Kapitalismus ist weit mehr als eine Wirtschaftsform. Mit seiner Ausbreitung wurden bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse umgewälzt, Klassengesellschaften bildeten sich. Die Autorin schildert die Entstehung unserer modernen Welt im Spiegel eines konkreten sicht- und fühlbaren Gegenstands: dem Männeranzug. Denn Bekleidung verortet die Menschen in modernen Gesellschaften, markiert ihre Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie. Und das einflussreichste Kleidungsstück der Moderne ist der Männeranzug. In dieser ausgreifenden transatlantischen Geschichte von Produktion und Konsumtion des Männeranzugs entfaltet das Buch deshalb eine Geschichte moderner Klassengesellschaften. Dabei richtet es den Fokus auf Großbritannien, die USA und Deutschland und zeigt, wie sich die Transformationen in diesen verschiedenen Gesellschaften gegenseitig beeinflussten. Die neuen Herren waren im Anzug.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.09.2016Der lange Kampf um den Anzug
Nicht bloß eine Frage des Geschmacks: Anja Meyerrose durchkämmt die Wirtschaftsgeschichte der Herrenmode.
Have we become a nation of slobs?", fragte sich 1995 die Zeitschrift "Newsweek". Damals war das dress-down auch bei der amerikanischen Oberschicht angekommen, und selbst Präsident Clinton hatte den Herrenanzug abgelegt, um sich im Jogginganzug fotografieren zu lassen. Heutzutage lassen sich Herren im Anzug nur noch zwischen 12 und 13 Uhr in bestimmten Zonen der Innenstädte sehen, in Banken- und Bürovierteln, wo sie eine Pause einlegen zwischen ihren Geschäfte. Haben sie diese Pflichten erledigt, so werden auch sie am Abend in Freizeitkleidung zu "Slobs", denn Nachlässigkeit zählt heute mehr als Herrendienst.
Eine detaillierte Vorgeschichte dieser gegenwärtig so eingeschränkten Präsenz des Herrenanzugs gibt Anja Meyerrose. Sie will den "Mythos", der Herrenanzug sei eine seit Jahrhunderten gleich gebliebene Ausstattung des bürgerlichen Mannes, revidieren, indem sie die fortlaufenden, wenngleich unbedeutenden Variationen, die dieses Kleidungsstück seit dem neunzehnten Jahrhundert erfuhr, mit der bedeutsamen Wirtschaftsgeschichte und dem technischen Fortschritt in den angelsächsischen Ländern verbindet. Oft geht es in dieser Kleidergeschichte um nichts weiter als um einen Webfaden oder einen versteckten Westentaschenknopf, und doch steht hinter diesen scheinbaren Nichtigkeiten die Umgestaltung einer ganzen Nation.
Um die Geschichte solch modischer Petitessen überhaupt bemerken zu können, braucht es eine andere Methode als jene, die bei der Beschreibung der offensichtlichen Narreteien der weiblichen Mode angewandt wird: Wer über diese schreibt, hält sich an die Oberfläche des schönen Scheins und widmet sich einer Art Kunstgeschichte. Die sparsamen Bewegungen in der Herrenmode dagegen bekommt Meyerrose nur zu fassen, weil sie den Mann, den eleganten wie jenen aus den armen Schichten, als Konsumenten versteht, dessen Kaufverhalten von einer Geschichte der Textilproduktion abhängig ist.
Meyerroses Abhandlung schlägt den Bogen vom siebzehnten Jahrhundert, als das Kleid Statussymbol war, hergestellt aus golddurchwirkten Stoffen, aus Brokat, Samt und schwerer Seide, Stoffen also, deren Qualität, nach Pfunden bemessen, so gewichtig war wie die Standesperson, die sie trug, bis hin zum Herrenanzug des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser ist aus englischem Wollstoff, dessen Material, federleicht, in Farbe und Aussehen fast unscheinbar, nur durch die guten Manieren seines Trägers einen höheren Status vorzustellen vermag. Der Aristokrat protzt, der Gentleman weiß sich zu benehmen; allein dadurch macht er sein Kleid kostbar, dass er weiß, wann, wo und wie ein Knopf offen oder geschlossen zu sein hat.
Diese Selbstdarstellung des Gentleman vollzieht sich in engem Zusammenhang mit der bürgerlichen Wirtschaft, weshalb Meyerrose mehr über die Entstehung von Fabriken und Färbereien schreibt als über das Aussehen des Anzugs und dessen unauffälligen Wandel. In ihrer Geschichte des Herrenanzugs büßt England die Führungsrolle ein, die ihm bei der Ästhetisierung des männlichen Auftritts bis heute zugestanden wird. Zwar bleibt der Herrenanzug eine angelsächsische Erfindung, doch hat nicht nur England an seiner Ausgestaltung gearbeitet. Vielmehr geht er aus dem ökonomischen Wettkampf zwischen den amerikanischen Kolonien und dem englischen Mutterland hervor und korrespondiert mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Neuen Welt.
In dieser "transatlantischen Geschichte" geht es nicht mehr um den puritanischen Geist, der Askese und einen Auftritt in Unscheinbarkeit gebot. Vielmehr dirigieren, so kann Meyerrose überzeugend zeigen, Maschinen, chemische Färbeverfahren und Webtechniken das modische Verhalten des Mannes. Nicht gläubige Kirchenmänner, sondern fortschrittsgläubige Unternehmer prägen das Aussehen der Nation. Die Tradition verschaffte zwar zunächst England einen Vorsprung, da es über mehr handwerkliche Kenntnis und mehr ausgebildete Arbeitskräfte verfügte. Bald aber zog Amerika die Führung in der Textilindustrie - und damit die Gestaltung des männlichen Auftritts - an sich, weil dort die Entwicklung von Maschinen schneller voranschritt und die handwerkliche Tradition für England geradezu zum Hemmschuh wurde.
Der Kampf zwischen und in den beiden Ländern ging vor allem um die Anerkennung eines "ready-to-wear-suit". Bis in die Nachkriegsjahre galt es auch in Deutschland, wo der Gentleman noch immer das Vorbild war, als Fauxpas, einen Herrenanzug "von der Stange" zu tragen. In den Vereinigten Staaten hingegen wurde von den eingewanderten Arbeitskräften ein Kaufverhalten eingeübt, das den neuen Maschinen, die sie selbst bedienten, angemessen war. Da die florierende Produktion allgemeinen Reichtum schuf, empfanden auch die Fabrikarbeiter diesen Prozess als Beglückung; sie gefielen sich in ihrem Herrenanzug von der Stange, wobei dieser allerdings seine ästhetische Aura einbüßte.
England reagierte auf die amerikanische Demokratisierung der Ware mit einer Rückbesinnung auf die eigene Handarbeit, auf Manufaktur und handgeschneiderte Kleidung. Der Status des Trägers bewies sich nun am feinen Wollstoff, dessen Fertigung schwierig und vom Schneider der Persönlichkeit angepasst zu werden versprach.
Den Sieg der Maschine über Vornehmheit führt Meyerrose nicht ausdrücklich bis in die Gegenwart fort. Heute spuckt die Maschine Herrenanzüge aus, die in den Warenhäusern nicht mehr kosten als die Kleider der "Slobs". Auch wirft sie keinen Blick auf den Einfluss, den die Maschine und der Gedanke des "ready-to-wear" auf die Frauenmode haben. Meyerroses Wirtschaftsgeschichte der Herrenmode folgt, wie sie ausdrücklich betont, den Thesen von Stephan Truningers Buch "Die Amerikanisierung Amerikas" (2010), einer Auseinandersetzung mit Thorstein Veblens Stilgeschichte der Leisure Class, deren Verhalten dieser Autor ebenfalls an eine Wirtschaftsgeschichte anbindet. Aus der Zusammenarbeit beider Autoren entwickelte sich die These, dass die Geschichte des Kleides zuallererst eine Geschichte der Wirtschaft und nicht eine des Geschmacks ist. Diese Einsicht sollten künftige Modegeschichten nicht vergessen. Was Veblen und Truninger als Theorie skizzierten, wird durch Meyerroses materialreiche Studie anschaulich und wäre in einem weiteren Buch am Kleid der Frau zu überprüfen.
HANNELORE SCHLAFFER
Anja Meyerrose: "Herren im Anzug". Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2016. 359 S., geb., 40,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht bloß eine Frage des Geschmacks: Anja Meyerrose durchkämmt die Wirtschaftsgeschichte der Herrenmode.
Have we become a nation of slobs?", fragte sich 1995 die Zeitschrift "Newsweek". Damals war das dress-down auch bei der amerikanischen Oberschicht angekommen, und selbst Präsident Clinton hatte den Herrenanzug abgelegt, um sich im Jogginganzug fotografieren zu lassen. Heutzutage lassen sich Herren im Anzug nur noch zwischen 12 und 13 Uhr in bestimmten Zonen der Innenstädte sehen, in Banken- und Bürovierteln, wo sie eine Pause einlegen zwischen ihren Geschäfte. Haben sie diese Pflichten erledigt, so werden auch sie am Abend in Freizeitkleidung zu "Slobs", denn Nachlässigkeit zählt heute mehr als Herrendienst.
Eine detaillierte Vorgeschichte dieser gegenwärtig so eingeschränkten Präsenz des Herrenanzugs gibt Anja Meyerrose. Sie will den "Mythos", der Herrenanzug sei eine seit Jahrhunderten gleich gebliebene Ausstattung des bürgerlichen Mannes, revidieren, indem sie die fortlaufenden, wenngleich unbedeutenden Variationen, die dieses Kleidungsstück seit dem neunzehnten Jahrhundert erfuhr, mit der bedeutsamen Wirtschaftsgeschichte und dem technischen Fortschritt in den angelsächsischen Ländern verbindet. Oft geht es in dieser Kleidergeschichte um nichts weiter als um einen Webfaden oder einen versteckten Westentaschenknopf, und doch steht hinter diesen scheinbaren Nichtigkeiten die Umgestaltung einer ganzen Nation.
Um die Geschichte solch modischer Petitessen überhaupt bemerken zu können, braucht es eine andere Methode als jene, die bei der Beschreibung der offensichtlichen Narreteien der weiblichen Mode angewandt wird: Wer über diese schreibt, hält sich an die Oberfläche des schönen Scheins und widmet sich einer Art Kunstgeschichte. Die sparsamen Bewegungen in der Herrenmode dagegen bekommt Meyerrose nur zu fassen, weil sie den Mann, den eleganten wie jenen aus den armen Schichten, als Konsumenten versteht, dessen Kaufverhalten von einer Geschichte der Textilproduktion abhängig ist.
Meyerroses Abhandlung schlägt den Bogen vom siebzehnten Jahrhundert, als das Kleid Statussymbol war, hergestellt aus golddurchwirkten Stoffen, aus Brokat, Samt und schwerer Seide, Stoffen also, deren Qualität, nach Pfunden bemessen, so gewichtig war wie die Standesperson, die sie trug, bis hin zum Herrenanzug des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser ist aus englischem Wollstoff, dessen Material, federleicht, in Farbe und Aussehen fast unscheinbar, nur durch die guten Manieren seines Trägers einen höheren Status vorzustellen vermag. Der Aristokrat protzt, der Gentleman weiß sich zu benehmen; allein dadurch macht er sein Kleid kostbar, dass er weiß, wann, wo und wie ein Knopf offen oder geschlossen zu sein hat.
Diese Selbstdarstellung des Gentleman vollzieht sich in engem Zusammenhang mit der bürgerlichen Wirtschaft, weshalb Meyerrose mehr über die Entstehung von Fabriken und Färbereien schreibt als über das Aussehen des Anzugs und dessen unauffälligen Wandel. In ihrer Geschichte des Herrenanzugs büßt England die Führungsrolle ein, die ihm bei der Ästhetisierung des männlichen Auftritts bis heute zugestanden wird. Zwar bleibt der Herrenanzug eine angelsächsische Erfindung, doch hat nicht nur England an seiner Ausgestaltung gearbeitet. Vielmehr geht er aus dem ökonomischen Wettkampf zwischen den amerikanischen Kolonien und dem englischen Mutterland hervor und korrespondiert mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Neuen Welt.
In dieser "transatlantischen Geschichte" geht es nicht mehr um den puritanischen Geist, der Askese und einen Auftritt in Unscheinbarkeit gebot. Vielmehr dirigieren, so kann Meyerrose überzeugend zeigen, Maschinen, chemische Färbeverfahren und Webtechniken das modische Verhalten des Mannes. Nicht gläubige Kirchenmänner, sondern fortschrittsgläubige Unternehmer prägen das Aussehen der Nation. Die Tradition verschaffte zwar zunächst England einen Vorsprung, da es über mehr handwerkliche Kenntnis und mehr ausgebildete Arbeitskräfte verfügte. Bald aber zog Amerika die Führung in der Textilindustrie - und damit die Gestaltung des männlichen Auftritts - an sich, weil dort die Entwicklung von Maschinen schneller voranschritt und die handwerkliche Tradition für England geradezu zum Hemmschuh wurde.
Der Kampf zwischen und in den beiden Ländern ging vor allem um die Anerkennung eines "ready-to-wear-suit". Bis in die Nachkriegsjahre galt es auch in Deutschland, wo der Gentleman noch immer das Vorbild war, als Fauxpas, einen Herrenanzug "von der Stange" zu tragen. In den Vereinigten Staaten hingegen wurde von den eingewanderten Arbeitskräften ein Kaufverhalten eingeübt, das den neuen Maschinen, die sie selbst bedienten, angemessen war. Da die florierende Produktion allgemeinen Reichtum schuf, empfanden auch die Fabrikarbeiter diesen Prozess als Beglückung; sie gefielen sich in ihrem Herrenanzug von der Stange, wobei dieser allerdings seine ästhetische Aura einbüßte.
England reagierte auf die amerikanische Demokratisierung der Ware mit einer Rückbesinnung auf die eigene Handarbeit, auf Manufaktur und handgeschneiderte Kleidung. Der Status des Trägers bewies sich nun am feinen Wollstoff, dessen Fertigung schwierig und vom Schneider der Persönlichkeit angepasst zu werden versprach.
Den Sieg der Maschine über Vornehmheit führt Meyerrose nicht ausdrücklich bis in die Gegenwart fort. Heute spuckt die Maschine Herrenanzüge aus, die in den Warenhäusern nicht mehr kosten als die Kleider der "Slobs". Auch wirft sie keinen Blick auf den Einfluss, den die Maschine und der Gedanke des "ready-to-wear" auf die Frauenmode haben. Meyerroses Wirtschaftsgeschichte der Herrenmode folgt, wie sie ausdrücklich betont, den Thesen von Stephan Truningers Buch "Die Amerikanisierung Amerikas" (2010), einer Auseinandersetzung mit Thorstein Veblens Stilgeschichte der Leisure Class, deren Verhalten dieser Autor ebenfalls an eine Wirtschaftsgeschichte anbindet. Aus der Zusammenarbeit beider Autoren entwickelte sich die These, dass die Geschichte des Kleides zuallererst eine Geschichte der Wirtschaft und nicht eine des Geschmacks ist. Diese Einsicht sollten künftige Modegeschichten nicht vergessen. Was Veblen und Truninger als Theorie skizzierten, wird durch Meyerroses materialreiche Studie anschaulich und wäre in einem weiteren Buch am Kleid der Frau zu überprüfen.
HANNELORE SCHLAFFER
Anja Meyerrose: "Herren im Anzug". Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien 2016. 359 S., geb., 40,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Brigitte Werneburg erfährt bei Anja Meyerrose eine Menge Wissenswertes über die Transformation moderner Klassengesellschaften. Wenn die Autorin die Geschichte des Herrenanzugs von der Uniform bis zum Maßanzug des Gentlemans und dem Anzug von der Stange erzählt, gelingt ihr laut Werneburg aber auch eine Revision der Modegeschichte, indem sie darlegt, dass maßgebliche Veränderungen in der Männermode im gesellschaftlichen Aufstieg der Kaufleute wurzeln. Die Geschichte des bürgerlichen Anzugs betreffend kann Meyerrose der Rezensentin vermitteln, dass es vor allem die englischen Schneider und amerikanischen Fabrikanten waren, die die Entwicklung des Anzugs beeinflusst haben. Auch als Konsum- und Industriegeschichte taugt der Band laut Werneburg hervorragend.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.01.2017Im Fadenschein der Geschichte
Feines Tuch, nur leicht verschnitten: Anja Meyerrose vernäht eine Historie des Herrenanzugs aus Versatzstücken
Der Herrenanzug! Großartiges Thema! Das Kleidungsstück steht für die Verbürgerlichung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert, für den Abbau von Privilegien und den Aufstieg des Kapitalismus. Der Anzug setzt die Idee der Gleichheit aller Männer, wenn nicht sogar aller Menschen auf die Tagesordnung. Es gibt reiche und arme Männer, adlige und niedrige, doch im Anzug stecken alle in derselben nüchternen Welt der Betriebsamkeit. Selbst im globalisierten China und auf Kuba ist er populär geworden. Kleideten sich die wichtigen Männer zuvor in bunte Pracht und schweres Gold, zogen sie sich nun den Anzug über und überließen den modischen Putz den Frauenzimmern.
Anja Meyerrose ist angetreten, diese Gleichheits-Erzählung zu widerlegen. Das ist erst einmal erfrischend. Gerade anhand der bürgerlichen Uniform par excellence will sie die Verwerfungen der Moderne bloßlegen, die Nichteinhaltung des Gleichheitsversprechens.
Der Herrenanzug sei eben nicht ein „gleiches“ Kleidungsstück gewesen, sondern ein Gewand voller Untiefen, Knopflöcher und Seidenaufschläge. Im ikonoklastischen Schwung will Meyerrose nicht nur eine transnationale Geschichte des Anzugs und der Textilproduktion schreiben, sondern auch die Geschichte des Bürgertums revidieren.
Dafür aber ist die Literaturbasis dieser Arbeit zu schwach. So kommt es zu etlichen historischen Fehlleistungen. Die Erkenntnisse über das Bürgertum, die in den letzten Jahrzehnten die Geschichtsschreibung voranbrachten, kommen nicht vor, sondern werden auf ein mehrfach angeführtes Zitat aus den Achtzigerjahren reduziert. Karl Marx dient weniger als Zeitbeobachter, sondern muss die vermeintliche Faktenlage liefern. Und das Siegel „Made in Germany“, das am Ende des 19. Jahrhunderts zur Diskriminierung der deutschen Produkte in Großbritannien erzwungen worden war, hält die Autorin für eine Demonstration des deutschen Größenwahns.
Auf dünner empirischer Grundlage bedient Meyerrose viele veraltete Geschichten, etwa die von der egalitären Gesellschaft in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Sie übersieht das amerikanische militia fever in der Mitte des Jahrhunderts und die amerikanische Lust an Uniformen, was verzeihlich wäre, wenn sie nicht zugleich behaupten würde, dass die Berufsuniform ein deutsches Phänomen und der Anzugträger in deutschen Landen eine Ausnahmeerscheinung gewesen sei. Doch nicht nur deutsche Arbeiter, auch die Großindustriellen und Fürsten unter ihren Landsmännern ließen sich – wie in der westlichen Welt üblich geworden – gern im Anzug ablichten. Dass schließlich die Militäruniform einzig den deutschen Männern Glanz und Prestige verlieh, wird wohl keine Militärhistorikerin bestätigen können, von Jane-Austen-Kennern ganz zu schweigen.
In der Nichtbeachtung der Gender-Forschung wird das Problem des Buchs besonders deutlich: Tatsächlich wurde der Herrenanzug weltweit zum Inbegriff des modernen Menschen mit dem Anschein der Gleichheit – womit er massiv zur Exklusion der Frau beitrug; doch weil Anja Meyerrose die Gleichheitserzählung dekonstruieren will, spielt dieser entscheidende Distinktions-Effekt des Anzugs keine Rolle.
Sobald sich Meyerrose aber auf einschlägige Forschungsliteratur bezieht, kommt sie zu interessanten Erkenntnissen. Die französischen Revolutionäre stellten klar, dass grundsätzlich niemand einer anderen Person die Kleidung vorschreiben darf. Dieses Statement war zwar nicht der Ursprung des Anzugs, denn der lag in England, wie Meyerrose aufzeigt, aber es war ein Signal für das Ende der ständischen Gewänder.
Leider werden viele Informationen, die zentral für die Geschichte des Anzugs sind, hier in die Fußnoten abgedrängt: etwa der Wandel des Jackett- und Hosen-Schnittes oder der Hinweis, dass sich das Schwarz des Anzugs in der industrialisierten, luftverschmutzten Moderne als besonders praktisch erwies.
Auf jeden Fall gelingt es der Autorin in ihrer transnationalen Studie, den Stellenwert von Kleidung zu verdeutlichen. Immer wenn sich Herrschaftsverhältnisse ändern, geht es auch um Kleiderordnungen. Die Autorin zeigt, wie die amerikanische Erfindung der standardisierten Massenproduktion von Kleidung und die Errichtung großer Warenhäuser weit mehr als das englische Mode-Vorbild zur weltweiten Akzeptanz des Herrenanzugs in allen Gesellschaftsschichten beigetragen haben. England hingegen produzierte in dieser Zeit den exquisiten maßgeschneiderten Anzug, der zum Statussymbol der Oberschicht wurde. Der Anzug konnte eben auch als Distinktionsmittel dienen. So repräsentiert der Herrenanzug wohl weniger die Klassenunterschiede, wie Meyerrose meint, sondern eher die ambivalente Geschichte der Moderne: Das zur Schau getragene Gleichheitsideal löschte das Bedürfnis nach Differenz nicht aus, sondern verdrängte es in den bürgerlichen Kult der feinen Unterschiede.
HEDWIG RICHTER
Anja Meyerrose: Herren im Anzug. Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert. Böhlau Verlag, Köln 2016. 359 Seiten, 40 Euro.
Harlekin der Neuzeit: Ein damals ernst gemeintes Fashion-Statement zu Beginn des Jahres 1970.
Foto: Getty Images
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Feines Tuch, nur leicht verschnitten: Anja Meyerrose vernäht eine Historie des Herrenanzugs aus Versatzstücken
Der Herrenanzug! Großartiges Thema! Das Kleidungsstück steht für die Verbürgerlichung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert, für den Abbau von Privilegien und den Aufstieg des Kapitalismus. Der Anzug setzt die Idee der Gleichheit aller Männer, wenn nicht sogar aller Menschen auf die Tagesordnung. Es gibt reiche und arme Männer, adlige und niedrige, doch im Anzug stecken alle in derselben nüchternen Welt der Betriebsamkeit. Selbst im globalisierten China und auf Kuba ist er populär geworden. Kleideten sich die wichtigen Männer zuvor in bunte Pracht und schweres Gold, zogen sie sich nun den Anzug über und überließen den modischen Putz den Frauenzimmern.
Anja Meyerrose ist angetreten, diese Gleichheits-Erzählung zu widerlegen. Das ist erst einmal erfrischend. Gerade anhand der bürgerlichen Uniform par excellence will sie die Verwerfungen der Moderne bloßlegen, die Nichteinhaltung des Gleichheitsversprechens.
Der Herrenanzug sei eben nicht ein „gleiches“ Kleidungsstück gewesen, sondern ein Gewand voller Untiefen, Knopflöcher und Seidenaufschläge. Im ikonoklastischen Schwung will Meyerrose nicht nur eine transnationale Geschichte des Anzugs und der Textilproduktion schreiben, sondern auch die Geschichte des Bürgertums revidieren.
Dafür aber ist die Literaturbasis dieser Arbeit zu schwach. So kommt es zu etlichen historischen Fehlleistungen. Die Erkenntnisse über das Bürgertum, die in den letzten Jahrzehnten die Geschichtsschreibung voranbrachten, kommen nicht vor, sondern werden auf ein mehrfach angeführtes Zitat aus den Achtzigerjahren reduziert. Karl Marx dient weniger als Zeitbeobachter, sondern muss die vermeintliche Faktenlage liefern. Und das Siegel „Made in Germany“, das am Ende des 19. Jahrhunderts zur Diskriminierung der deutschen Produkte in Großbritannien erzwungen worden war, hält die Autorin für eine Demonstration des deutschen Größenwahns.
Auf dünner empirischer Grundlage bedient Meyerrose viele veraltete Geschichten, etwa die von der egalitären Gesellschaft in den Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Sie übersieht das amerikanische militia fever in der Mitte des Jahrhunderts und die amerikanische Lust an Uniformen, was verzeihlich wäre, wenn sie nicht zugleich behaupten würde, dass die Berufsuniform ein deutsches Phänomen und der Anzugträger in deutschen Landen eine Ausnahmeerscheinung gewesen sei. Doch nicht nur deutsche Arbeiter, auch die Großindustriellen und Fürsten unter ihren Landsmännern ließen sich – wie in der westlichen Welt üblich geworden – gern im Anzug ablichten. Dass schließlich die Militäruniform einzig den deutschen Männern Glanz und Prestige verlieh, wird wohl keine Militärhistorikerin bestätigen können, von Jane-Austen-Kennern ganz zu schweigen.
In der Nichtbeachtung der Gender-Forschung wird das Problem des Buchs besonders deutlich: Tatsächlich wurde der Herrenanzug weltweit zum Inbegriff des modernen Menschen mit dem Anschein der Gleichheit – womit er massiv zur Exklusion der Frau beitrug; doch weil Anja Meyerrose die Gleichheitserzählung dekonstruieren will, spielt dieser entscheidende Distinktions-Effekt des Anzugs keine Rolle.
Sobald sich Meyerrose aber auf einschlägige Forschungsliteratur bezieht, kommt sie zu interessanten Erkenntnissen. Die französischen Revolutionäre stellten klar, dass grundsätzlich niemand einer anderen Person die Kleidung vorschreiben darf. Dieses Statement war zwar nicht der Ursprung des Anzugs, denn der lag in England, wie Meyerrose aufzeigt, aber es war ein Signal für das Ende der ständischen Gewänder.
Leider werden viele Informationen, die zentral für die Geschichte des Anzugs sind, hier in die Fußnoten abgedrängt: etwa der Wandel des Jackett- und Hosen-Schnittes oder der Hinweis, dass sich das Schwarz des Anzugs in der industrialisierten, luftverschmutzten Moderne als besonders praktisch erwies.
Auf jeden Fall gelingt es der Autorin in ihrer transnationalen Studie, den Stellenwert von Kleidung zu verdeutlichen. Immer wenn sich Herrschaftsverhältnisse ändern, geht es auch um Kleiderordnungen. Die Autorin zeigt, wie die amerikanische Erfindung der standardisierten Massenproduktion von Kleidung und die Errichtung großer Warenhäuser weit mehr als das englische Mode-Vorbild zur weltweiten Akzeptanz des Herrenanzugs in allen Gesellschaftsschichten beigetragen haben. England hingegen produzierte in dieser Zeit den exquisiten maßgeschneiderten Anzug, der zum Statussymbol der Oberschicht wurde. Der Anzug konnte eben auch als Distinktionsmittel dienen. So repräsentiert der Herrenanzug wohl weniger die Klassenunterschiede, wie Meyerrose meint, sondern eher die ambivalente Geschichte der Moderne: Das zur Schau getragene Gleichheitsideal löschte das Bedürfnis nach Differenz nicht aus, sondern verdrängte es in den bürgerlichen Kult der feinen Unterschiede.
HEDWIG RICHTER
Anja Meyerrose: Herren im Anzug. Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert. Böhlau Verlag, Köln 2016. 359 Seiten, 40 Euro.
Harlekin der Neuzeit: Ein damals ernst gemeintes Fashion-Statement zu Beginn des Jahres 1970.
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