Diese Briefe zeigen Benn in seinen letzten beiden Lebensjahren, wie man ihn bisher nicht kannte.Eine in Worpswede lebende junge Berlinerin übermittelte dem 68jährigen Gottfried Benn im Sommer 1954 am Telefon die Einladung, in Bremen aus seinem Werk vorzulesen. Benn antwortete mit einer Einladung zum Eisessen. Da war nicht abzusehen, daß er nur zehn Wochen später - in der Nummer 72 seiner hier erstmals veröffentlichten 252 Briefe an Ursula Ziebarth - der Adressatin zugeben würde, ihre Kollegen müßten denken: »die ist mit einem Irren verheiratet, der aus seiner Zelle immerzu schreibt.« Der Leser wird Zeuge einer so heftigen wie zarten, immer spannungsvollen, oft tumultuarischen Liebe. Aber Benn schreibt: »Du bist merkwürdigerweise meines Geistes u. meines Bluts, sehr nahe, sehr, sehr süss«. Von Benns Briefen an Ursula Ziebarth gilt ganz und gar nicht, was er ihr einmal über Hamsuns Liebesbriefe schreibt: »selbst ein sehr grosser Mann wird dabei eintönig und etwas töricht«. Große Erfüllungen und alltägliche Widrigkeiten konstituieren diese Leidenschaft genauso wie Benns Offenheit und Bereitschaft für Gespräch und Mitteilung: über Leben und Bücher, gemeinsame Reiseeindrücke, Landschaften und Kunstwerke, Gedichte und Probleme der Lyrik nach dem Krieg. Benns Gedanken kreisen um das »Nicht-Gedicht«, »die journalistischen Gedichte meiner letzten Periode«. Er ist überzeugt: »Das objektive grosse Gedicht ist überholt« und findet in der Geliebten eine kompetente Gesprächspartnerin.Diese Briefe sind nicht literarisch stilisiert, sondern ganz spontan geschrieben, und zeigen Benn in seinen letzten beiden Lebensjahren, wie man ihn bisher nicht kannte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001Säumiges Luder, säumiger Lieber
Indiskretion und Grandezza: Der Briefroman von Gottfried Benn und Ursula Ziebarth / Von Heinrich Detering
Es ist ein Skandal: Die Geliebte des weltberühmten Dichters, die dankbar sein sollte, als literarische Gestalt in die Geschichte eingegangen zu sein, erscheint in eigener Person, um sich gegen die Literarisierung zu behaupten; daß überdies fast ein halbes Jahrhundert zwischen der Liaison und dem Auftritt liegt, vergrößert nur die Peinlichkeit. Ganz Weimar empört sich, offen oder versteckt, über die unmögliche alte Dame mit ihren Schleifchen und dem mühsam unterdrückten Kopfwackeln. Lotte selbst bemerkt das alles, und dennoch kann nichts sie von ihrem Vorhaben abbringen. Denn das Geschehene behauptet sein Recht so gut wie das Erdichtete.
Gottfried Benns Lotte heißt Ursel. Und der Auftritt der nun achtzigjährigen Ursula Ziebarth, die von 1954 bis 1956 die Geliebte seiner letzten Lebensjahre war und von ihm über zweihundertfünfzig Briefe empfangen hat, dazu Gelegenheitsgedichte und Buchwidmungen - dieser Auftritt steht an Indiskretion und Grandezza dem Besuch Lottes in Weimar wenig nach. Die Erregung der kritischen Kleinstädter war entsprechend heftig. Von der "Peinlichkeit der Saison" war die Rede; manche Kritiker bezweifelten im Brustton der Empörung, daß dergleichen überhaupt erlaubt sei. "Wo ist es in der Literaturgeschichte je vorgekommen", fragte in der "Welt" der Benn-Kenner Joachim Dyck, "daß die ehemalige Geliebte fünfzig Jahre nach dem Tod des Mannes ihre Version der Beziehung zwischen den authentischen Briefen hätte ausbreiten dürfen?" Ja eben, wo gibt es denn so was? Hier gibt es das, und es ist buchenswert.
Es wäre ein Mißverständnis, dieses Buch einfach für eine Edition nachgelassener Briefe Gottfried Benns zu halten. Viel eher handelt es sich um eine romanhafte Collage aus im vollen Wortlaut abgedruckten Briefen, erzählenden und reflektierenden Kommentaren, Fotografien und Gedichten; sehr passend nennt Ziebarth ihr Tun ein "Hernach-Erzählen". Es ist erst der so aus Dichtung und Dokumentation zusammengefügte Gesamttext, den dann der Marbacher Philologe Jochen Meyer diskret und umsichtig ediert hat. Was nun in diesem schönen, fünfhundert Seiten starken Band unter dem Titel "Hernach" vorliegt, muß man sich so ähnlich vorstellen wie eine Neufassung des "Werther" durch eine fortwährend dazwischenredende, kommentierende, korrigierende Lotte. Das Ergebnis ist skurril und großartig.
Denn das "sehr liebe Menschlein", der "Menschenschatz", das "Pony", die "schlangen- und schakalköpfige Isis" ist nicht nur die hingebungsvoll umworbene Geliebte, sie ist auch überaus eigensinnig. Deutlicher gesagt: Sie nervt manchmal enorm, drängt sich vor und führt sich überhaupt auf, als ginge es hier um sie - aber das tut es ja auch, auf jeder Seite. Deshalb erzählt sie nicht nur das, worauf wir in unserer Eigenschaft als Benn-Liebhaber gierig erpicht sind, sondern auch alles, was wir gar nicht wissen wollen (was ihn aber lebhaft interessiert hätte), erzählt es mit unerbittlicher Genauigkeit: daß sie die Bücher Ondaatjes liebt, daß sie keine Sonnenbrille trägt und ungern kocht; wir hören, wohin sie wann gereist ist, was sie von Hinz und Kunz, Leben und Welt hält, und das alles ebenso ausführlich, wie Benn seinerzeit ihre Geschichten und Gedichte zu lesen hatte. Daß sie zuweilen von sich selbst redet, mag hingehen. Aber daß sie es manchmal sogar unter Absehung von ihrem berühmten Geliebten tut, das ist der Skandal. Gut so.
Natürlich ist diese Liebesgeschichte, der die Leser dieser Zeitung in den vergangenen Monaten als Fortsetzungsroman folgen konnten, keine Wertheriade. Aber sie erzählt doch von einem Liebenden, der unvermutet von seiner eigenen Leidenschaft überwältigt wird ("die mich selbst überraschende, verblüffende, fast ergreifende Verehrung für Deine Person"). Auch hier hören wir in den Briefen zunächst nur die eine Stimme, die des Mannes. Durch seine Augen erblicken wir die Geliebte, und in der manchmal verzweifelnden, oft verzauberten Liebesbeziehung sehen wir ihn selbst so deutlich und nah wie selten. Ein junger Werther als alter Herr, der sich mittlerweile für einen erotischen Routinier hält und erkennen muß, daß diese Bekanntschaft sein Herz sehr viel näher angeht. Zwar dreht sich das Geschehen auf weite Strecken um die Heimlichtuereien und Ausflüchte voreinander, vor der Ehefrau, einer anderen Geliebten und der Umgebung, um briefliche Mißverständnisse (einmal glaubt er sich als "säumiges Luder" beschimpft, dabei hat sie bloß "säumiger Lieber" geschrieben). Und wer Benns frühere Briefwechsel mit Ellinor Büller und Tilly Wedekind gelesen hat, kann hier, im Gegensatz zur Adressatin, rasch die bewährten Kniffe wiedererkennen - die Tricks der Verführung oder Besänftigung, die hinhaltenden Versprechungen, bis hin zur vage in Aussicht gestellten Lebensgemeinschaft. Aber der Vergleich zeigt auch, wie unnütz ihm jetzt diese Strategien der Beherrschung geworden sind, auch die der Selbstbeherrschung, wie die alte Routine versagt, weil er liebt.
Einmal schickt er dem alten Freund Oelze, der diskrete Planungshilfe für ein Rendezvous leisten soll, das anrührende Bekenntnis: "Richten Sie bitte Ihre Gedanken nicht in Richtung Erotik, sondern in der Richtung, dass es einen sehr berührt, wenn man als alter Mann überhaupt noch auf ein inneres Entgegenkommen bei reizvollen jungen Frauen stösst, auf eine Berührung der Sphären, zu der natürlich auch die Erotik gehört." Das Liebesverhältnis befreit ihn unverhofft "von all diesen Dingen, in die ich geraten war und aus denen ich kein Entkommen sah"; gemeint sind "Erstarrung, Müdigkeit, Fettwerden, Ranzigwerden". Das Fettwerden mußte dem alten Herrn allerdings schwerfallen in diesem erotischen Dauerclinch, in dem sich die Geliebte von Anfang an nicht weniger widerspenstig benimmt als jetzt in ihren postumen Kommentaren. Einmal will er ihr ein Gedicht aus dem "Westöstlichen Diwan" empfehlen, fällt sich dann aber gleich selbst mit der Bemerkung ins Wort: "Ach, ich glaube, Du nimmst das alles nicht ernst." Man wird das Gefühl nicht los, daß ihm genau das gefällt. Dabei ist sie literarisch weder ungebildet noch unbegabt, im Gegenteil; sie will sich nur von der Überlegenheit des Großen nicht ins Bockshorn jagen lassen, weder damals noch heute.
Am provozierendsten ist die Entschiedenheit, mit der sie sich als Schriftstellerin an seine Seite stellt, wie damals im Briefwechsel, so jetzt in dessen Kommentar. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, wie Benn sich nun mit den Kinderbüchern auseinandersetzt, die Ursula Ziebarth für den Schulgebrauch verfaßt, zum Beispiel mit den "Geschichten vom Nettsein", als deren Leser man sich ausgerechnet Benn zuletzt vorgestellt hätte. Auch scheut sie sich keineswegs, zu Benns Gedicht "Meinen Sie, Zürich zum Beispiel . . ." eine eigene Version zu verfassen, als eine Art Widerlegungsversuch; "anmaßend" nennt sie das jetzt selbst, "aber ich konnte es damals nicht lassen". Tatsächlich bezeichnet das Gedicht in seinem etwas ungelenken Trotz geradezu den Angelpunkt dieser ungleichen Partnerschaft. Gegen das "sich umgrenzende Ich" mobilisiert "Urselchen" die Neugier der Welterfahrung, Staunen und Begeisterung: "Fahren und sich nicht bewahren! / Der Mast geht vorm Nordwind zu Stück. / Doch aus der Salzflut nach Jahren / Kommt man mit Muscheln zurück." Die Vorstellung, daß Benn so etwas ein Jahr vor seinem Tod noch zu lesen bekam, hat etwas Tröstliches.
Auch in solchen Passagen aber geht es, wie überall, um Literarisches allenfalls vordergründig. Im Mittelpunkt stehen die Liebe und das Altern, das Altern als Problem für Liebende - für beide, nicht nur für den Älteren selbst. "Du bist so jung u ich so alt", schreibt Benn schon früh. Schon bald, und ohne daß er es sich eingestände, ist aus dem Alternden ein Sterbender geworden. Den letzten Brief schreibt er im Sanatorium; noch einmal spornt er sich aus dem "sehr trüben" Allgemeinbefinden zu erotischer Lebenslust an, und am Ende gelingt es ihm, mit einem Scherz über das Wetter zu enden: "Wenn das Hotel nicht heizte, wäre ich längst tot." Drei Wochen später ist Benn gestorben. "Sein Tod", fügt die Erzählerin unsentimental wie stets hinzu, "hat mich wie ein Keulenschlag getroffen", und dann folgt eine dieser frappierend genauen Metaphern: Seine lästigen Fragen danach, wie sie ihren Tag zugebracht habe, "plötzlich entbehrte ich sie, wie man an einer Treppe das Geländer vermißt".
Hernach" läßt sich auch als ein großer Versuch lesen, diese Treppe allein und freihändig hinunterzugehen. Das Ergebnis ist oft selbstgerecht und noch öfter besitzergreifend, aber gerade so ist es auch ein Dokument intimen Verstehens, wie man es nicht leicht wieder finden wird. Indem sich "U.Z." gegen den "bösen GB" zur Wehr setzt, bringt sie ihn unvergleichlich lebhaft zur Anschauung. Wie sie selbst die Heldin ihres Buches ist, so bleibt er dessen Held, und erst aus dieser Doppelheit ergibt sich der Reiz - diese Melange aus Zartheit, Trivialitäten und Trauer. Als Benn seinem "Engelchen" die Ausgabe seines Briefwechsels mit dem Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia schenkt, schreibt er als Widmung hinein: "Unserer ist besser!" Welche Kritik wollte dem ernstlich widersprechen?
"Hernach". Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth. Mit Nachschriften von Ursula Ziebarth und einem Kommentar von Jochen Meyer. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 504 S., geb., 68,- DM.
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Indiskretion und Grandezza: Der Briefroman von Gottfried Benn und Ursula Ziebarth / Von Heinrich Detering
Es ist ein Skandal: Die Geliebte des weltberühmten Dichters, die dankbar sein sollte, als literarische Gestalt in die Geschichte eingegangen zu sein, erscheint in eigener Person, um sich gegen die Literarisierung zu behaupten; daß überdies fast ein halbes Jahrhundert zwischen der Liaison und dem Auftritt liegt, vergrößert nur die Peinlichkeit. Ganz Weimar empört sich, offen oder versteckt, über die unmögliche alte Dame mit ihren Schleifchen und dem mühsam unterdrückten Kopfwackeln. Lotte selbst bemerkt das alles, und dennoch kann nichts sie von ihrem Vorhaben abbringen. Denn das Geschehene behauptet sein Recht so gut wie das Erdichtete.
Gottfried Benns Lotte heißt Ursel. Und der Auftritt der nun achtzigjährigen Ursula Ziebarth, die von 1954 bis 1956 die Geliebte seiner letzten Lebensjahre war und von ihm über zweihundertfünfzig Briefe empfangen hat, dazu Gelegenheitsgedichte und Buchwidmungen - dieser Auftritt steht an Indiskretion und Grandezza dem Besuch Lottes in Weimar wenig nach. Die Erregung der kritischen Kleinstädter war entsprechend heftig. Von der "Peinlichkeit der Saison" war die Rede; manche Kritiker bezweifelten im Brustton der Empörung, daß dergleichen überhaupt erlaubt sei. "Wo ist es in der Literaturgeschichte je vorgekommen", fragte in der "Welt" der Benn-Kenner Joachim Dyck, "daß die ehemalige Geliebte fünfzig Jahre nach dem Tod des Mannes ihre Version der Beziehung zwischen den authentischen Briefen hätte ausbreiten dürfen?" Ja eben, wo gibt es denn so was? Hier gibt es das, und es ist buchenswert.
Es wäre ein Mißverständnis, dieses Buch einfach für eine Edition nachgelassener Briefe Gottfried Benns zu halten. Viel eher handelt es sich um eine romanhafte Collage aus im vollen Wortlaut abgedruckten Briefen, erzählenden und reflektierenden Kommentaren, Fotografien und Gedichten; sehr passend nennt Ziebarth ihr Tun ein "Hernach-Erzählen". Es ist erst der so aus Dichtung und Dokumentation zusammengefügte Gesamttext, den dann der Marbacher Philologe Jochen Meyer diskret und umsichtig ediert hat. Was nun in diesem schönen, fünfhundert Seiten starken Band unter dem Titel "Hernach" vorliegt, muß man sich so ähnlich vorstellen wie eine Neufassung des "Werther" durch eine fortwährend dazwischenredende, kommentierende, korrigierende Lotte. Das Ergebnis ist skurril und großartig.
Denn das "sehr liebe Menschlein", der "Menschenschatz", das "Pony", die "schlangen- und schakalköpfige Isis" ist nicht nur die hingebungsvoll umworbene Geliebte, sie ist auch überaus eigensinnig. Deutlicher gesagt: Sie nervt manchmal enorm, drängt sich vor und führt sich überhaupt auf, als ginge es hier um sie - aber das tut es ja auch, auf jeder Seite. Deshalb erzählt sie nicht nur das, worauf wir in unserer Eigenschaft als Benn-Liebhaber gierig erpicht sind, sondern auch alles, was wir gar nicht wissen wollen (was ihn aber lebhaft interessiert hätte), erzählt es mit unerbittlicher Genauigkeit: daß sie die Bücher Ondaatjes liebt, daß sie keine Sonnenbrille trägt und ungern kocht; wir hören, wohin sie wann gereist ist, was sie von Hinz und Kunz, Leben und Welt hält, und das alles ebenso ausführlich, wie Benn seinerzeit ihre Geschichten und Gedichte zu lesen hatte. Daß sie zuweilen von sich selbst redet, mag hingehen. Aber daß sie es manchmal sogar unter Absehung von ihrem berühmten Geliebten tut, das ist der Skandal. Gut so.
Natürlich ist diese Liebesgeschichte, der die Leser dieser Zeitung in den vergangenen Monaten als Fortsetzungsroman folgen konnten, keine Wertheriade. Aber sie erzählt doch von einem Liebenden, der unvermutet von seiner eigenen Leidenschaft überwältigt wird ("die mich selbst überraschende, verblüffende, fast ergreifende Verehrung für Deine Person"). Auch hier hören wir in den Briefen zunächst nur die eine Stimme, die des Mannes. Durch seine Augen erblicken wir die Geliebte, und in der manchmal verzweifelnden, oft verzauberten Liebesbeziehung sehen wir ihn selbst so deutlich und nah wie selten. Ein junger Werther als alter Herr, der sich mittlerweile für einen erotischen Routinier hält und erkennen muß, daß diese Bekanntschaft sein Herz sehr viel näher angeht. Zwar dreht sich das Geschehen auf weite Strecken um die Heimlichtuereien und Ausflüchte voreinander, vor der Ehefrau, einer anderen Geliebten und der Umgebung, um briefliche Mißverständnisse (einmal glaubt er sich als "säumiges Luder" beschimpft, dabei hat sie bloß "säumiger Lieber" geschrieben). Und wer Benns frühere Briefwechsel mit Ellinor Büller und Tilly Wedekind gelesen hat, kann hier, im Gegensatz zur Adressatin, rasch die bewährten Kniffe wiedererkennen - die Tricks der Verführung oder Besänftigung, die hinhaltenden Versprechungen, bis hin zur vage in Aussicht gestellten Lebensgemeinschaft. Aber der Vergleich zeigt auch, wie unnütz ihm jetzt diese Strategien der Beherrschung geworden sind, auch die der Selbstbeherrschung, wie die alte Routine versagt, weil er liebt.
Einmal schickt er dem alten Freund Oelze, der diskrete Planungshilfe für ein Rendezvous leisten soll, das anrührende Bekenntnis: "Richten Sie bitte Ihre Gedanken nicht in Richtung Erotik, sondern in der Richtung, dass es einen sehr berührt, wenn man als alter Mann überhaupt noch auf ein inneres Entgegenkommen bei reizvollen jungen Frauen stösst, auf eine Berührung der Sphären, zu der natürlich auch die Erotik gehört." Das Liebesverhältnis befreit ihn unverhofft "von all diesen Dingen, in die ich geraten war und aus denen ich kein Entkommen sah"; gemeint sind "Erstarrung, Müdigkeit, Fettwerden, Ranzigwerden". Das Fettwerden mußte dem alten Herrn allerdings schwerfallen in diesem erotischen Dauerclinch, in dem sich die Geliebte von Anfang an nicht weniger widerspenstig benimmt als jetzt in ihren postumen Kommentaren. Einmal will er ihr ein Gedicht aus dem "Westöstlichen Diwan" empfehlen, fällt sich dann aber gleich selbst mit der Bemerkung ins Wort: "Ach, ich glaube, Du nimmst das alles nicht ernst." Man wird das Gefühl nicht los, daß ihm genau das gefällt. Dabei ist sie literarisch weder ungebildet noch unbegabt, im Gegenteil; sie will sich nur von der Überlegenheit des Großen nicht ins Bockshorn jagen lassen, weder damals noch heute.
Am provozierendsten ist die Entschiedenheit, mit der sie sich als Schriftstellerin an seine Seite stellt, wie damals im Briefwechsel, so jetzt in dessen Kommentar. Es ist ein erstaunliches Schauspiel, wie Benn sich nun mit den Kinderbüchern auseinandersetzt, die Ursula Ziebarth für den Schulgebrauch verfaßt, zum Beispiel mit den "Geschichten vom Nettsein", als deren Leser man sich ausgerechnet Benn zuletzt vorgestellt hätte. Auch scheut sie sich keineswegs, zu Benns Gedicht "Meinen Sie, Zürich zum Beispiel . . ." eine eigene Version zu verfassen, als eine Art Widerlegungsversuch; "anmaßend" nennt sie das jetzt selbst, "aber ich konnte es damals nicht lassen". Tatsächlich bezeichnet das Gedicht in seinem etwas ungelenken Trotz geradezu den Angelpunkt dieser ungleichen Partnerschaft. Gegen das "sich umgrenzende Ich" mobilisiert "Urselchen" die Neugier der Welterfahrung, Staunen und Begeisterung: "Fahren und sich nicht bewahren! / Der Mast geht vorm Nordwind zu Stück. / Doch aus der Salzflut nach Jahren / Kommt man mit Muscheln zurück." Die Vorstellung, daß Benn so etwas ein Jahr vor seinem Tod noch zu lesen bekam, hat etwas Tröstliches.
Auch in solchen Passagen aber geht es, wie überall, um Literarisches allenfalls vordergründig. Im Mittelpunkt stehen die Liebe und das Altern, das Altern als Problem für Liebende - für beide, nicht nur für den Älteren selbst. "Du bist so jung u ich so alt", schreibt Benn schon früh. Schon bald, und ohne daß er es sich eingestände, ist aus dem Alternden ein Sterbender geworden. Den letzten Brief schreibt er im Sanatorium; noch einmal spornt er sich aus dem "sehr trüben" Allgemeinbefinden zu erotischer Lebenslust an, und am Ende gelingt es ihm, mit einem Scherz über das Wetter zu enden: "Wenn das Hotel nicht heizte, wäre ich längst tot." Drei Wochen später ist Benn gestorben. "Sein Tod", fügt die Erzählerin unsentimental wie stets hinzu, "hat mich wie ein Keulenschlag getroffen", und dann folgt eine dieser frappierend genauen Metaphern: Seine lästigen Fragen danach, wie sie ihren Tag zugebracht habe, "plötzlich entbehrte ich sie, wie man an einer Treppe das Geländer vermißt".
Hernach" läßt sich auch als ein großer Versuch lesen, diese Treppe allein und freihändig hinunterzugehen. Das Ergebnis ist oft selbstgerecht und noch öfter besitzergreifend, aber gerade so ist es auch ein Dokument intimen Verstehens, wie man es nicht leicht wieder finden wird. Indem sich "U.Z." gegen den "bösen GB" zur Wehr setzt, bringt sie ihn unvergleichlich lebhaft zur Anschauung. Wie sie selbst die Heldin ihres Buches ist, so bleibt er dessen Held, und erst aus dieser Doppelheit ergibt sich der Reiz - diese Melange aus Zartheit, Trivialitäten und Trauer. Als Benn seinem "Engelchen" die Ausgabe seines Briefwechsels mit dem Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia schenkt, schreibt er als Widmung hinein: "Unserer ist besser!" Welche Kritik wollte dem ernstlich widersprechen?
"Hernach". Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth. Mit Nachschriften von Ursula Ziebarth und einem Kommentar von Jochen Meyer. Wallstein Verlag, Göttingen 2001. 504 S., geb., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die 252 bisher unveröffentlichten Briefe des 68-jährigen Dichters Gottfried Benn an seine 32-jährige Geliebte Ursula Ziebarth, aus der Zeit von 1954 bis kurz vor Benns Tod im Jahr 1956, sind für Rolf Michaelis eine große Entdeckung, denn sie zeigen Benn in "all seiner Liebesnot und Altersmüdigkeit", schreibt Rezensent Rolf Michaelis. Der Leser finde hier Vieles, was ihn Leben und Werk des Dichters besser verstehen lehre. Soweit das Gute. Doch dann ergeht sich Michaelis in Kritik: Die Edition, mit Nachschriften der heute 80-jährigen Ziebarth versehen, erscheint dem Rezensenten reichlich kurios: halb Erstveröffentlichung der Briefe, halb Autobiografie der letzten Geliebten, die sich damit selbst ein Denkmal setze. Aber wofür? fragt Michaelis. Die Nachschriften seien von einem eher geringen literaturhistorischen Wert, und Frau Ziebarths Schmähungen ob ihrer von Benn unverstandenen Liebe, Wiederholungen und zahlreiche Fehler haben den Rezensenten eher abgeschreckt. Präsentiert wird hier "ein aufgeschwemmt geschwätziges, teures Buch", das, so wird am Ende offenkundig, Michaelis eigentlich nicht empfehlen mag.
© Perlentaucher Medien GmbH
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