Die Tage dehnen sich, und zugleich schnurrt die Zeit zusammen. Die Uhr läuft ab, dabei könnte es gerade erst losgehen. Ob ein kleiner weißer Spitz daran etwas ändern würde?Den ehemaligen Kollegen hat er immer beneidet. Um den Ruhestand, das Motorrad und die neue Freiheit. Doch jetzt steht er selbst frisch verrentet auf den bemoosten Treppen vor seinem Haus und weiß nicht wohin. Eine Krawatte braucht er nicht mehr, zu Hause ist er im Weg, die Kinder sind längst ausgezogen. Ob die junge Frau, die er jüngst auf dem Friedhof getroffen hat, ihm nur etwas vormacht, vermag er nicht zu sagen. Er ist aus der Übung. Und dennoch nimmt er ihren Vorschlag an, lässt sich von ihrer Agentur »Happy family« mal als Opa, mal als Exmann, dann wieder als Vorgesetzter engagieren und trifft auf fremde Menschen und Schicksale. Er spielt seine Rollen gut, und seine Frau bekommt von alledem nichts mit. Sie hat wieder angefangen zu tanzen ...Ein nachdenkliches Buch über Erinnerungen und unerfüllte Träume, über Glücksmomente und Wendepunkte. Milena Michiko Flasar zeichnet mit wenigen Strichen, beredten Bildern und unnachahmlicher Wärme ein ganz gewöhnliches, ganz einzigartiges Leben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2018Leben wie Loriot in Japan
Bonsai umtopfen: Milena Michiko Flasars Roman "Herr Kato spielt Familie"
Ein Mann geht zum Arzt und bekommt keine Diagnose. Das Ergebnis wirft ihn aus der Bahn. Sollte er nicht wenigstens ein bisschen krank sein? Etwas gefährdet? Oder zumindest arm dran? Zum Beispiel in den Augen seiner Frau, die neuerdings das Tanzen wieder für sich entdeckt hat. Ein fast schon unschickliches Hobby. So viel Leidenschaft, ein Tanzlehrer, der das alles in ihr entfacht, rote Wangen - in ihrem Alter!
Herr Kato und seine Frau leiden unter dem Retired Husband Syndrome. So steht es in dem schmalen Roman von Milena Michiko Flasar, die in Österreich lebt, japanische Wurzeln hat und deren Überraschungserfolgsroman "Ich nannte ihn Krawatte" ebenfalls im heutigen Japan spielte. Die Festung der Arbeitswelt steht für Herrn Kato mit dem Eintritt ins Rentenalter nicht mehr zur Verfügung. Neue Betätigungsfelder wollen gefunden werden. Gerne im ureigenen Wirkungsbereich der Hausfrau. Man kennt das aus dem Loriot-Spielfilm "Pappa ante portas", in dem der frisch pensionierte Ehemann mit absurden Einkaufsaktionen den Unmut seiner Gattin weckt. Palettenweise wird Senf angeliefert, um den Massenrabatt einstreichen zu können. Die Frau steht fassungslos daneben.
In Herrn Katos Fall: "Er hat es sich auf seiner Liste notiert. Ganz oben: mit den Kindern telefonieren. Sie fragen, wie es ihnen geht. Danach: das Radio reparieren. Die Schallplatten ordnen, wobei er noch unschlüssig ist, ob nach Alphabet oder musikalischem Genre. Den Bonsai umtopfen. Aber damit kennt er sich nicht aus. Also: sich zuerst einlesen, wie man das macht. Weiter unten: ein Geschenk. Er hat nicht dazugeschrieben: für meine Frau, stattdessen: ohne Anlass, weil er gehört hat, in der Fernsehsendung, die er eigentlich gar nicht schaut, dass das die beste Art des Schenkens ist, jemanden zu überraschen, einfach so, ohne sich selbst als den Schenkenden in den Vordergrund zu stellen, was bei den meisten, bei etwa fünfundneunzig Prozent, leider der Fall sei."
Das sind aber alles nur Pläne, und so leben die Katos desinteressiert aneinander vorbei. Bis eine junge Schauspielerin auftaucht, die Herrn Kato für ihre Stand-in-Agentur rekrutiert. Offenbar ein Geschäftszweig, der in Japan tatsächlich floriert: Schauspieler, die für private Familienlügentheater gebucht werden. Als Opa eines Jungen zum Beispiel, dessen echter Opa nichts von ihm wissen will. Oder als Ehemann einer untergebutterten Dame, die Herrn Kato in einem ausgelagerten Racheritual die Scheidungspapiere auf den Tisch knallt. Das Ganze bleibt nicht ohne Eindruck auf Herrn Kato.
Die junge Schauspielerin sieht an der Dienstleistung ihrer Agentur nichts Anrüchiges. "Wir springen ein", sagt sie, "wo man uns braucht, und ersetzen den eigentlichen Darsteller, denn auch der, den wir spielen, stellt sich die meiste Zeit dar und ist somit ein Schauspieler. Ja, es gibt Leute, die sind noch im Schlaf nicht sie selbst. Beklemmend, oder?" Flasars Roman handelt also nur vordergründig von der Altersdepression eines japanischen Rentners. Im Hintergrund lauern die Fragen einer jeden Existenz. Ist sie aufrichtig oder verlogen? Und wenn sie verlogen ist, wie groß ist das Maß der Verlogenheit? Und wenn es groß ist, who cares?
Auf beiläufige Weise gelingen Flasar in ihrem dritten Roman Problemskizzen des modernen Zeitgeists am Beispiel der japanischen Wirklichkeit. Sowohl der Sohn als auch die Tochter der Katos scheinen beispielsweise via Reproduktionsmedizin am ersehnten Nachwuchs zu arbeiten. Nichts scheint in Herrn Katos Leben mehr seinen natürlichen Gang zu gehen. Die Menschen haben den Überblick über richtig und falsch verloren. Vielleicht sind diese Zuordnungen auch kaum sinnvoll in einer Welt, die zwischen Maßlosigkeit und Machbarkeit nicht nur für Senioren ihre Substanz zu verlieren droht.
Doch für Herrn Kato gibt es doch ein bisschen Hoffnung. Bei der Hochzeit einer todkranken Braut empfindet er plötzlich mehr als bei der seiner eigenen Tochter. Und so ist er auf einmal, stimuliert durch die echten falschen Gefühle, in der Lage, einen schönen großen Blumenstrauß zu kaufen. Den stellt er seiner Gattin ins Wohnzimmer. Und dann schlägt das vermeintliche Happy Ending doch noch einen surrealen Haken. Denn die tanzende Gattin behauptet einfach, den Strauß hätte ihr eine Freundin vorbeigebracht. Wer träumt sich hier eigentlich was zusammen? Sind wir Menschen dazu verdammt, aneinander vorbeizusymbolisieren? Und auf einmal sticht es im Herzen. Das Ende wird nicht verraten. Aber die etwas banale Einsicht, dass ein Herz entweder schlägt oder eben nicht, scheint auch in Herr und Frau Kato etwas in Bewegung zu bringen.
KATHARINA TEUTSCH.
Milena Michiko Flasar: "Herr Katô spielt Familie". Roman.
Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 169 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bonsai umtopfen: Milena Michiko Flasars Roman "Herr Kato spielt Familie"
Ein Mann geht zum Arzt und bekommt keine Diagnose. Das Ergebnis wirft ihn aus der Bahn. Sollte er nicht wenigstens ein bisschen krank sein? Etwas gefährdet? Oder zumindest arm dran? Zum Beispiel in den Augen seiner Frau, die neuerdings das Tanzen wieder für sich entdeckt hat. Ein fast schon unschickliches Hobby. So viel Leidenschaft, ein Tanzlehrer, der das alles in ihr entfacht, rote Wangen - in ihrem Alter!
Herr Kato und seine Frau leiden unter dem Retired Husband Syndrome. So steht es in dem schmalen Roman von Milena Michiko Flasar, die in Österreich lebt, japanische Wurzeln hat und deren Überraschungserfolgsroman "Ich nannte ihn Krawatte" ebenfalls im heutigen Japan spielte. Die Festung der Arbeitswelt steht für Herrn Kato mit dem Eintritt ins Rentenalter nicht mehr zur Verfügung. Neue Betätigungsfelder wollen gefunden werden. Gerne im ureigenen Wirkungsbereich der Hausfrau. Man kennt das aus dem Loriot-Spielfilm "Pappa ante portas", in dem der frisch pensionierte Ehemann mit absurden Einkaufsaktionen den Unmut seiner Gattin weckt. Palettenweise wird Senf angeliefert, um den Massenrabatt einstreichen zu können. Die Frau steht fassungslos daneben.
In Herrn Katos Fall: "Er hat es sich auf seiner Liste notiert. Ganz oben: mit den Kindern telefonieren. Sie fragen, wie es ihnen geht. Danach: das Radio reparieren. Die Schallplatten ordnen, wobei er noch unschlüssig ist, ob nach Alphabet oder musikalischem Genre. Den Bonsai umtopfen. Aber damit kennt er sich nicht aus. Also: sich zuerst einlesen, wie man das macht. Weiter unten: ein Geschenk. Er hat nicht dazugeschrieben: für meine Frau, stattdessen: ohne Anlass, weil er gehört hat, in der Fernsehsendung, die er eigentlich gar nicht schaut, dass das die beste Art des Schenkens ist, jemanden zu überraschen, einfach so, ohne sich selbst als den Schenkenden in den Vordergrund zu stellen, was bei den meisten, bei etwa fünfundneunzig Prozent, leider der Fall sei."
Das sind aber alles nur Pläne, und so leben die Katos desinteressiert aneinander vorbei. Bis eine junge Schauspielerin auftaucht, die Herrn Kato für ihre Stand-in-Agentur rekrutiert. Offenbar ein Geschäftszweig, der in Japan tatsächlich floriert: Schauspieler, die für private Familienlügentheater gebucht werden. Als Opa eines Jungen zum Beispiel, dessen echter Opa nichts von ihm wissen will. Oder als Ehemann einer untergebutterten Dame, die Herrn Kato in einem ausgelagerten Racheritual die Scheidungspapiere auf den Tisch knallt. Das Ganze bleibt nicht ohne Eindruck auf Herrn Kato.
Die junge Schauspielerin sieht an der Dienstleistung ihrer Agentur nichts Anrüchiges. "Wir springen ein", sagt sie, "wo man uns braucht, und ersetzen den eigentlichen Darsteller, denn auch der, den wir spielen, stellt sich die meiste Zeit dar und ist somit ein Schauspieler. Ja, es gibt Leute, die sind noch im Schlaf nicht sie selbst. Beklemmend, oder?" Flasars Roman handelt also nur vordergründig von der Altersdepression eines japanischen Rentners. Im Hintergrund lauern die Fragen einer jeden Existenz. Ist sie aufrichtig oder verlogen? Und wenn sie verlogen ist, wie groß ist das Maß der Verlogenheit? Und wenn es groß ist, who cares?
Auf beiläufige Weise gelingen Flasar in ihrem dritten Roman Problemskizzen des modernen Zeitgeists am Beispiel der japanischen Wirklichkeit. Sowohl der Sohn als auch die Tochter der Katos scheinen beispielsweise via Reproduktionsmedizin am ersehnten Nachwuchs zu arbeiten. Nichts scheint in Herrn Katos Leben mehr seinen natürlichen Gang zu gehen. Die Menschen haben den Überblick über richtig und falsch verloren. Vielleicht sind diese Zuordnungen auch kaum sinnvoll in einer Welt, die zwischen Maßlosigkeit und Machbarkeit nicht nur für Senioren ihre Substanz zu verlieren droht.
Doch für Herrn Kato gibt es doch ein bisschen Hoffnung. Bei der Hochzeit einer todkranken Braut empfindet er plötzlich mehr als bei der seiner eigenen Tochter. Und so ist er auf einmal, stimuliert durch die echten falschen Gefühle, in der Lage, einen schönen großen Blumenstrauß zu kaufen. Den stellt er seiner Gattin ins Wohnzimmer. Und dann schlägt das vermeintliche Happy Ending doch noch einen surrealen Haken. Denn die tanzende Gattin behauptet einfach, den Strauß hätte ihr eine Freundin vorbeigebracht. Wer träumt sich hier eigentlich was zusammen? Sind wir Menschen dazu verdammt, aneinander vorbeizusymbolisieren? Und auf einmal sticht es im Herzen. Das Ende wird nicht verraten. Aber die etwas banale Einsicht, dass ein Herz entweder schlägt oder eben nicht, scheint auch in Herr und Frau Kato etwas in Bewegung zu bringen.
KATHARINA TEUTSCH.
Milena Michiko Flasar: "Herr Katô spielt Familie". Roman.
Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 169 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Einen großen Liebesroman und eine wunderbare Übersetzungsleistung sieht Frederic Jage-Bowler in diesem Roman der österreichisch-japanischen Autorin Milena Michiko Flasar. Sie erzählt darin von dem im Alter etwas einsam gewordenen Herr Kato, der von einer jungen Schauspielerin auf eine neue Idee gebracht wird: Familie spielen. Sie übernehme Rollen als Schwester, Tochter oder Tante, da könne er doch den Großvater übernehmen? Der Witz an dieser Geschichte besteht für den Kritiker nicht nur darin, dass dieses Geschäftsmodell in Japan tatsächlich existiert, sondern dass Flasar dem auch Gutes abgewinnen kann. Der westlichen Kultur der brachialen Aufrichtigkeit etwas feinsinnige Verstellung entgegenzusetzen, um den "kalten Krieg der Seelen" zu mildern, das hat was, findet er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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