Hero, von den Eltern zur Priesterin bestimmt, lebt allein in Sestos am nördlichen Ufer der Dardanellen. Im gegenüberliegenden Abydos stürzt sich auf der asiatischen Seite Leander allnächtlich in die Fluten, um, geleitet von der Öllampe, die Hero ins Fenster ihres Wohnturms stellt, zu ihr zu gelangen - bis eines Nachts im Sturm die Flamme verlischt. Die Sage von den zwei Königskindern, die zusammen nicht kommen können, weil das Wasser viel zu tief ist, hat schon Ovid gestaltet, ihre vollendete Fassung, auf die sich auch Bearbeiter wie Schiller und Grillparzer beziehen, findet sich aber in dem Versepos des Musaios, der um 500 nach Christus lebte. In der neuen, eleganten Prosaübertragung von Marion Giebel wird dieser anrührende Text, mit bildnerischen Darstellungen des Mythos aus verschiedenen Zeiten sowie einem die geschichtlichen Zusammenhänge erläuternden Nachwort versehen, wieder auf deutsch zugänglich gemacht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.07.2009Sind alle beide tot
Schönes, trauriges Klassikerstündchen: Eine Neuausgabe von „Hero und Leander”
Ach, wie traurig, ach, wie schön. Der Plot des Volksliedes „Es waren zwei Königskinder” ist ein ewig rührender Stoff der Weltliteratur. Boy meets girl, doch zwischen ihre Liebe haben die Götter große Hindernisse gesetzt: die Eltern des Mädchens nämlich sowie ein tosendes Meer. Also schwimmt der verliebte junge Mann immer wieder nachts zur Geliebten hinüber, sich an dem Licht orientierend, das sie auf der anderen Seite in ihr Fenster gestellt hat; doch einmal erlischt das Licht, der Jüngling ertrinkt, und da will das Mädchen auch nicht mehr leben und stürzt sich zu ihm in den Tod.
Der Stoff geht zurück auf die antike Geschichte von Hero und Leander. Diese Liebesgeschichte spielt an einem welthistorischen Schauplatz in der heutigen Türkei: an der Meerenge der Dardanellen, griechisch Hellespont, wo sich Europa und Asien eng berühren, wo die enge Durchfahrt vom ägäischen Mittelmeer ins Marmarameer führt, und damit auch nachher durch den Bosporus bei Istanbul zum Schwarzen Meer.
Auf der europäischen Seite, auf der Halbinsel Gallipoli, lag einst die Stadt Sestos, dort lebte nach der Legende die wunderschöne Hero, Priesterin der Aphrodite. Direkt gegenüber auf der asiatischen Seite die Stadt Abydos, bei der heutigen Stadt Çanakkale, dort war der ebenso schöne Leander zu Hause. Die beiden verguckten sich beim Aphroditefest in Sestos heftig ineinander und hatten nichts als die Liebe im Sinn – doch der Schauplatz barg Gefahr. Genau an dieser Stelle ließ der Perserkönig Xerxes im Jahre 480 vor Christus sein gewaltiges Heer Richtung Griechenland übers Meer setzen, dem Historiker Herodot zufolge eine Urszene des Ost-West-Konflikts; hier machte 334 vor Christus Alexander der Große den Übergang in umgekehrter Richtung, um den Osten zu erobern. Und Gallipoli war auch der Ort der erbitterten Schlacht im Ersten Weltkrieg, in der 1915/16 im erfolglosen Kampf der Alliierten gegen das Osmanische Reich über eine halbe Million Soldaten starben.
Hero und Leander haben mit ihrem Liebestod nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur große Karriere gemacht. 1598 erschien „Hero and Leander”, ein Kurzepos von Christopher Marlowe, Goethe ging eine Zeitlang mit dem Stoff schwanger, Friedrich Schiller schrieb 1801 seine umwerfend rasante Ballade „Hero und Leander”, Franz Grillparzer brachte 1831 das Trauerspiel „Des Meeres und der Liebe Wellen” auf die Wiener Bühne.
Die Liebe und der Schüttelfrost
Grundlage dieser Wirkungsgeschichte war – neben zwei der „Heroinenbriefe” des römischen Dichters Ovid – das Kurzepos „Hero und Leander” in 350 Hexameter-Versen, verfasst von dem griechischen Dichter Musaios. An dieser Stelle bei Christopher Marlowe: „Amorous Leander, beautiful and young, / whose tragedy divine Musaeus sung” lässt sich gut ablesen, dass der Verfasser des antiken Gedichts gerne mit dem gleichnamigen Sänger Musaios aus der Mythologie gleichgesetzt wurde, einem Genossen des Orpheus. Doch Musaios war ein sterblicher Dichter der Spätantike, schreibend am absoluten Endpunkt der heidnischen Dichtung des Altertums zu Anfang des sechsten Jahrhunderts, von dem sonst wenig bekannt ist. Das Gedicht schließt sich an die Sprache Homers an, ist aber in seinem poetischen Anspielungsreichtum als Spätwerk identifizierbar.
Nun ist „Hero und Leander” von Musaios in einer der schönen kleinen Ausgaben der Insel-Bücherei neu erschienen, in einer originalgetreuen Prosaübersetzung von Marion Giebel, die auch ein instruktives Nachwort und Illustrationen vom Pompeji-Fresko bis Moritz von Schwind beigegeben hat.
Die kunstvolle Sprache des Originals ist in dieser deutschen Übersetzung abgestreift, was den Vorzug hat, dass man schnell erfasst, wie Musaios im Vergleich zu späteren Auschmückungen den Plot eigentlich eher einfach hält. Umso kraftvoller wirkt dadurch das Motiv der durch nichts aufzuhaltenden Liebe, die in der Antike immer auch als Krankheit aufgefasst wird. Bei Heros Auftritt zum Fest geht das so: „Tief trifft sie hinein in die empfindsamen Herzen der jungen Männer. Da ist keiner, der sich nicht Hero sehnlichst als Bettgenossin wünschte.” – „Ihn ergriff Staunen, kühnes Begehren, Erschütterung und Scham.” – „Schon spürte sie den Stachel des Eros, des bittersüßen . . .”. Das Büchlein bietet, nimmt man Schillers Ballade noch hinzu, ein schönes kleines Klassikerstündchen.
Gegenüber dem dramatisch traurigen Ende der alten Geschichte verspürte Lord Byron den Abstand des modernen Menschen. Byron durchschwamm 1810 selbst die Dardanellen. Und schrieb dann in seinem Gedicht „Written After Swimming from Sestos to Abydos”: „. . . he was drowned, and I’ve the ague” – „er ertrank, und ich habe nur Schüttelfrost.” JOHAN SCHLOEMANN
MUSAIOS: Hero und Leander. Aus dem Altgriechischen neu übersetzt und herausgegeben von Marion Giebel. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2009. 61 Seiten, 12,80 Euro.
Hero und Leander, gemalt von William Etty (1787-1849). Foto: bridgemanart.com
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Schönes, trauriges Klassikerstündchen: Eine Neuausgabe von „Hero und Leander”
Ach, wie traurig, ach, wie schön. Der Plot des Volksliedes „Es waren zwei Königskinder” ist ein ewig rührender Stoff der Weltliteratur. Boy meets girl, doch zwischen ihre Liebe haben die Götter große Hindernisse gesetzt: die Eltern des Mädchens nämlich sowie ein tosendes Meer. Also schwimmt der verliebte junge Mann immer wieder nachts zur Geliebten hinüber, sich an dem Licht orientierend, das sie auf der anderen Seite in ihr Fenster gestellt hat; doch einmal erlischt das Licht, der Jüngling ertrinkt, und da will das Mädchen auch nicht mehr leben und stürzt sich zu ihm in den Tod.
Der Stoff geht zurück auf die antike Geschichte von Hero und Leander. Diese Liebesgeschichte spielt an einem welthistorischen Schauplatz in der heutigen Türkei: an der Meerenge der Dardanellen, griechisch Hellespont, wo sich Europa und Asien eng berühren, wo die enge Durchfahrt vom ägäischen Mittelmeer ins Marmarameer führt, und damit auch nachher durch den Bosporus bei Istanbul zum Schwarzen Meer.
Auf der europäischen Seite, auf der Halbinsel Gallipoli, lag einst die Stadt Sestos, dort lebte nach der Legende die wunderschöne Hero, Priesterin der Aphrodite. Direkt gegenüber auf der asiatischen Seite die Stadt Abydos, bei der heutigen Stadt Çanakkale, dort war der ebenso schöne Leander zu Hause. Die beiden verguckten sich beim Aphroditefest in Sestos heftig ineinander und hatten nichts als die Liebe im Sinn – doch der Schauplatz barg Gefahr. Genau an dieser Stelle ließ der Perserkönig Xerxes im Jahre 480 vor Christus sein gewaltiges Heer Richtung Griechenland übers Meer setzen, dem Historiker Herodot zufolge eine Urszene des Ost-West-Konflikts; hier machte 334 vor Christus Alexander der Große den Übergang in umgekehrter Richtung, um den Osten zu erobern. Und Gallipoli war auch der Ort der erbitterten Schlacht im Ersten Weltkrieg, in der 1915/16 im erfolglosen Kampf der Alliierten gegen das Osmanische Reich über eine halbe Million Soldaten starben.
Hero und Leander haben mit ihrem Liebestod nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur große Karriere gemacht. 1598 erschien „Hero and Leander”, ein Kurzepos von Christopher Marlowe, Goethe ging eine Zeitlang mit dem Stoff schwanger, Friedrich Schiller schrieb 1801 seine umwerfend rasante Ballade „Hero und Leander”, Franz Grillparzer brachte 1831 das Trauerspiel „Des Meeres und der Liebe Wellen” auf die Wiener Bühne.
Die Liebe und der Schüttelfrost
Grundlage dieser Wirkungsgeschichte war – neben zwei der „Heroinenbriefe” des römischen Dichters Ovid – das Kurzepos „Hero und Leander” in 350 Hexameter-Versen, verfasst von dem griechischen Dichter Musaios. An dieser Stelle bei Christopher Marlowe: „Amorous Leander, beautiful and young, / whose tragedy divine Musaeus sung” lässt sich gut ablesen, dass der Verfasser des antiken Gedichts gerne mit dem gleichnamigen Sänger Musaios aus der Mythologie gleichgesetzt wurde, einem Genossen des Orpheus. Doch Musaios war ein sterblicher Dichter der Spätantike, schreibend am absoluten Endpunkt der heidnischen Dichtung des Altertums zu Anfang des sechsten Jahrhunderts, von dem sonst wenig bekannt ist. Das Gedicht schließt sich an die Sprache Homers an, ist aber in seinem poetischen Anspielungsreichtum als Spätwerk identifizierbar.
Nun ist „Hero und Leander” von Musaios in einer der schönen kleinen Ausgaben der Insel-Bücherei neu erschienen, in einer originalgetreuen Prosaübersetzung von Marion Giebel, die auch ein instruktives Nachwort und Illustrationen vom Pompeji-Fresko bis Moritz von Schwind beigegeben hat.
Die kunstvolle Sprache des Originals ist in dieser deutschen Übersetzung abgestreift, was den Vorzug hat, dass man schnell erfasst, wie Musaios im Vergleich zu späteren Auschmückungen den Plot eigentlich eher einfach hält. Umso kraftvoller wirkt dadurch das Motiv der durch nichts aufzuhaltenden Liebe, die in der Antike immer auch als Krankheit aufgefasst wird. Bei Heros Auftritt zum Fest geht das so: „Tief trifft sie hinein in die empfindsamen Herzen der jungen Männer. Da ist keiner, der sich nicht Hero sehnlichst als Bettgenossin wünschte.” – „Ihn ergriff Staunen, kühnes Begehren, Erschütterung und Scham.” – „Schon spürte sie den Stachel des Eros, des bittersüßen . . .”. Das Büchlein bietet, nimmt man Schillers Ballade noch hinzu, ein schönes kleines Klassikerstündchen.
Gegenüber dem dramatisch traurigen Ende der alten Geschichte verspürte Lord Byron den Abstand des modernen Menschen. Byron durchschwamm 1810 selbst die Dardanellen. Und schrieb dann in seinem Gedicht „Written After Swimming from Sestos to Abydos”: „. . . he was drowned, and I’ve the ague” – „er ertrank, und ich habe nur Schüttelfrost.” JOHAN SCHLOEMANN
MUSAIOS: Hero und Leander. Aus dem Altgriechischen neu übersetzt und herausgegeben von Marion Giebel. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2009. 61 Seiten, 12,80 Euro.
Hero und Leander, gemalt von William Etty (1787-1849). Foto: bridgemanart.com
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Johan Schloemann gönnt sich ein Klassikerstündchen. Musaios' antike Geschichte von Hero und Leander, Grundlage einer langen Wirkungsgeschichte in der Literatur, führt er sich zusammen mit Schillers gleichnamiger "rasanter" Ballade zu Gemüte. Für Schloemann offensichtlich ein perfekter Zusammenklang, scheint ihm das Motiv der durch nichts aufzuhaltenden Liebe beim Dichter der Spätantike mit seiner einfachen Plotstruktur ebenso kraftvoll in Szene gesetzt. Die Musaios' kunstvolle Sprache abstreifende deutsche Übersetzung der 350 Hexameter von Marion Giebel hilft dem Rezensenten, die effektvolle Einfachheit zu begreifen, die bei späteren Adaptionen verloren ging. Nachwort und beigefügte Illustrationen runden Schloemanns Klassikererlebnis ab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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