Das 5. Jahrhundert v.Chr. war in Griechenland geprägt durch zwei gewaltige Kriege - den Krieg der Hellenen gegen die Perser und den Peloponnesischen Krieg, in dem sich die Bündnissysteme der Athener und der Spartaner gegenüberstanden. Die dramatischen Ereignisse, die damals den Mittelmeerraum erschütterten, haben in Herodot und Thukydides ihre Chronisten gefunden. Ihre Werke zählen bis auf den heutigen Tag zur Weltliteratur. Anlässlich des 2500. Geburtstags des Vaters der Geschichtsschreibung, Herodot von Halikarnass, werden in diesem Buch die beiden großen Historiker gewürdigt.
Wolfgang Will versteht es meisterhaft, die Zeit des Herodot und des Thukydides wieder lebendig werden zu lassen. Er skizziert die Weltbilder, Geschichtsbilder und Menschenbilder, die ihren Werken zugrunde liegen und lässt das Bewusstsein der Griechen für die eigene Identität und ihre Abgrenzung gegenüber dem Fremden verständlich werden. Nicht zuletzt gelingt es ihm, die Kunst der großen Schlachtendarstellungen, die ausgefeilten Erzähltechniken, die Beschreibung der Götter, der Staatsorganisation, der wirtschaftlichen, aber auch der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erklären. Einen besonderen Akzent legt er auf die Bedeutung der Humanität des Historikers. Zum Abschluss wirft er einen Blick auf das Nachleben von Herodot und Thukydides im Mittelalter und der Neuzeit und arbeitet ihre ungebrochene Bedeutung für die Gegenwart heraus.
Wolfgang Will versteht es meisterhaft, die Zeit des Herodot und des Thukydides wieder lebendig werden zu lassen. Er skizziert die Weltbilder, Geschichtsbilder und Menschenbilder, die ihren Werken zugrunde liegen und lässt das Bewusstsein der Griechen für die eigene Identität und ihre Abgrenzung gegenüber dem Fremden verständlich werden. Nicht zuletzt gelingt es ihm, die Kunst der großen Schlachtendarstellungen, die ausgefeilten Erzähltechniken, die Beschreibung der Götter, der Staatsorganisation, der wirtschaftlichen, aber auch der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erklären. Einen besonderen Akzent legt er auf die Bedeutung der Humanität des Historikers. Zum Abschluss wirft er einen Blick auf das Nachleben von Herodot und Thukydides im Mittelalter und der Neuzeit und arbeitet ihre ungebrochene Bedeutung für die Gegenwart heraus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2015Vierhundert Männer gegen zweihundert Frauen
Als Geschichtsschreiber noch etwas auf Augenzeugen gaben: Wolfgang Will vergleicht Herodot und Thukydides
Der Jüngere der beiden arbeitete sich am Älteren ab. Beide tummelten sich auf demselben Feld, der literarischen Vergegenwärtigung eines Krieges, gegen selektives Erinnern, parteiische Urteile und schlichtes Vergessen. Um sich abzugrenzen, warf jener dem Rivalen vor, sich mit hübschen Geschichten zum einmaligen Hören zu begnügen und Unverbürgtes ungeprüft weiterzuerzählen. Beide traten zugleich mit dem noch viel früheren Dichter eines zehn Jahre währenden Krieges in Wettbewerb, dessen Epos berühmter war, als jedes Geschichtsbuch in Prosa es je werden konnte. Beide grenzten sich von diesem uneinholbaren Archegeten ab: Über so alte Zeiten gebe es keine sichere Kunde, so der eine; Dichter pflegten mit Worten zu überhöhen, ohne begreifen zu wollen, so der andere.
Was aufgeschriebene Geschichte jenseits von Siegeschroniken und poetischer Überhöhung zu leisten vermag, haben Herodot und Thukydides mit ihren Darstellungen der Perserkriege beziehungsweise des Peloponnesischen Krieges innerhalb einer Generation aufgewiesen. Herodot aus dem kleinasiatischen Halikarnassos begann seine Arbeit Mitte des fünften Jahrhunderts, als die Erlebnisgeneration von Marathon und Salamis ins Alter kam, das Bild der Ereignisse aber zunehmend durch Partikularismus und neue Konflikte zerrissen und begraben wurde. Herodot ordnete das Geschehen weniger Jahre zeitlich und räumlich in einen denkbar weiten Horizont ein. Zugleich ließ er die jeweils besonderen Erinnerungen der beteiligten Kollektive, aus deren Erzählungen sich sein Werk speiste, immer wieder zu Wort kommen. Ein genialer Zug, konnten sich die Hörer des fertigen Werkes doch in diesem wiederfinden - und zugleich erkennen, dass ihre kleinen Geschichten Teile eines großen Sinnzusammenhangs waren.
Der Athener Thukydides begründete dagegen den bis heute geübten Gestus des Historikers als des Herrn über die Geschichte, beginnend damit, dass er seinen Gegenstand konstruierte: Niemand sonst nahm die Jahre von 431 bis 404 als Einheit wahr, hatte es doch davor schon Kriege mit den gleichen Akteuren gegeben und sollten diese auch danach weitergehen. Thukydides skizziert eine besondere Methode und begründet damit den Anspruch, über die Ereignisse wahrer und nützlicher sprechen zu können als alle anderen. Da er als Zeitgenosse und Beteiligter schrieb, fiel ihm eine exakte Rekonstruktion auch leichter. Doch stets spricht allein der Autor; die Tür zur Werkstatt bleibt verschlossen. Mit Entsagung und Disziplin ist das Werk entstanden; seine Lektüre, so die Botschaft des Atheners, erfordert die gleichen Tugenden.
Aus verschiedenen Gründen dürften heutzutage nur noch wenige Interessierte Herodot und Thukydides unmittelbar und von vorn bis hinten lesen. Um einen Weg zu ihren Werken zu öffnen, legt Wolfgang Will eine vortreffliche Einführung vor. Übersichtlich werden jeweils Stoff, Werk, Lebenslauf und der programmatische erste Satz vorgestellt; weitere Kapitel behandeln Methode, Sprache und Darstellungsmittel sowie die wichtigsten inhaltlichen Aspekte der Darstellung.
Will schreibt als Historiker und rückt daher Gesellschaft, Verfassung und den Krieg ins Zentrum, doch auch dem Bild der Geschichtsschreiber von der Stellung des Menschen in der Welt und zu den Göttern gilt ein lesenswertes Kapitel. Als Höhepunkte analysiert Will exemplarisch den Kronrat, in dem Herodot die Perser windungsreich den Entschluss zur Invasion von Griechenland fassen lässt, sowie natürlich den Melierdialog des Thukydides, die Verhandlung der Athener mit den widerständigen Bewohnern der Insel Melos.
Systematisch und kontrastiv zu berichten, wie es hier geschieht, mag auf den ersten Blick schulmäßig und etwas dröge wirken. Aber Will gewinnt seiner auf Übersichtlichkeit zielenden Disposition erhellende Einsichten ab, wenn er etwa das Lachen bei Herodot auf fünf Seiten vorstellt, um dann lapidar festzustellen, bei Thukydides werde nicht gelacht. Auch lässt dieser etwa vierhundert Männer namentlich auftreten, "aber keine in irgendeiner Weise tätige Frau". Demgegenüber handeln in Herodots Werk über zweihundert Frauen, und noch mehr werden erwähnt. Hier und da gibt es freilich auch eine Stabübergabe: Herodot führt den "Abgesang auf den Augenzeugen" vor - bissig kommentiert von Will: Das erste Auftreten des Augenzeugen in der abendländischen Geschichte hätte auch sein letztes sein müssen! Thukydides zog dann die methodische und historiographische Konsequenz aus dem Debakel.
Routiniertes Dozieren ist Wills Sache nicht. Er vermittelt die Ergebnisse der mittlerweile unübersehbaren Forschung, bewahrt sich aber einen immer neuen Blick auf die alten Texte. Auf diese Weise gelingen ihm wiederholt kluge Beobachtungen, mit einer gewissen Neigung, Paradoxien aufzuzeigen. So konzipierte und deutete Thukydides den Peloponnesischen Krieg von Perikles her, der schon im dritten von siebenundzwanzig Kriegsjahren starb, und spielen Helden in seinem Werk eine wichtige, nämlich analytische Rolle, während sie bei Herodot die Darstellung individualisieren und die Spannung erhöhen.
Der Favorit von Wolfgang Will ist wohl eher Thukydides, dessen auf knapp fünf Seiten verdichtete innere Biographie gegen Ende des Buches eine Perle ist. Denn auch dieser so distanziert erscheinende, intellektuelle Geschichtsschreiber stellt sich, dies die Pointe, in enge Verbindung zu seinen Lesern, indem er vorlebt, was er diesen anbietet: aus den geschilderten Leistungen und Leiden zu lernen, auch wenn dies Opfer verlangt. Ein erwachsenes Buch für erwachsene Leser.
UWE WALTER
Wolfgang Will: "Herodot und Thukydides". Die Geburt der Geschichte.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 280 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Geschichtsschreiber noch etwas auf Augenzeugen gaben: Wolfgang Will vergleicht Herodot und Thukydides
Der Jüngere der beiden arbeitete sich am Älteren ab. Beide tummelten sich auf demselben Feld, der literarischen Vergegenwärtigung eines Krieges, gegen selektives Erinnern, parteiische Urteile und schlichtes Vergessen. Um sich abzugrenzen, warf jener dem Rivalen vor, sich mit hübschen Geschichten zum einmaligen Hören zu begnügen und Unverbürgtes ungeprüft weiterzuerzählen. Beide traten zugleich mit dem noch viel früheren Dichter eines zehn Jahre währenden Krieges in Wettbewerb, dessen Epos berühmter war, als jedes Geschichtsbuch in Prosa es je werden konnte. Beide grenzten sich von diesem uneinholbaren Archegeten ab: Über so alte Zeiten gebe es keine sichere Kunde, so der eine; Dichter pflegten mit Worten zu überhöhen, ohne begreifen zu wollen, so der andere.
Was aufgeschriebene Geschichte jenseits von Siegeschroniken und poetischer Überhöhung zu leisten vermag, haben Herodot und Thukydides mit ihren Darstellungen der Perserkriege beziehungsweise des Peloponnesischen Krieges innerhalb einer Generation aufgewiesen. Herodot aus dem kleinasiatischen Halikarnassos begann seine Arbeit Mitte des fünften Jahrhunderts, als die Erlebnisgeneration von Marathon und Salamis ins Alter kam, das Bild der Ereignisse aber zunehmend durch Partikularismus und neue Konflikte zerrissen und begraben wurde. Herodot ordnete das Geschehen weniger Jahre zeitlich und räumlich in einen denkbar weiten Horizont ein. Zugleich ließ er die jeweils besonderen Erinnerungen der beteiligten Kollektive, aus deren Erzählungen sich sein Werk speiste, immer wieder zu Wort kommen. Ein genialer Zug, konnten sich die Hörer des fertigen Werkes doch in diesem wiederfinden - und zugleich erkennen, dass ihre kleinen Geschichten Teile eines großen Sinnzusammenhangs waren.
Der Athener Thukydides begründete dagegen den bis heute geübten Gestus des Historikers als des Herrn über die Geschichte, beginnend damit, dass er seinen Gegenstand konstruierte: Niemand sonst nahm die Jahre von 431 bis 404 als Einheit wahr, hatte es doch davor schon Kriege mit den gleichen Akteuren gegeben und sollten diese auch danach weitergehen. Thukydides skizziert eine besondere Methode und begründet damit den Anspruch, über die Ereignisse wahrer und nützlicher sprechen zu können als alle anderen. Da er als Zeitgenosse und Beteiligter schrieb, fiel ihm eine exakte Rekonstruktion auch leichter. Doch stets spricht allein der Autor; die Tür zur Werkstatt bleibt verschlossen. Mit Entsagung und Disziplin ist das Werk entstanden; seine Lektüre, so die Botschaft des Atheners, erfordert die gleichen Tugenden.
Aus verschiedenen Gründen dürften heutzutage nur noch wenige Interessierte Herodot und Thukydides unmittelbar und von vorn bis hinten lesen. Um einen Weg zu ihren Werken zu öffnen, legt Wolfgang Will eine vortreffliche Einführung vor. Übersichtlich werden jeweils Stoff, Werk, Lebenslauf und der programmatische erste Satz vorgestellt; weitere Kapitel behandeln Methode, Sprache und Darstellungsmittel sowie die wichtigsten inhaltlichen Aspekte der Darstellung.
Will schreibt als Historiker und rückt daher Gesellschaft, Verfassung und den Krieg ins Zentrum, doch auch dem Bild der Geschichtsschreiber von der Stellung des Menschen in der Welt und zu den Göttern gilt ein lesenswertes Kapitel. Als Höhepunkte analysiert Will exemplarisch den Kronrat, in dem Herodot die Perser windungsreich den Entschluss zur Invasion von Griechenland fassen lässt, sowie natürlich den Melierdialog des Thukydides, die Verhandlung der Athener mit den widerständigen Bewohnern der Insel Melos.
Systematisch und kontrastiv zu berichten, wie es hier geschieht, mag auf den ersten Blick schulmäßig und etwas dröge wirken. Aber Will gewinnt seiner auf Übersichtlichkeit zielenden Disposition erhellende Einsichten ab, wenn er etwa das Lachen bei Herodot auf fünf Seiten vorstellt, um dann lapidar festzustellen, bei Thukydides werde nicht gelacht. Auch lässt dieser etwa vierhundert Männer namentlich auftreten, "aber keine in irgendeiner Weise tätige Frau". Demgegenüber handeln in Herodots Werk über zweihundert Frauen, und noch mehr werden erwähnt. Hier und da gibt es freilich auch eine Stabübergabe: Herodot führt den "Abgesang auf den Augenzeugen" vor - bissig kommentiert von Will: Das erste Auftreten des Augenzeugen in der abendländischen Geschichte hätte auch sein letztes sein müssen! Thukydides zog dann die methodische und historiographische Konsequenz aus dem Debakel.
Routiniertes Dozieren ist Wills Sache nicht. Er vermittelt die Ergebnisse der mittlerweile unübersehbaren Forschung, bewahrt sich aber einen immer neuen Blick auf die alten Texte. Auf diese Weise gelingen ihm wiederholt kluge Beobachtungen, mit einer gewissen Neigung, Paradoxien aufzuzeigen. So konzipierte und deutete Thukydides den Peloponnesischen Krieg von Perikles her, der schon im dritten von siebenundzwanzig Kriegsjahren starb, und spielen Helden in seinem Werk eine wichtige, nämlich analytische Rolle, während sie bei Herodot die Darstellung individualisieren und die Spannung erhöhen.
Der Favorit von Wolfgang Will ist wohl eher Thukydides, dessen auf knapp fünf Seiten verdichtete innere Biographie gegen Ende des Buches eine Perle ist. Denn auch dieser so distanziert erscheinende, intellektuelle Geschichtsschreiber stellt sich, dies die Pointe, in enge Verbindung zu seinen Lesern, indem er vorlebt, was er diesen anbietet: aus den geschilderten Leistungen und Leiden zu lernen, auch wenn dies Opfer verlangt. Ein erwachsenes Buch für erwachsene Leser.
UWE WALTER
Wolfgang Will: "Herodot und Thukydides". Die Geburt der Geschichte.
Verlag C. H. Beck, München 2015. 280 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Thomas Ribi freut sich, Herodot und Thukydides in dieser Parallelmonografie des Althistorikers Wolfgang Will vereint und getrennt zu sehen. Sowohl Gemeinsamkeiten als auch das Eigenständige der beiden kann ihm der Autor übersichtlich, wenngleich in der Anlage etwas schematisch, wie der Rezensent meint, darlegen. Vor allem Herodot erscheint Ribi in seiner Pionierstellung, was seine skeptische und nachvollziehbare Quellenbehandlung betrifft. Wie Thukydides darauf aufbaut und schließlich mit Herodot den Willen teilt, die Ursachen historischer Geschehnisse auszumachen und darin nach Konstanten menschlichen Verhaltens zu forschen, macht ihm der Autor gleichfalls faktenreich und mittels sorgfältiger Recherche verständlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein großartiges Plädoyer für die neue Lektüre der beiden Historiker."
Thomas Meyer, Süddeutsche Zeitung, 11. Januar 2016
"Eine vortreffliche Einführung."
Uwe Walter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 2015
Thomas Meyer, Süddeutsche Zeitung, 11. Januar 2016
"Eine vortreffliche Einführung."
Uwe Walter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Dezember 2015