomenologie und seinerzeit immer noch dominierendem Neukantianismus ziele es wider den philosophischen Mainstream letztlich auf die Begründung einer neuen Naturphilosophie. Diese sei freilich nicht in "vorkritischem" Zugriff auf die Phänomene in ihrer Unmittelbarkeit zu haben, sondern durch eine "Kritik der Sinne" zu vermitteln, wie sie schon Goethe in den Gesprächen mit Eckermann als Komplementärprojekt zur Kantischen Vernunftkritik forderte.
Plessner schließt daran ausdrücklich an. Gleichsam als Verlängerung und Vertiefung der Kantischen "Transzendentalen Ästhetik" soll seine Kritik der Sinne einerseits "die modalen (apriorischen) Struktureigentümlichkeiten der Sinne . . . ermitteln und damit auch die Grenzen zwischen den Sinnen feststellen. Andererseits soll sie den Wirklichkeitswert der Sinnesqualitäten bestimmen", in denen uns die Natur wirklich erscheint und die eine sogenannte "exakte", rein quantitativ verfahrende Naturwissenschaft gar nicht in den Blick bringt. "Und schließlich hat sie die Frage zu lösen, ob sich möglicherweise hinter der leib-sinnlichen Ausstattung des Menschen eine Art ,Notwendigkeit' verbirgt."
Die letztere Frage nach dem Sinn der Mannigfaltigkeit und Eigenart menschlicher Sinnlichkeitsorganisation, die in unseren eher antiteleologisch gestimmten Tagen überraschen mag, hat Plessners frühe "Hermeneutik der Sinne" bejaht. Ihre Antwort suchte sie durch eine "Ästhesiologie des Geistes" verständlich zu machen, die als "Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen" nach Lessing von "Plessners Ur-Intention" gespeist wird, daß ein ursprünglicher "Zusammenhang von Geist (Einheit möglicher Sinngebungen), Leib (Einheit des Verhaltens) und Sinnesmodalitäten" bestehe. Plessner selbst spricht in seiner frühen Theoriesprache in dieser Hinsicht von einer fundierenden "Akkordanz" zwischen der Einheit des geistigen Sinns und der Mannigfaltigkeit der physischen Sinne, welche eine "spezifische Affinität oder Strukturverwandtschaft zwischen einer Geistfunktion . . . und Typ oder Art von Sinnlichkeitsfunktion" bedeute. Aus ihr will Plessner die "geheimnisvollen Beziehungen" herleiten, die "zwischen Sinn und Sinnlichkeit" bestehen.
Lessings Studie erarbeitet die Grundzüge dieser Ästhesiologie des Geistes eingehend und umfassend. Nicht weniger als dieser Theorieansatz im Ganzen bleibt Plessners Terminologie dem heutigen Leser freilich fremd, wenn nicht gar befremdlich. Seine Theorien etwa über Kunst und Sprache wirken, wie Lessing gelegentlich selbst andeutet, im heutigen Diskussionskontext manchmal geradezu idiosynkratisch. Das muß nicht gegen sie sprechen. Aber trotz Lessings verdienstvoller Untersuchung werden sie es schwer haben, Eingang in den aktuellen Diskurs zu finden. STEFAN MAJETSCHAK
Hans-Ulrich Lessing: "Hermeneutik der Sinne". Eine Untersuchung zu Plessners Projekt einer "Ästhesiologie des Geistes" nebst einem Plessner-Ineditum. Karl Alber Verlag, Freiburg 1998. 431 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans-Ulrich Lessing erinnert an Helmuth Plessners erste Theorie
Theorie der Sinne - des Hörens, Sehens und Fühlens - ist gegenwärtig en vogue. Zahlreiche Ausstellungsprojekte und Symposien in den vergangenen Jahren, aber auch viele Neuerscheinungen der jüngsten Zeit künden davon. So scheint der Boden für Hans-Ulrich Lessings Bochumer Habilitationsschrift wohl bereitet, die sich detailliert und textnah der Aufgabe einer Interpretation von Helmuth Plessners erstem Theorieentwurf "Die Einheit der Sinne - Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes" stellt.
Helmuth Plessner, stets ein Grenzgänger zwischen Philosophie und Realwissenschaften, der keiner philosophischen Schule dieses Jahrhunderts angehörte und auch keine gründete, gehört nicht in den Kanon jener Autoren, die man heutzutage in philosophischen Studien gewohnheitsmäßig anzuführen pflegt. Wenn überhaupt aus seinen Schriften zitiert wird, dann am ehesten aus seinen "Stufen des Organischen und der Mensch" von 1928 als einer der Gründungsurkunden der Philosophischen Anthropologie. Seine "Einheit der Sinne", die er 1923 als Dreißigjähriger veröffentlichte, blieb weithin "eine Terra incognita für die akademische Öffentlichkeit".
Hans-Ulrich Lessings Buch macht geltend, daß dieses Werk keineswegs als bloße Vorbereitung der "Stufen", sondern vielmehr als eigenständiger, durchaus origineller Theorieentwurf zu würdigen sei. Es stehe quer zu den bedeutendsten Theorieambitionen des zeitgenössischen Philosophierens, denn im Spannungsfeld von aufstrebender Phänomenologie und seinerzeit immer noch dominierendem Neukantianismus ziele es wider den philosophischen Mainstream letztlich auf die Begründung einer neuen Naturphilosophie. Diese sei freilich nicht in "vorkritischem" Zugriff auf die Phänomene in ihrer Unmittelbarkeit zu haben, sondern durch eine "Kritik der Sinne" zu vermitteln, wie sie schon Goethe in den Gesprächen mit Eckermann als Komplementärprojekt zur Kantischen Vernunftkritik forderte.
Plessner schließt daran ausdrücklich an. Gleichsam als Verlängerung und Vertiefung der Kantischen "Transzendentalen Ästhetik" soll seine Kritik der Sinne einerseits "die modalen (apriorischen) Struktureigentümlichkeiten der Sinne . . . ermitteln und damit auch die Grenzen zwischen den Sinnen feststellen. Andererseits soll sie den Wirklichkeitswert der Sinnesqualitäten bestimmen", in denen uns die Natur wirklich erscheint und die eine sogenannte "exakte", rein quantitativ verfahrende Naturwissenschaft gar nicht in den Blick bringt. "Und schließlich hat sie die Frage zu lösen, ob sich möglicherweise hinter der leib-sinnlichen Ausstattung des Menschen eine Art ,Notwendigkeit' verbirgt."
Die letztere Frage nach dem Sinn der Mannigfaltigkeit und Eigenart menschlicher Sinnlichkeitsorganisation, die in unseren eher antiteleologisch gestimmten Tagen überraschen mag, hat Plessners frühe "Hermeneutik der Sinne" bejaht. Ihre Antwort suchte sie durch eine "Ästhesiologie des Geistes" verständlich zu machen, die als "Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen" nach Lessing von "Plessners Ur-Intention" gespeist wird, daß ein ursprünglicher "Zusammenhang von Geist (Einheit möglicher Sinngebungen), Leib (Einheit des Verhaltens) und Sinnesmodalitäten" bestehe. Plessner selbst spricht in seiner frühen Theoriesprache in dieser Hinsicht von einer fundierenden "Akkordanz" zwischen der Einheit des geistigen Sinns und der Mannigfaltigkeit der physischen Sinne, welche eine "spezifische Affinität oder Strukturverwandtschaft zwischen einer Geistfunktion . . . und Typ oder Art von Sinnlichkeitsfunktion" bedeute. Aus ihr will Plessner die "geheimnisvollen Beziehungen" herleiten, die "zwischen Sinn und Sinnlichkeit" bestehen.
Lessings Studie erarbeitet die Grundzüge dieser Ästhesiologie des Geistes eingehend und umfassend. Nicht weniger als dieser Theorieansatz im Ganzen bleibt Plessners Terminologie dem heutigen Leser freilich fremd, wenn nicht gar befremdlich. Seine Theorien etwa über Kunst und Sprache wirken, wie Lessing gelegentlich selbst andeutet, im heutigen Diskussionskontext manchmal geradezu idiosynkratisch. Das muß nicht gegen sie sprechen. Aber trotz Lessings verdienstvoller Untersuchung werden sie es schwer haben, Eingang in den aktuellen Diskurs zu finden. STEFAN MAJETSCHAK
Hans-Ulrich Lessing: "Hermeneutik der Sinne". Eine Untersuchung zu Plessners Projekt einer "Ästhesiologie des Geistes" nebst einem Plessner-Ineditum. Karl Alber Verlag, Freiburg 1998. 431 S., geb., 98,- DM.
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